Geburt des Donbass: Ein "wildes Feld" für Magnaten und Sowjets

John Hughes
John HughesWikipedia/gemeinfrei
  • Drucken

Die Geschichte des von Separatisten besetzten ostukrainischen Donbass nahm viele Wendungen: Im späten 19. Jahrhundert lockte das Zarenreich westliche Unternehmer zur Entwicklung der Industrie an.

Das Stück Land, das John Hughes am 18. April 1869 von der russischen Regierung erstand, lag in der weiten Ebene zwischen den beiden großen Strömen Dnjepr und Don. Der Grund war flach und der Boden fruchtbar. Doch Hughes, ein Geschäftsmann aus der südwalisischen Stadt Merthyr Tydfil, wollte im Südwesten des Zarenreichs keine Landwirtschaft betreiben. Er würde den Boden nicht mit Pflügen bearbeiten, keine Setzlinge in die Schwarzerde stecken. Er würde vielmehr Schätze aus ihr bergen.

Ein gutes Jahr später, im Sommer 1870, segelte Hughes mit acht Schiffen und 100 Arbeitern nach Russland. In den Folgejahren errichtete er auf seinem Grund eine Stahlfabrik, er förderte Kohle, stellte Koks, Eisen und Stahl her und baute eine Eisenbahnlinie. Die Arbeitersiedlung, die rund um die Betriebe entstand, wurde ihm zu Ehren slavophon Jusowka genannt: die Stadt von Hughes. Es ist das heutige Donezk. Die Arbeitersiedlung entwickelte sich rasant: 1870 lebten 164 Menschen in dem Ort; eine Dekade später 4000.

Hughes Firma hieß „New Russia Company Limited“. Neurussland, Noworossia, das die Donezker Separatisten heute wieder in ihren Reden bemühen, nannte man im 19. Jahrhundert die Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres, die das Zarenreich den Osmanen abgetrotzt hatte. Bekannt ist die Steppengegend im Grenzgebiet zwischen Russland und der Ukraine auch unter einem anderen Begriff, der ihre Lage am Rande historischer Imperien betont: als „wildes Feld“, dikoe pole, einst Einfallsort für die Reitervölker aus dem Osten, Siedlungsgebiet der Kosaken, die die Grenzen sichern sollten.

Patron und Analphabet. Im späten 19. Jahrhundert wollte das Zarenhaus den an Bodenschätzen reichen Teil dieser Steppe – das Donez-Becken oder Donbass – endlich im großen Stil erschließen. Man warb westliche Industrielle wie John Hughes an, die das entsprechende Know-how beisteuern sollten.

Ein Foto zeigt Hughes als imposanten Mann mit Vollbart und weißem gescheitelten Haar. Am Kragen sitzt eine Masche, an seiner schwarzen Anzugjacke hängt eine Kette mit Taschenuhr. Hughes konnte bis zu seinem Lebensende nicht schreiben, was den Industriemagnaten jedoch nicht daran hinderte, in großen Maßstäben zu denken wie andere Gründerväter seiner Generation: Er ließ Arbeiterquartiere, Schulen, ein Spital, öffentliche Bäder und eine Kirche bauen. Ende des 19. Jahrhunderts war Hughes Stahlwerk, das nach seinem Tod 1889 seine Söhne weiter betrieben, das größte im Zarenreich. Aus den Industriebetrieben des Donbass bezog das russische Reich mehr als 80 Prozent seiner Kohle und 50 Prozent seines Eisens.

An John Hughes erinnert im heutigen Donezk nur noch eine Statue und die Jusowskaja Piwowarnja, ein bei jungem Publikum beliebtes Lokal in einem jener typischen Donezker Glas-Beton-Kobel. Die Piwowarnja braut ihr eigenes Bier, Golden Ale, Stout, Porter, und – überhaupt nicht walisisch, aber bei den Gästen beliebt – Weißbier. Seit dem Beginn des Konflikts im Donbass weist ein Schild am Eingang darauf hin, dass Waffen in einem Spezialzimmer abzugeben sind. Im dämmrigen Eingangsbereich stehen zwei Kämpfer in Camouflage, die der Bitte unmissverständlich Nachdruck verleihen.

Hughes' Fußabdrücke mögen fast unsichtbar sein im heutigen Donezk, das im Jahr 1924 in Stalino („Stahlstadt“) und 1961 in Donetsk umbenannt wurde. Das Andenken an den Gründervater aus dem Westen wird in den Tagen der Donezker Volksrepublik nicht besonders hoch gehalten. Unter welchem Schlagwort sollte die neurussische Geschichtsschreibung die walisische Entwicklungshilfe einordnen: Völkerfreundschaft? Westlicher Imperialismus? Kapitalistische Ausbeutung?

Industrielle wie Hughes begründeten die Schwerindustrie des Donbass. Die Sowjets bauten später, als die Besitzungen der Familie 1919 von den Bolschewiken nationalisiert wurden, auf diese Erfahrungen auf. Im Sowjetreich wurde die Industrialisierung zur Staatsdoktrin: Lenins Diktum, der Donbass sei „nicht irgendeine Region, sondern es ist eine Region, ohne die der sozialistische Aufbau bloß ein frommer Wunsch bleiben würde“, erfüllte die Region, die in den 1920ern an die Ukrainische Sowjetrepublik erging, jahrzehntelang mit proletarischem Stolz.

