Die sinnlosen Weltwunder: Mauern und ihr Schicksal

Auch die größte Grenzbefestigung der Menschheit wurde irgendwann einmal überrannt: Die Chinesische Mauer
Auch die größte Grenzbefestigung der Menschheit wurde irgendwann einmal überrannt: Die Chinesische Mauer(c) REUTERS (David Gray)
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4000 Jahre Geschichte zeigen: Die meisten Bollwerke stellten sich als nutzlos heraus, hielten dem Migrationsdruck auf Dauer nicht stand und wurden irgendwann überrannt.

Das war ein schwerer Schlag für den chinesischen Nationalstolz, als am 16. Oktober 2003 Yang Liwei, der erste Taikonaut des Landes, nach seiner Rückkehr aus dem Weltraum zugab: „Die Aussicht war wunderschön. Aber ich konnte die Große Mauer nicht sehen.“ Jahrzehntelang hatten Fremdenführer den Touristen des Landes versichert, dass die Chinesische Mauer das einzige Bauwerk der Erde sei, dass man aus dem Weltraum mit bloßem Auge ausnehmen konnte. Somit war also ein Mauer-Mythos zu Grabe getragen, aber es sollte nicht der einzige sein.

Wie viele Schutzwälle der Geschichte sollte auch das gigantomanische Bauwerk im Norden Chinas an der Grenze zur mongolischen Hochebene weniger ein militärisches Bollwerk als eine Demonstration zivilisatorischer Überlegenheit sein. Die kulturell unterschiedlichen Welten der chinesischen Han-Bauern und der wilden nomadischen Reitervölker auf der anderen Seite der Grenze, stießen hier aufeinander. Diplomatische Abkommen nützten, wenn der Hunger zu groß war, nichts, also griffen die Chinesen zum Mittel der Abgrenzung. Doch – und damit fällt der nächste chinesische Mythos – die Mauer war nutzlos, weil Reiterhorden aus der mongolischen Steppe angesichts einer derart langen Grenze immer einen Weg zu ihrem Ziel fanden, und sei es, indem sie korrupte Wachleute bestachen. 1279 eroberten die Truppen des Kublai Khan China, die Schreckensherrschaft der Mongolen begann, ein ganzes traumatisches Jahrhundert lang.

„Ein fundamentales Ereignis“ ist nach einer Bemerkung von Emmanuel Levinas die Begegnung mit dem anderen Menschen, sie ist oft geleitet von dem Wunsch nach Nähe, aber zwiespältig: Der Andere kann auch als störend empfunden werden, als Konkurrent, allzu fremdartig, wird der Dialog zu mühsam, dann sucht man die Distanz. So bildet sich über die Zeiten und Räume hinweg das Grenzenbewusstsein als eine spezifische Menschheitserfahrung aus. Viele historische Beispiele von Grenzziehungen zeigen: Bevor eine Grenze gebaut wird, besteht sie in den Köpfen der Menschen, sie ist immer auch ein Symbol für die Gesellschaft, die auf die Idee kommt, sich zu verschanzen. Mit den Worten des Soziologen Georg Simmel: „Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“

In Beton einzementiert

Je verschiedener die Lebensumstände auf den beiden Seiten der Grenze sind, desto undurchlässiger muss der Grenzzaun sein, das beweisen die gated communities der Weißen in Südafrika und die Mauern, die die Israelis im Westjordanland aufgestellt haben. Probleme bleiben ungelöst,stattdessen wird die Differenz in Beton einzementiert oder als Stacheldraht mit rasiermesserscharfen Schneiden aufgerollt.

Unfassbare Anstrengungen muss den Menschen vor 4000 Jahren die Errichtung der 220 Kilometer langen Syrischen Mauer, der ältesten bekannten Grenzmauer,abverlangt haben. Schon damals ging es nicht nur um politische, sondern auch wirtschaftliche Gründe: Nomaden sollten von einem Gebiet, das sesshafte Bauern bewirtschafteten, ferngehalten werden. Die Möglichkeit, dass man voneinander profitieren könnte, wurde ausgeschlossen.

