Kohls Sternstunde in Europas Geschichte

In Anwesenheit von Bundespraesident Richard von Weizsaecker Bundeskanzler Helmut Kohl dem bisherigen
In Anwesenheit von Bundespraesident Richard von Weizsaecker Bundeskanzler Helmut Kohl dem bisherigenimago/epd
  • Drucken

3. Oktober 1990. Vor 25 Jahren löste sich die DDR freiwillig auf und trat bedingungslos der Bundesrepublik bei. Das Unwahrscheinliche war Wirklichkeit geworden – unter den kommunistischen Kadern ging die Angst vor Strafe um.

Fast auf den Tag genau 41 Jahre nach ihrer Gründung hat sich die Deutsche Demokratische Republik am Mittwoch, dem 3. Oktober 1990, um null Uhr als eigenständiger Staat aufgelöst und ist damit zum Teil der Bundesrepublik Deutschland geworden“, jubelte „Die Welt“. Die historische Wende, die mit dem Fall der Berliner Sperrmauer am 9. November 1989 begonnen hatte, war nun vollendet, Deutschland wiedervereinigt, wenngleich auf jene Gebiete, die jenseits von Oder und Neiße liegen und heute zu Polen gehören, verzichtet wurde. Es waren elf Monate unbeschreiblicher Spannung, die Europa in Atem hielt. Wir Journalisten hatten dieser Dynamik sprachlos zugesehen. Wir sind ihr hinterhergelaufen, so gut wir es vermochten.

Am 3. Oktober, der seit 25 Jahren als Feiertag der Deutschen Einheit begangen wird, hatte sich der Traum, den der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl mit seinen Landsleuten unbeirrt verfolgte, in Frieden und Freiheit, ohne jegliches Blutvergießen erfüllt.

Tags zuvor hatten sich die drei alliierten Stadtkommandanten, die ja seit 1945 immer noch nominell die Aufsicht wahrnahmen, von Deutschland verabschiedet: Die Verpflichtung der drei Westmächte (USA, Großbritannien, Frankreich) gegenüber der von 1961 bis 1989 geteilten Stadt beruhte „auf der Überzeugung, dass Freiheit, Demokratie und das Recht auf Selbstbestimmung gewahrt werden müssen, wo immer und wann immer sie bedroht werden – um jeden Preis!“

Als Symbol der Einheit wurde um Mitternacht unter dem Geläut der Friedensglocke vor dem Reichstagsgebäude die schwarz-rot-goldene Bundesflagge aufgezogen.

Helmut Kohl ist promovierter Historiker. Für ihn war daher der 3. Oktober 1990 nicht nur ein zutiefst sentimentales Datum, sondern ein positiver Markstein in der Geschichte der Deutschen, die auch viel Unheilvolles enthält. Und er war und ist kein Mann der großen Rede. Nüchtern drückte er es in seiner TV-Ansprache an die Bundesbürger aus: „Wenn wir zusammenhalten und auch zu Opfern bereit sind, haben wir alle Chancen auf einen gemeinsamen Erfolg.“ Dann werde es schon in wenigen Jahren gelingen, aus den fünf Bundesländern der bisherigen DDR „blühende Landschaften“ zu machen. Eine Prophezeiung, die richtig, aber etwa vorschnell sein sollte.

Eines der vielen Probleme, vor der das neue Deutschland stand, war die Frage, wie man mit den alten kommunistischen Kadern umgehen sollte, die man gern vor Gericht gestellt hätte. „Schweres Unrecht muss gesühnt werden“, sagte Kohl in dieser Ansprache, „doch wir brauchen auch die Kraft zur inneren Aussöhnung.“

Welche Angst die bisherige Führungsgarnitur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands umtrieb, zeigt ein Brief, den Hans Modrow (Ehrenvorsitzender) und Gregor Gysi (Vorsitzender der Nachfolgepartei PDS – Partei des demokratischen Sozialismus) an ihren Schutzpatron in Moskau richteten, und zwar am 13. September 1990. Der Historiker Stefan Karner und sein Team haben den Text im Buch „Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung“ jetzt veröffentlicht. Gysi ist noch immer Bundestagsabgeordneter in Berlin (Die Linke).

Der Brief:

„Werter Genosse Michail Sergejewitsch Gorbatschow !

Nur noch wenige Tage sind bis zum 3. Oktober verblieben. Für die Mitglieder der PDS und ihre Sympathisanten sind dies Tage vor allem zum Nachdenken und Abwägen. Sie sehen in der Existenz einer deutschen Linken, in ihren politischen und rechtlichen Wirkungsmöglichkeiten Grundvoraussetzungen für ein wirklich neues friedliebendes und demokratisches Deutschland, gegen den Abbau demokratischer und sozialer Rechte. Eine gesicherte Demokratie, Verzicht auf Terror und Gewalt, auf Berufsverbot, auf politische und soziale Rache und Revanche müssen unverzichtbare Attribute eines solchen neuen einheitlichen deutschen Staates sein. Dies lehren auch die Ereignisse von 1933, 1939 und 1941.

Daran werden wir in jüngster Zeit angesichts schon vorhandener Haftbefehle, darunter gegen unseren Genossen Markus Wolf und andere mit dem Sowjetland eng verbundene Genossen, offizieller Aufforderungen von Regierenden in Bonn zur politischen Überprüfung Zehntausender von Angestellten im öffentlichen Dienst, ausgesprochener Berufsverbote erinnert. Solche politischen Schritte passen wirklich nicht in vernünftige Vorstellungen von einer demokratischen deutschen Wohnung in einem friedlichen europäischen Haus. Darüber hinaus richten sie sich zum Teil direkt gegen Interessen und Positionen der Sowjetunion. Im Einigungsvertrag werden die Möglichkeiten der PDS von vornherein beschränkt, Enteignungen sind im großen Umfang vorgesehen, obwohl die PDS von sich aus schon etwa 75 Prozent ihres Eigentums abgegeben hat. Es wird insgesamt eine Stimmung der Unversöhnlichkeit verbreitet.

Viele Demokraten in Deutschland hegen daher die Hoffnung, ja Erwartung, dass die UdSSR unmittelbar vor der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und der schrittweisen Abgabe ihrer alliierten Rechte ihre große Verantwortung wahrnimmt, um Demokratie, Toleranz, Pluralismus und Weltoffenheit einzufordern. Leider verfügt die deutsche Geschichte bisher über zu viel Beweise dafür, dass Intoleranz, Gewalt und Nationalismus im Inneren des Landes wesentliche Faktoren der Vorbereitung auf expansive, aggressive Politik nach außen waren.

Wir möchten daher, lieber Genosse Michail Sergejewitsch, unsere Überzeugung bekunden, dass Sie im Interesse der Deutschen, der Sowjetbürger, ja, aller Europäer, in den Gesprächen mit den Regierenden in Deutschland diese Erwartungen an ein neues Deutschland deutlich artikulieren.

Ihr Land und Ihre Mitbürger, denen die Deutschen besonders viel Leid zugefügt haben, und Sie persönlich, der den Weg zur deutschen Einheit maßgeblich ermöglicht hat, haben mehr als alle anderen politischen Kräfte das moralische Recht und das politische Gewicht, um in diesem zutiefst humanistischen Sinne auf den weiteren Gang der Dinge in Deutschland Einfluss zu nehmen.

Mit kameradschaftlichen Grüßen

Hans Modrow, Gregor Gysi.“

Nächsten Samstag:
Wiener Wahlkämpfe seit 1945.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.