„Stalin schrieb alle Vernichtungsquoten vor“

GEORGIA STALIN BIRTHDAY
GEORGIA STALIN BIRTHDAY(c) EPA (ZURAB KURTSIKIDZE)
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Der russische Historiker Chlewnjuk kennt den Stalinismus wie kaum ein anderer: ein Gespräch über sein neues Buch, Stalins Verantwortung für Millionen Tote und die sehr gefährliche Stimmung in Russland.

Zumindest auf dem Papier klingt verheißungsvoll, was die russische Regierung verspricht: Ein Mitte August veröffentlichtes Programm soll das Gedenken an die Opfer politischer Unterdrückung fördern – etwa durch ein „Netzwerk von Museen und Gedenkstätten“, freien Zugang zu Archivmaterial und Bildungsprogramme in Medien und in den Schulen. Kein Wunder, 2017 naht – und damit das Gedenken nicht nur an die Oktoberrevolution, sondern auch an Stalins Großen Terror.

Dieser war „eine Serie von Operationen, die vom Politbüro genehmigt wurden“, liest man in der neuen Stalin-Biografie des russischen Historikers Oleg Chlewnjuk: „Die umfangreichste richtete sich gegen ,antisowjetische Elemente‘ ... Sie war zunächst von August bis Dezember 1937 geplant, und alle Regionen und Republiken erhielten jeweils konkrete Zielvorgaben, was die Zahl der Hinrichtungen und Internierungen in dieser Zeit betraf. Die Quoten der Zerstörung von Menschenleben hatten einen ganz ähnlichen Charakter wie die für die Produktion von Getreide oder Metall.“ Im ersten Stadium sollten etwa 200.000 Menschen in Lager deportiert und mehr als 70.000 erschossen werden; doch regionale Funktionäre durften, ja sollten sogar Quoten-Erhöhungen beantragen, die zahllosen Anträge wurden von Moskau fast immer genehmigt. „Bis November 1938 wurden 1,6 Millionen Menschen verhaftet und von diesen 700.000 erschossen.“

Beweis für Stalins totale Verantwortung

Wenn einer die Papiere kennt, die den genauen Ablauf dieser Wahnsinnstat belegen, dann Oleg Chlewnjuk. Seit einem Vierteljahrhundert forscht er zur Stalinzeit, fast ebenso lang arbeitet er am Staatsarchiv der Russischen Föderation, das den größten Teil der Dokumente zum Stalinismus beherbergt. Wer seine auf Deutsch bei Siedler erschienene Stalin-Biografie liest, lernt im Detail den neuesten Stand der Forschung kennen. Und eines wird dabei ganz klar: Stalins Verantwortung für die Millionen Opfer seines Regimes ist noch viel größer, als lange vermutet. „Wir kennen keine einzige folgenschwere Entscheidung, die nicht Stalin selbst getroffen hätte“, schreibt Chlewnjuk. „Das ist eine der größten Erkenntnisse seit der Öffnung der Archive nach dem Fall der Sowjetunion“, erzählt er der „Presse“: „Natürlich sah man Stalins System traditionell als sehr zentralistisch an. Aber die Historiker hatten keine Beweise. Manche haben auch viel Chaos unter Stalin vermutet, und dass er vieles nicht gewusst habe. Heute steht außer Zweifel, dass er ein noch viel härterer Diktator war, als wir glaubten.“

Das gilt auch für den Großen Terror in den Jahren 1937 und 1938. „Früher hielt man es für möglich, dass vieles eigenmächtig in den Regionen passierte, doch es war alles geplant“, sagt Chlewnjuk. „Stalin hat sämtliche Vernichtungsquoten für jede einzelne Region festgelegt, wie viele erschossen werden müssen, wie viele ins Lager kommen.“ Im Garten seiner Datscha überwachte er jede neue Pflanzung, traf kleinste Entscheidungen selbst – nicht anders war er in der Politik. „Wir waren auch unsicher, wie weit die Kollektivierungen zentral gesteuert waren. Auch hier aber ging alles Wesentliche von Stalin aus.“ Die wahnwitzig brachiale Kollektivierungs- und Industrialisierungspolitik des ökonomisch ignoranten Diktators war auch die Hauptursache für die Große Hungersnot in den frühen Dreißigerjahren, mit fünf bis sieben Millionen Todesopfern. Insgesamt habe Stalins Diktatur „mindestens 60 Millionen Menschen“ irgendeiner Form von Repression und Diskriminierung unterworfen, meint Chlewnjuk.