Populäre Migrationstheoretiker wie Thilo Sarrazin behaupten gerne, dass sich Hochkulturen der Vergangenheit wie das antike Ägypten, das Imperium Romanum oder das chinesische Reich nur deswegen entwickeln konnten, weil sie durch gesicherte Grenzen die Zuwanderung kontrollierten, sei es durch Wüstensand, einen Befestigungswall wie den römischen Limes oder eben durch die Chinesische Mauer. Mag sein, dass dies die Motive der Mauerbauer durch 4000 Jahre hindurch gewesen waren, aber die Geschichte hat sich meist anders entwickelt als geplant. Richtig ist: Große Eroberer wie Dschingis Khan, Alexander der Große oder Napoleon eroberten riesige Reiche, ohne sich um die Grenzsicherung zu kümmern, sie konnten ihre Imperien daher nicht auf Dauer halten. Mächte wie das Römische Reich und China, die neben der Eroberungs- auch die Ordnungsaufgabe wahrnahmen, versuchten daher, ihre Territorien durch Grenzen zu schützen. Doch man kann nicht Menschen über eine riesige Grenzlinie hinweg voneinander trennen. Je größer eine Grenzmauer ist, desto mehr Löcher hat sie. Nie gab es Mauern ohne Durchgänge, oft waren sie so durchlässig, dass sich rund um die „Grenze“ richtige Mischkulturen entwickelten, die ihrerseits befruchtend auf die jeweilige Zivilisation wirkten.

Im Fall des römischen Limes beruht die erwähnte Abgrenzungsargumentation auf einem Irrtum, nämlich einem neuzeitlich-zeitgenössisches Verständnis der römischen Außengrenze als einer klaren Trennlinie, die das römische Territorium von den Barbaren abgrenzte. Der Limes war zunächst eigentlich eine flexible Abfolge von natürlichen Grenzen, Türmen, Palisaden, Mauern, Gräben, Wällen, keine durchgehende Befestigung, mehr Gebietsabschnitt als klare Grenzlinie.

An diesem Bauwerk zeigte sich die Größe und Erhabenheit des Reiches und seines Kaisers, zugleich war es ein Zeichen der Schwäche: Man musste eingestehen, dass das Ideal aus der Zeit des Augustus, ein grenzenloses Reich, hier am Limes sein Ende fand. Zugleich erweckte es den Eindruck, dass die Bauherren sich aus Angst vor den dunklen germanischen Wäldern und den Menschen dort hinter Palisaden versteckten. Wird ein Imperium dann fragil, spiegelt sich dies auch an dessen Grenzen wider. Wie morsch gewordener Putz von der Hauswand bröckelt es dann an allen Ecken und Enden. Als der germanische Migrationsdruck auf das römische Reich zunahm und zusätzlich die innenpolitische Lage instabil geworden war, war alles dahin.

Manche Grenzbauten stellten sich, kaum waren sie fertig, bereits als nutzlos heraus. Astrid Nunn, die Münchner Historikerin, die die Geschichten von Mauerbauten untersucht, berichtet vom zwei Meter hohen Bollwerk, das die Stadt Avignon 1721 zur Abwehr gegen die Pest, die in Marseille ausgebrochen war, errichtet hatte. Die Leistung war erstaunlich, in nur fünf Monaten war das Bollwerk über eine Linie von 30 Kilometern errichtet, doch die Seuche war schneller und bald war die Pest auch in Avignon.

Konkurs der Geographie?

Das 20. Jahrhundert mit seinen totalitären Systemen und der tiefgehenden ideologischen Konfrontation im Kalten Krieg brachte den Grenzen neue Konjunktur, nicht als Ausschließungs-, sondern als Einschließungsinstrumentarium. Mauern, Zäune und Wachtürme, die man bis dahin vornehmlich von Zwangslagern kannte, dienten nun dazu, ganze Staaten einzuschließen. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Beginn des Zeitalters der Globalisierung schien die schleichende Herabstufung der traditionellen Funktionen von Grenzen unaufhaltsam zu sein. Vor dem Hintergrund der Globalisierungspraxis der Hochfinanz kamen uns die staatliche Souveränität und damit die staatlichen Grenzen obsolet vor, man sprach vom „Konkurs der Geographie“.

Doch der Fall der Berliner Mauer ist für Europa nicht der Beginn grenzenloser Freiheit, sondern eines Zeitalters der Zäune geworden. Gerade die als altmodisch geltenden Formen von Grenzen wie Zäune und Mauern erleben eine Renaissance, das erscheint angesichts moderner Grenzüberwachungstechnologien mit Drohnen und Satelliten reichlich absurd. 1989 gab es nach einer Zählung der Universität Montreal auf der Welt 16 Sperranlagen, heute sind es 65 und täglich kommen welche dazu. Die Schlagbäume wurden mit der EU-Reisefreiheit abmontiert, die im Kopf sind hartnäckiger. Kaum eine Grenze wird derzeit mit so viel Hochtechnologie überwacht wie die zwischen Mexiko und den USA: Die Wirkungslosigkeit ist vielfach dokumentiert.Niemand wird es unternehmen wollen, die Abschaffung aller Grenzen zu fordern, doch das Dilemma, das Ralf Dahrendorf formuliert hat, bleibt: „Eine Welt ohne Grenze ist eine Wüste; eine Welt mit geschlossenen Grenzen ist ein Gefängnis; die Freiheit gedeiht in einer Welt offener Grenzen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2015)

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