Ortschaften entstanden im Donbass stets im Schatten der Kohlebergwerke, Stahlhütten, Lokomotivfabriken und der chemischen Industrie. Die industrielle Monokultur der Company Towns beunruhigte im Kommunismus niemanden, sollte sich aber zum strukturellen Problem für die Region entwickeln, als die regional stark verzahnte Sowjet-Wirtschaft nach 1991 auseinanderbrach. Doch vorerst kamen die Menschen aus allen Enden und Ecken des Großreichs, um im Donbass für harte Arbeit sicheres Geld zu verdienen. Patrone – einst Hughes, in der Sowjetzeit die so genannten „Roten Direktoren“ – waren in diesem System die Garanten für das Wohl der Bevölkerung. Das Schicksal der Arbeiter war an das Schicksal der Betriebe geknüpft. Die Schattenseiten – die riskante Arbeit, die Hungersnot, Exploitation von Zwangsarbeitern – werden bis heute weniger gern beleuchtet.


Oligarchen statt Direktoren. Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb im Donbass zunächst vieles, wie es war. Die meisten Minen, die meisten Werke liefen weiter, obwohl sie nicht mehr besonders rentabel waren. Die Unabhängigkeit der Ukraine, für die die Bürger mehrheitlich gestimmt hatten, blieb wenig greifbar in einer Region, in der die sowjetische Gruppen-Identität die multikulturelle Herkunft der Bewohner oder die sich herausbildende nationale Idee überlagerte. Die Signale aus Kiew gaben wenig Anlass, diese Sicht zu ändern: Leonid Krawtschuk, erster Präsident der Ukraine, ließ die Donezker Eliten walten, solange sie nicht die Integration mit Russland anstrebten. Sein Nachfolger Leonid Kutschma setzte 1997 Viktor Janukowitsch als Gouverneur ein, der dafür im Gegenzug Kutschmas Wiederwahl 1999 sicherte.

Allmählich löste ein neuer Unternehmertyp die Roten Direktoren ab: Es waren dies Oligarchen wie Rinat Achmetow, die nicht davor zurückschreckten, ihren Besitz auch mit unlauteren Praktiken zu vergrößern. Achmetow, der zum reichsten Mann der Ukraine aufstieg, versammelte in seinem Wirtschaftsimperium Banken, eine Medienholding und natürlich Bergbau- und Metallurgiebetriebe. Das Donezker System der Patronage, in dem der übermächtige Dienstgeber, der hosjain, über das Wohl seiner Untergebenen wacht, fand seine zeitgenössische Form: Achmetow baute ein wahrhaft prächtiges Fußballstadion für seinen Verein Schachtjor Donezk, er ließ die Donezker Oper bezuschussen und förderte Sozialeinrichtungen. Gleichzeitig baute er in enger Zusammenarbeit mit Janukowitsch eine politische Partei auf, die Partei der Regionen, die in den kommenden Jahren – mit einer kurzen Verzögerung durch die Orange Revolution – Ukraine-weit nach der Macht griff.

Doch eben dieser Machtanspruch des Donbass auf die ganze Ukraine barg Konflikte: Der Donezker Clan war überall außerhalb der Industrieregion äußerst unbeliebt, die Partei der Regionen galt als korrupte Partei der Macht. Wie die deutsche Politologin Kerstin Zimmer beschreibt, hatten sich seit der Orangen Revolution auch gegenseitige Stereotype – „nationalistische“ Ukrainer versus „fehlerhafte“, weil russifizierte Donbass-Bewohner – festgesetzt.

Angesichts des Konflikts stellen die „Urbewohner“ des Donbass – das einst arbeitende, aber immer öfter verarmte und trinkende Volk – häufig folgende, an die Kiewer Politiker gerichtete Frage: „Warum belästigt ihr uns, warum seid ihr zu uns gekommen?“ Die Frage zeugt von dem anderen Verständnis über dieses Land namens Ukraine. Der Donbass hat – bis auf seine gebildeten, proukrainischen Schichten – bis vor Kurzem in einer eigenen Realität gelebt: Hier existierte die Sowjetunion nach ihrem Ende in einer kapitalistisch-autoritären, heruntergewirtschafteten Version fort. Die verunsicherte Region findet nun in der Idee des „Russkij Mir“ Trost: falschen Trost. Denn Russland erbarmt sich des Donbass nicht, die Zukunftsfrage ist unausweichlich. John Hughes kam in den Donbass, weil sein Boden Schätze versprach. Die Schätze sind ausgebuddelt, übrig geblieben ist nur Erde.

Der Gründer

John
Hughes
wurde 1814 in der südwalisischen Industriestadt Methyr Tydfil geboren. Er begann seine Karriere im Stahlwerk, in dem auch sein Vater als Ingenieur tätig war.

Später erhielt er die Chance, ein Stahlwerk im ressourcenreichen Donbass, damals im russischen Zarenreich, aufzubauen.

1869 schloss er den Vertrag, 1870 reiste er mit Geräten und Arbeitern nach Russland. Hughes' Stahlwerk sollte zum größten im Zarenreich werden.

Zu Ehren von Hughes wurde die Siedlung rund um die Fabrik Jusowka genannt. Die Ortschaft wuchs rasant und entwickelte sich rund um das Werk, teils in geplanten Arbeitersiedlungen, teils in unregulierten Stadtteilen.

1889 starb Hughes in Sankt Petersburg. Seine Söhne übernahmen das Unternehmen.
Wikipedia

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.