All das ist in Russland bei Weitem nicht allgemein anerkannt. Stimmt es, dass große Teile der russischen Bevölkerung Stalin „gar nicht so schlecht“ finden? „Ja“, sagt Oleg Chlewnjuk, „das ist ein echtes Problem. Erstens zeigt es die niedrige Bildung der Bevölkerung, sie träumt von einer angeblich glücklichen Vergangenheit, in der noch Ordnung herrschte und Russland stark war. Das ist eine sehr gefährliche Massenstimmung. Außerdem besteht die Gefahr, dass man wieder einen Sündenbock sucht.“ Putin nannte Stalin einmal einen „effizienten Manager“. „Ich habe keine Ahnung, wie er wirklich über Stalin denkt“, sagt Chlewnjuk. „Er weiß jedenfalls, dass unser Land zwischen Anti-Stalinisten und Pro-Stalinisten gespalten ist, deshalb sendet er unterschiedliche Signale.“

Auch ein Gulag-Museum in Moskau will die russische Regierung bald eröffnen. Im Gegenzug hat sie die für ihren Geschmack zu kritische Leitung der bisher einzigen Gulag-Gedenkstätte, Perm 36 im Ural, entlassen. Das Museum untersteht nun dem regionalen Kulturministerium und will eine angeblich „neutrale“ Version der Gulag-Geschichte anbieten. Die Häftlinge werden nur als „Kriminelle“ und „Feinde der Sowjetunion“ dargestellt, ihr Arbeits-Beitrag zum Sieg im „Vaterländischen Krieg“ wird betont, die Haftverhältnisse erscheinen positiver, als sie waren.

Geschichtsbilder unter Staatskontrolle

Und wie wird Stalin in den Schulbüchern dargestellt, die unter Putin neu geschrieben wurden? Dazu äußert sich Chlewnjuk auffällig vorsichtig – kein Wunder, er hat selbst ein Stalin-Kapitel beigetragen. „Man hat meinen Text so übernommen, wie ich ihn geschrieben habe. Ich hätte insgesamt im Buch andere Akzente, mehr Erklärungen bevorzugt, aber es ist nicht furchtbar schlimm, im Allgemeinen steht dasselbe drin wie in den alten Schulbüchern. Künftig wird die Darstellung sicher kritischer werden.“

Ist das im August beschlossene Politik-Konzept zum Gedenken an die Opfer politischer Repression ein Schritt in diese Richtung? „Schon unter Gorbatschow hat der Staat versucht, eine gewisse Kontrolle über die Darstellung der Stalin-Verbrechen zu behalten“, erinnert die niederländische Genozid-Historikerin Nanci Adler gegenüber der „Presse“. „Wir müssen abwarten, wie ehrlich die Ankündigungen gemeint sind. Aber es scheint schon ein wichtiger Schritt zu sein.“

ZUR PERSON

Oleg Witaljewitsch Chlewnjukgehört zu den wichtigsten Stalinismus-Kennern der Gegenwart. Geboren wurde er 1959 in Winnyzja in der heutigen Ukraine, seit 1994 arbeitet er am Staatsarchiv der Russischen Föderation. Er veröffentlichte mehrere Bücher zur Stalinzeit, wie „The History of the Gulag“ (Yale University Press, 2004) und nun „Stalin. Eine Biographie“ (Siedler Verlag). [ Dva ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2015)

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