Nachruf: Der Amerikaner, der uns das Wiener Fin de Siècle erklärte

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Er hat das Wien der (vorletzten) Jahrhundertwende durchdacht und porträtiert wie kein anderer: Der amerikanische Kulturhistoriker Carl E. Schorske, Gründervater des Wiener Forschungszentrums für Kulturwissenschaften, ist im Alter von 100 Jahren gestorben.

Ob er über diese wienerische Schnurre geschmunzelt hat? Als Carl E. Schorske 100 wurde, am 15. März heurigen Jahres, widmete auch die auflagenstärkste Zeitung Österreichs ihm einen kleinen, freundlichen Artikel, der allerdings im Imperfekt gehalten war: „Der New Yorker Schorske würde heute seinen 100. Geburtstag feiern“, stand darin.

Nun, Schorske, der große amerikanische Kulturhistoriker mit deutsch-jüdischen Wurzeln, hat seinen 100. Geburtstag im Indikativ gefeiert, in einem Seniorenheim in New Jersey, er hat zu diesem Anlass auch noch das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich von Minister Ostermayer entgegengenommen, in geistiger Frische, selbst singend, umgeben von den Mitarbeitern des österreichischen Kulturforums in New York und Kollegen der Universität Princeton, die ihn liebevoll "Secular saint" nennen. Jetzt erst ist er gestorben, 115 Jahre nach der Jahrhundertwende, deren Wiener Ausprägung er in einem Klassiker der Kulturgeschichte porträtiert hat: „Fin-de-Siècle Vienna“, erschienen 1980. Schorske habe „uns unsere eigene Geschichte nahegebracht“, sagte, nur leicht übertreibend, Bürgermeister Michael Häupl, als er ihn 2012 zum Ehrenbürger ernannte. Und wenn es im intellektuellen Amerika je eine „Manie viennoise“ gab, dann war Schorske nicht unschuldig daran. Er porträtierte das Wien der vorletzten Jahrhundertwende als „Laboratorium der Moderne“ – und verband dabei Psychoanalyse und Politik, Kunst und Gesellschaft, Lebensgefühl und Literatur. „Mahler wusste, wer Freud war; Kokoschka wusste, wer Schönberg war“, fasste er es knapp.

„Rebellische Söhne“

Eine Triebfeder des Neuen fand er in der Auflehnung der Söhne gegen die Väter, explizit natürlich in Freuds „Traumdeutung“ (1900). Doch er entdeckte den Ödipus auch im „österreichischen Trio“ Karl Lueger, Georg von Schönerer und Theodor Herzl: Alle drei hätten, schrieb er, als „rebellische Söhne der liberalen Kultur“ das „Vor“ und das „Zurück“ vereint, an eine „archaische Tradition von Gemeinschaft“ geglaubt. Die Geburt der (kulturellen) Moderne erklärte er aus einer Krise, aus einem (politischen) Scheitern, des Liberalismus nämlich. So sei der dekadente Herbst der imperialen Ära zugleich ein Frühling gewesen, der Ver sacrum der Secession, so sei aus der „Versuchsstation des Weltuntergangs“ (Karl Kraus) das Neue gewachsen. Solche Thesen begeisterten nicht nur das amerikanische Publikum, sie beflügelten auch die legendären Ausstellungen über „Traum und Wirklichkeit“, die er beriet.

Bevor er sich – spät – der Wiener Kultur zuwandte, arbeitete Schorske u. a. über die Probleme der deutschen Sozialdemokratie. Zum heutigen Geistesleben Wiens hat er institutionell als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien beigetragen: Von der Gründung (1993) an war dieses Institut von Schorskes humanistischer Kunst der Kulturwissenschaft mindestens genauso inspiriert wie von den vor allem in England auf Populärkultur und Soziologie konzentrierten Cultural Studies.

Wer Schorske bei seinen Besuchen in Wien erlebt hat, hat einen freundlichen Herrn in Erinnerung, dem intellektuelle Allüren so fremd waren wie professorale Extrawünsche, mit Ausnahme vielleicht von teeinfreiem Tee. Einmal fuhr er auf eigene Faust mit der Badner Bahn nach Baden, war überrascht, wie lang das dauert, und erklärte seinen Ausflug mit seinen Wurzeln in Baden-Baden. Damals wunderte das manche: Sie hätten geschworen, dass er Wiener Vorfahren habe, so wienerisch wirkte er.
„Mir ist sehr wohl dabei, wenn ich überflüssig werde“, sagte Carl E. Schorske im Jahr 2000 bei einem Wiener Symposion nicht ohne Ironie, als er hörte, in wie viele – auch ihm fremde – Richtungen seine Schüler seine Ideen trugen. Sie werden sie weitertragen, und sie werden ihn nicht vergessen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2015)

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