Migration: Völkerwanderung ohne Völker?

Plünderung Roms durch die Vandalen unter Geiserich (Karl Briullov, um 1836). Jahre zuvor hatten Geiserich und Kaiser Valerian III. noch ihre Kinder miteinander verlobt.
Plünderung Roms durch die Vandalen unter Geiserich (Karl Briullov, um 1836). Jahre zuvor hatten Geiserich und Kaiser Valerian III. noch ihre Kinder miteinander verlobt.Wikipedia
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Die "Völkerwanderung" wurde in Wien erfunden: Als Schreckenswort ist sie nun wieder da. Aber Völker wanderten nie, Eroberungen blieben die Ausnahme, und die Migranten des vierten bis sechsten Jahrhunderts übernahmen von innen die Macht - als neue Elite.

Über Generationen hat man die Bilder vererbt, in der Schule, in Filmen, in Büchern: Horden und Heere von Barbaren, die Rom überrennen und ein Weltreich zu Fall bringen, Gewalt und Chaos, Kampf zwischen Wilden und Zivilisation. Nun sind die Bilder wieder da – angesichts der vielen tausenden Flüchtlinge sprechen manche, mit oder ohne Fragezeichen, von einer „neuen Völkerwanderung“.

Warum bemüht man gerade diese Migration, die eineinhalb Jahrtausende zurückliegt? Es gäbe so viele Flüchtlings- und Einwandererströme der vergangenen Jahrhunderte, an die man erinnern könnte: die Millionen Flüchtlinge in Mittel- und Osteuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs, die Millionen Menschen, die vor dem Bürgerkrieg in Ruanda flohen, die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien oder auch die 85 Millionen Menschen, die zwischen 1820 und 1914 von Europa aus den Atlantik überquerten und das Gesicht der USA veränderten.

Europas „große Erzählung“. Die Völkerwanderung sei ein interessantes historisches Laboratorium, wie der österreichische Historiker Walter Pohl sagt, einer der weltweiten Experten für diese Zeit; man kann darin auch gleich die Gegenwart untersuchen. Aber das gilt für andere Migrationen auch. Nicht, weil sich diese Zeit besser eignet, kommt sie ins Gerede, sondern, weil sich Europas Nachwelt über Jahrhunderte Mythen daraus geschmiedet hat.

Allein schon im Wort „Völkerwanderung“ steckt eine solche große Erzählung. Einzig das Deutsche lässt in der Bezeichnung der Epoche an Völker denken. Bei den Engländern etwa heißt es populär „barbarian invasions“ oder nüchtern „migration period“; die Franzosen kennen die „invasions barbares“ oder die „migrations germaniques“. Von Barbaren spricht auch die heutige Forschung mangels besserer Begriffe. Ursprünglich meinte das aus dem Griechischen stammende Wort bei den Römern die sozusagen brabbelnden („br-br-sagenden“), unkultivierten Fremden. Und als die Kulturlosen, die die Zivilisation bedrohen, blieben sie auch im abendländischen Gedächtnis verankert. So warnten sowohl Thomas Mann als auch Albert Einstein vor einer „Völkerwanderung von unten“: Der Schriftsteller meinte den Bolschewismus, der Physiker den Nationalsozialismus, dieses „Zertrampeln des Feineren durch das Rohe“.

Dass aber im Deutschen das Bild der Völker ins Spiel gekommen ist, das heute wieder die Angst vor „den Fremden“ beflügelt, hat ursprünglich mit einem Wiener zu tun. Der Habsburger Hofhistoriograf Wolfgang Lazius schrieb im 16.Jahrhundert als Erster in einem Traktat von der „migratio gentium“. Er meinte damit noch keine Epoche, erklärt der Wiener Historiker Stefan Donecker, der die Begriffsgeschichte der Völkerwanderung erforscht. „Lazius wollte einfach zeigen, dass barbarische Völker der Antike generell mobiler waren, als man bisher glaubte.“ Lazius erklärte damit auch die Entstehung des österreichischen Volkes – als Gemisch aus wandernden Goten, Kelten, Markomannen und anderen.

„Das gewaltige deutsche Volk“. Erst viel später wurde die germanische „Völkerwanderung“ zur „Meistererzählung des deutschen Nationalismus“ (Donecker) – als Mär vom starken, gesunden Volk, das die dekadenten Römer hinwegfegt. Beispielhaft dafür ist die Beschreibung von Turnvater Jahn im 19.Jahrhundert. „Uralt ist des Deutschen Reisetrieb; wahrscheinlich hat ihn der aus dem Morgenlande herausgeführt... und ihn über die Alpen schauen lassen auf die Herrlichkeit Roms.“ Jahn beschwört „die Furcht der Römer, ihre versuchte Vorkehr gegen das gewaltige Deutsche Volk und dessen endliches Überfluten“. Da wird schon heftig von der Eroberung neuer Lebensräume geträumt. Noch bis in den Zweiten Weltkrieg hinein haben nicht nur, aber vor allem die Deutschen ihre Behauptungs- und Expansionsansprüche auf die Völkerwanderung zurückgeführt.

Wenn also heute etwa die FPÖ vor der „Völkerwanderung“ warnt, ist das eine historische Kuriosität; denn gerade im nationalen Diskurs wurde die „Völkerwanderung“ lange Zeit positiv gewertet. Die wandernden Germanen galten als Ahnherren und Begründer nationaler Identität; und tatsächlich – ohne sie würde bei uns hier niemand heute Deutsch sprechen, und damit gäbe es auch keine „deutsche“ oder „österreichische“ Kultur, die rechte Parteien nun vor den Flüchtlingen zu verteidigen vorgeben.

