NS-Kindermorde am Spiegelgrund: "Wie weggeworfene Puppen"

NS-Kindermorde am Spiegelgrund:
NS-Kindermorde am Spiegelgrund: "Wie weggeworfene Puppen"(c) APA (HERBERT PFARRHOFER)
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Im Juli 1940 ging die "Wiener städtische Jugendfürsorgeanstalt 'Am Spiegelgrund'" in Betrieb. Rund 800 Kinder und Jugendliche wurden dort ermordet. Mit Heinrich Gross blieb einer der Haupttäter ungestraft.

"Bildungsunfähig", "geistig minderwertig", "keinerlei Arbeitseinsatzmöglichkeit zu erwarten". Kaltblütig sortiert das Personal der "Wiener städtischen Jugendfürsorgeanstalt 'Am Spiegelgrund'" die Kinder und Jugendlichen aus, denen es keinen "Nutzen für die Volksgemeinschaft" zuschreibt. Die Antwort des Reichsausschusses in Berlin auf solche Meldungen ist stets die Gleiche: Ermächtigung zur "Behandlung" - also zum Mord. Die Kinder werden vor allen durch Injektionen des Schlafmittels Luminal, die oft zu Lungenentzündungen führen, langsam getötet. Manche lässt man auch einfach verhungern. An die Eltern ergeht zunächst eine "Schlechtmeldung" über den "Besorgnis erregenden" Zustand ihres Kindes, schließlich die Mitteilung, es sei durch "einen sanften Tod" erlöst worden. 789 Kinder und Jugendliche sind im Totenbuch der NS-Einrichtung am Spiegelgrund zwischen 1940 und 1945 erfasst.

Gegründet wird die Einrichtung am 24. Juli 1940. Die neun Pavillons auf dem Gelände der "Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof" sind frei, nachdem im Rahmen des "Euthanasie"-Programms "T4" mindestens 3200 Patienten in Tötungsanstalten transportiert wurden.

"Menschliche Kälte hat mich verrückt gemacht"

Aus ganz Österreich werden von nun an Kinder und Jugendliche nach Steinhof gebracht - manche sind krank oder behindert, andere gelten als "schwer erziehbar", oder sie haben unverheiratete Mütter oder trinkende Väter. Wer von den Ärzten als "arbeitsverwendungsfähig" eingestuft wird, darf am Leben bleiben. Die Kindheit ist jedoch vorbei, Misshandlungen sind an der Tagesordnung. "Es war die menschliche Kälte, die mich dort so verrückt gemacht hat. Es gab kein freundliches Wort, es gab keine Beziehung zu anderen Kindern, das wurde streng untersagt", erinnert sich die Überlebende Leopoldine Müller. "Durch kalten Schlamm marschieren, neben dem Bett nackt stehend, in der Kälte auf dem kalten Fußboden. (..) Manchmal träume ich jetzt noch davon."

Auch andere "Patienten" lässt der Horror nie los. Johann Gross, der als "Asozialer" mit zehn Jahren in die "Fürsorgeanstalt" gebracht wird, erzählt: "In der Anstalt wurden die Geisteskranken von Steinhof als sogenannte Hausarbeiter eingesetzt. Einer fuhr mit einem zweirädrigen Karren an unserer Kolonne vorbei. Und in dem Wagerl - lauter tote Kinder. Wie weggeworfene Puppen lagen sie kreuz und quer, die Glieder oft ganz unnatürlich verrenkt. (..) Diese Szene sehe ich heute, als erwachsener Mann, noch immer im Traum."

An einigen Kindern führen die Ärzte Impf-Experimente durch, auch Sterilisierungen sind in den Spiegelgrund-Krankenakten dokumentiert. Viele Eltern wähnen ihre Kinder in guten Händen, denken, dass man sich dort besser um sie kümmert als sie es in ihren oft bitterarmen Verhältnissen könnten. Es gibt aber auch Eltern, die darum kämpfen, die Kinder zurückzubekommen - manchmal erfolgreich, manchmal an einem ärztlichen "Ausfolgeverbot" abprallend.

"So zu sagen beseitigt"

Eine Mutter wagt es, den Verdacht zu äußern, dass ihre Tochter eines unnatürlichen Todes gestorben, sei: "Herr Doktor schauen Sie muß ich nicht jetzt doppelt den Schmerz tragen da mir die Leute sagen direkt ins Gesicht nun haben Ihrs halt vergiftet so zu sagen beseitigt", schreibt sie an Klinikleiter Ernst Illing.

Die Aufarbeitung der Spiegelgrund-Verbrechen nach dem Krieg erfolgt schleppend. Illing wird 1946 zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Ärztin Marianne Türk erhält eine zehnjährige Haftstrafe, 1948 wird sie vorzeitig entlassen und erhält ihren Doktortitel zurück.

Der Fall eines weiteren Spiegelgrund-Arztes beschäftigt die Öffentlichkeit bis ins 21. Jahrhundert. Heinrich Gross, von den älteren Kindern am Spiegelgrund "Sense" genannt, setzt nach dem Krieg seine Karriere fort - und benutzt dazu Hirn-Präparate der ermordeten Kinder. Als psychiatrischer Gutachter trifft er 1975 auf den ehemaligen Spiegelgrund-"Patienten" Friedrich Zawrel. Gross empfiehlt in seinem Gutachten die Unterbringung des wegen Diebstahls Verurteilten in einer Anstalt für gefährliche Rückfalltäter. Und er bezieht sich dabei auch auf die Beurteilung seines Kollegen Illing aus 1944: „Der Untersuchte entstammt einer erbbiologisch-soziologisch minderwertigen Sippe.“

Zawrel, der Gross sofort wiedererkannt hat, schreibt vergeblich an Justizminister Christian Broda. Schließlich machen Medien und der Arzt Werner Vogt den Fall publik. Vogt wirft Gross öffentlich Mitwirkung "an der Tötung Hunderter Kinder" vor und gewinnt in Folge einen von Gross angestrengten Prozess wegen Ehrenbeleidigung.  Der Spiegelgrund-Arzt wird aus der SPÖ ausgeschlossen, als Gerichtsgutachter bleibt er aber gut beschäftigt. Erst 1998 klagt ihn die Staatsanwaltschaft des neunfachen Mordes an. Im Jahr 2000 wird der Prozess wegen Demenz des Angeklagten auf Eis gelegt, 2005 stirbt Gross.

Heinrich Gross
Heinrich Gross (c) APA (JAEGER ROBERT)

Die meisten Spiegelgrund-Opfer finden erst 2002 ihre letzte Ruhe. 599 Urnen mit Überresten werden am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Geschlossen ist das Kapitel damit nicht: Erst im April dieses Jahres hat die Wiener Ärztekammer ein Forschungsprojekt zur Rolle der Ärzteschaft in der NS-Zeit angekündigt. In der Vergangenheit habe man sich schwer damit getan, der "Wahrheit ins Auge zu sehen".

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