Elektronische Revolution in der „Presse“: Das Experiment von 1985

"Die Presse" führt ihren ersten Pagepro vor - 1985(c) Harald Hofmeister
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Vor dreißig Jahren stellte "Die Presse" als erster Verlag in Europa die gesamte Zeitungsproduktion auf den Computer um.

Vor dreißig Jahren, im Herbst 1985, begann in den europäischen Verlagshäusern die größte technische Innovation, seitdem Johannes Gutenberg 1450 die beweglichen Metall-Lettern erfunden – und damit den Buchdruck revolutioniert hatte. Warum, so dachte man in der Branche, sollte man nicht den Computer zur einfacheren und wesentlich schnelleren Zeitungsproduktion verwenden?

Aber wie? Es gab keine Vorbilder. Ein solches Wagnis hatte noch keine europäische Zeitung unternommen. Zudem leistete die Drucker-Gewerkschaft verständlichen Widerstand. Denn Schriftsetzer und Metteure – alles spezialisierte Facharbeiter – würden ihre Existenz einbüßen. Was bis dahin ein begehrter Lehrberuf war, wurde obsolet.

„Die Presse“ sollte vorangehen, sagten die Sozialpartner, dann würde man sehen, ob ein solches Experiment Zukunft hätte. Im Herbst 1985 stellte die Geschäftsführung (Johann Fritz, Wolfgang Vyslozil, Rudolf Svoboda) mit dem Chefredakteur Thomas Chorherr eine Arbeitsgruppe zusammen. Sie sollte ein geeignetes Redaktionssystem finden, das man den technisch unbedarften Journalisten zumuten konnte. Zusätzlich zu den Technik-„Freaks“ Rolf Rothmayer, Peter Berger und Peter Martos bestand Chorherr auf einem „Grenzdeppen“ aus der Redaktion: „Wenn's der Scheidl versteht, dann verstehen's alle anderen auf jeden Fall.“

In Istanbul gab es schon solch eine elektronische Zeitung, in Frankfurt/Main „Stars and Stripes“ der US-Besatzungstruppen, in England verschlug es uns gar in eine Flugzeugfirma, die ein System anbot, für das wir zunächst ein mehrjähriges Informatikstudium benötigt hätten.

Gefunden wurde eine Schweizer Firma, die das System „Hastech“ anbot – ein amerikanisches Produkt: „Hendrix Advanced Systems Technology“. Der Firmensitz war in Manchester (New Hampshire), etwa 300 Kilometer nördlich von Boston. Damals arbeiteten bereits 42 US-Zeitungen mit diesem neuen System.

Heureka! Es konnte beginnen. Im 15. Stockwerk des alten Heiligenstädter Pressehauses wurde eine Versuchsanordnung aufgestellt: drei Bildschirme mit Drucker zur Umschulung der Redakteure – natürlich durch den „Grenzdeppen“. Und dieser entdeckte bei sich unbekannte didaktische Fähigkeiten. Jeder und jede musste eine Woche lang die Tortur über sich ergehen lassen. Die erste Umschulungswillige war die Kollegin Barbara Petsch aus der Kultur. Ein falscher Knopfdruck – und alles war wieder futsch! „Der Blechtrottel ist ein Mann“, stellte die lebenskluge Madame wütend fest.

Mit 64 Bildschirmen begann es

Aber parallel dazu musste eine Mannschaft gefunden werden, die das Geschriebene elektronisch in eine Zeitungsseite umwandeln konnte. Sieben Herren mit typografischer Ausbildung fanden sich aus der „Presse“-Setzerei dazu bereit. Einer hieß Peter Sladkovsky. Er erinnert sich an den Herbst 1985, als die Zeitung drei Monate lang täglich auf herkömmliche Weise produziert wurde und gleichzeitig mittels Computer eine virtuelle Ausgabe entstand.

Der Herausgeber Otto Schulmeister, dem diese Herausforderung erspart blieb (er diktierte weiter seiner Sekretärin), war voller Bewunderung für die „elektronischen Zauberer“. Sladkovsky: „Wir Zauberer mussten aber erst zaubern lernen, und zwar mit zwei schreibtischgroßen Computerkästen und daran angeschlossenen 64 Bildschirmen.“ Es war harte Arbeit.

Der große Moment, sozusagen die Nagelprobe, kam am 1. Jänner 1986. Die System-Gurus von „Hastech“ empfahlen uns: „Nehmt's in der ersten Woche keine Inserate an, wir werden sicher jeden Tag abstürzen. Das muss sich erst einspielen.“ Am 1. Jänner 1986 wurde erstmals elektronisch produziert. Und siehe da: Es hat einwandfrei funktioniert. Auch der technische „Grenzdepp“ freute sich, daran mitgewirkt zu haben. Erst nach einer Woche streikte das Netzwerk. Und wie! Eine Feuilleton-Dame hatte gedankenverloren ein schweres Buch auf ihre Tastatur gelegt und war heimgegangen. In der Nacht verdoppelte sich der gesamte Textinhalt immer wieder und immer wieder – bis zum Totalschaden.

„Die Fachwelt“, erinnert sich Peter Sladkovsky, „die vorher recht skeptisch reagierte, musste unseren Erfolg anerkennen.“ War die fertige Seite eines Ressorts freigegeben, so wanderte sie per Knopfdruck in wenigen Minuten über eine fixe Telefonverbindung von der Redaktion im „Marriott“ in die Druckerei im Wiener Arsenal. Dort wurde sie belichtet und für den Druck mit einer Rollenoffset-Maschine hergerichtet. So ging alles seinen Gang, etwa geschätzte fünf Jahre lang.

Sladkovsky: „Dann folgte der Siegeszug des Personal Computers. Die Zeitung musste also neuerlich umstellen. Zum Glück gab es jetzt aber eine österreichische Software, sie hieß ,News 2000'. Jeder Bildschirm-Arbeitsplatz wurde mit einem PC ausgerüstet, auf dem diese Software lief. Wieder waren neue Schulungen der gesamten Redaktion nötig, um alle Feinheiten dieser neuen Software kennenzulernen. Schön langsam wurden auch die Bilder, ebenso Farbbilder, in die elektronische Seite gestellt, auch Inserate folgten diesem Trend.“

Chorherr und Schulmeister trauten anfangs diesem ganzen Zauber nicht wirklich. So kam es, dass sich der Chefredakteur im Produktionsraum der „elektronischen Zauberer“ mit einem gestickten Engelsbild hinter Glas einstellte. Es beschützte uns jahrelang: „Vertrau auf Gott / in jeder Noth“,stand da. Chorherr ist eben nach eigenem Bekunden ein „altmodischer Katholik“.

Nächsten Samstag:
Ein Hungerwinter 1945/46 steht bevor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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