Wenn heute der Mythos der „Völkerwanderung“ aufgefrischt wird, vermischen sich auf diffuse Weise zwei gegensätzliche Erzählungen: einerseits die von den Römern begründete negative, die die Bedrohung einer hoch stehenden Kultur durch die „Barbaren“ beklagt; andererseits die Erzählung von den starken (germanischen) „Völkern“, die das verkommene Rom besiegen und zu Ahnherren der eigenen Nation werden. Nationalisten seit dem 19. Jahrhundert haben die Migranten der Spätantike als starke „Völker“ gefeiert, heutige behalten dieses Bild, aber mit umgekehrten Vorzeichen – zum Feindbild gewendet.

Allerdings sind auch Historiker nicht gegen ideologische Verbiegung gefeit. Sehr lang war das wissenschaftliche Bild der Völkerwanderung von der „Invasionshypothese“ geprägt: Große ethnisch geschlossene Gruppen hätten Rom zu Fall gebracht. Seit den 1960er-Jahren pendelten manche Forscher zum anderen Extrem. So beschrieb der britische Althistoriker Peter Brown die Spätantike als langsame Transformation, betonte statt des Bruchs das Kontinuum, den Übergang.

Tabuwort „Niedergang“. Auch die alten Beschreibungen als Abstieg, Nieder- und Untergang waren eine Zeit lang tabu. Zwar hat die Archäologie genügend Artefakte geborgen, die die Verschlechterung der materiellen Kultur in der Zeit von und nach Roms Untergang beweisen – vom Wohnbau bis zu den Dingen des täglichen Lebens; doch im Bestreben, alle Kulturen als gleichwertig darzustellen, und auch weil Imperien wie Rom nicht mehr beliebt waren, hütete man sich peinlichst vor Wertungen.

Während man früher die Größe der Invasionen betonte, neigte man schließlich in den vergangenen Jahrzehnten dazu, die Wanderbewegungen jener Zeit überhaupt als maßlos überbewertet zu sehen; in Wahrheit seien sie eine Randerscheinung gewesen.

Wie viele wanderten nun aber wirklich? Waren es geschlossene Ethnien, die migrierten? Und wie viel trugen sie dazu bei, dass Rom unterging? Welche Antworten geben heutige Forscher wie der schon erwähnte Österreicher Walter Pohl oder der Brite Peter J. Heather auf diese Fragen?

Völker wie die Vandalen oder die Langobarden wanderten ihnen zufolge keineswegs. Meist waren es kleine ethnische Gruppen, die sich auf den Weg machten, unterwegs rekrutierten sie dann weitere waffenfähige Männer unterschiedlicher Herkunft. Heather vergleicht die Migrantengruppen mit langsam anwachsenden Schneebällen, deren Zusammensetzung am Ende sehr unterschiedlich sein konnte. Erst in der neuen Heimat wuchsen sie mit den Einheimischen zu neuen Völkern zusammen.

Wie viele migrierten? Darüber streiten sich die Historiker besonders, einige wenige reden von nur wenigen Tausend, manche von Hunderttausenden. „Zwischen einigen Zehntausend und Hunderttausenden“ hält Pohl für wahrscheinlich. Aber sie verteilten sich auf einen Zeitraum von Jahrhunderten. Auch Heather betont, dass die Migranten in den Nachfolgereichen des Römischen Reiches nur kleine Minderheiten waren. Trotzdem unterminierten sie Roms schon geschwächte Strukturen. Sie verdrängten nicht die einheimische Bevölkerung, aber die politische Elite.

Und wie? Kaum durch direkte Angriffe, auch wenn dies in der „großen Erzählung“ der Völkerwanderung stets betont wurden. Diese scheiterten vielmehr, selbst der Ansturm der Hunnen unter Attila wirkte vor allem indirekt, durch die Flüchtlingsströme auf römisches Territorium, die er auslöste.

Viel wichtiger laut Pohl waren Machtübernahmen durch von Rom angeworbene Migranten als billige Söldner und Heerführer – sie stellten irgendwann die Mehrheit in den römischen Armeen. „Das ist“, sagt Pohl, „als würde man heute sagen: ,Unser Bundesheer ist so schlecht und teuer, wir nehmen Migranten, die sind billiger und besser.‘ Kein Wunder, dass sie irgendwann die Macht ergriffen haben.“

Flucht und lockender Wohlstand. Wie heute vermischten sich auch damals politische und wirtschaftliche Motive, Flucht vor Feinden und die Lockungen der „reichen“ Welt. Heather spricht zwar sehr wohl von „Massenmigration“und einzelnen großen Invasionen, ist aber überzeugt: Rom wäre ohne diese zumindest später und anders untergegangen; doch selbst er betont, dass die Migration nur Begleiterscheinung eines sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wandels war, und mehr Folge als Ursache der großen Veränderungen. Ein entscheidender Faktor dabei sei das starke Entwicklungsgefälle zwischen benachbarten Gebieten gewesen. „Imperiale Macht erzeugt eine Gegenmacht, die mit der Zeit die Klinge des imperialen Schwertes stumpf werden lässt“, schreibt er in seinem Buch „Invasion der Barbaren“. Da kann der Limes noch so hoch sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2015)

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