Heute vor ... im November: Der Mensch als Affe - wo liegt der Skandal?

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Wildes Treiben der Börsenspekulanten an der Wall Street

Wie treibt man ein Eisenbahnunternehmen in den Ruin?

Neue Freie Presse 30.11.1865

Ein Correspondent der Times aus Newyork erzählt folgendes Börsengeschichtchen: In Wallstreet hatten sich mehrere Börsenspeculanten zusammengetan, um eine Eisenbahn-Unternehmung, die Milwaukee- und Prairie-du-Chien-Eisenbahn-Gesellschaft umzubringen. Auf der Newyorker Börse nennt man das „to bear“ (zu bären) und die Baisse-Speculanten „the bears“. Wie männiglich bekannt, besteht das Manöver der Baisse in dem Ausbieten jener Aktien, deren Wert man drücken will. Das taten auch die Newyorker „Bären“. Sie verkauften 60.000 Stück Aktien der genannten Gesellschaft, trotzdem dass im Ganzen nur 29.000 Stück existierten. Das heißt, sie verkauften auf Zeit. Die Haussepartei, „Bulls“ genannt, kaufte indes alle vorhandenen Aktien auf, und als die Lieferzeit herankam, da war auch nicht eine Aktie aufzutreiben. Denn die „bulls“ (Stiere) wollten um keinen Preis verkaufen. Die Aktien stiegen plötzlich von 110 auf 230 Dollars, obwohl die betreffende Eisenbahn-Gesellschaft niemals auch nur die kleinste Dividende ausgezahlt hatte. Einige der “bears“ glichen sich aus, andere fallierten. Im ganzen waren in dieser hitzigen Spekulation 13 Millionen Dollars engagiert, von welchen die „bears“ 10 Millionen als Verlust zu zahlen hatten.

Heute vor 125 Jahren: Tiefe Dekolletes dominieren die Reklame

Wir halten diese Bilder nicht für unanständig, aber spekulativ sind sie schon

Die Presse 29.11.1890

Nächster Tage wird im Handelsmuseum eine Ausstellung von Reclame-Mitteln eröffnet. Neben einer erklecklichen Zahl von Plakaten größeren und größten Formats sieht man auch kleine Affichen, die Schaufenster und Verkaufslokale zieren. Jener findige Witz, der sich aller nur denkbaren Behelfe der Phantasie bedient, um die Schaulust des Publicums anzuregen und zu dem recommandierten Artikel hinzuführen, jene mitunter überkühne Phantasie der Reclame-Virtuosen erregt nicht selten unser anerkennendes Staunen. Doch dem gegenüber, was hierin die Engländer und insbesondere die Yankees leisten, ist das Meiste bei uns kleinliches Stümperwerk. Die Ausführung ist jenseits des großen Wassers eine weit bestrickendere, zum Beispiel sieht man da häufig Mädchenfiguren, die ziemlich decolletiert sind und menschenlederne Tricots tragen, wie denn überhaupt die puritanischen Yankees in ihren Affichen, insbesondere für Tabakläden, also für Herrengeschäfte, eine ganz besondere Vorliebe für möglichst weitgehende Decolletierung zu haben scheinen. Man kann nicht gerade sagen, dass die Bilder unanständig seien, aber nach unserem Gefühl steckt in ihnen doch Speculation auf die Lüsternheit.  Dabei fällt auf, dass die Nordamerikaner, deren Mitbürgerinnen sich bekanntlich durch übergroße Schlankheit und ungenügende Fettpolsterung vor anderen Rassen auszeichnen, am dicklichen Gegensatz hiezu auf den Bildern besonderen Gefallen zu haben scheinen. Der anatomische Befund würde bei jeder dieser Figurinen „sehr wohl genährt“ verzeichnen. Da wir schon einmal auf diesem Thema neuangelsächsischer Tartufferie, die sich sogar im Annoncenwesen breit macht, angelangt sind, so sei noch eine Tabakladen-Affiche aus Philadelphia erwähnt, welche eine elegante und nudelsaubere junge Lady darstellt, die ihr Röckchen emporhebt und den Fuß bis zur halben Wade zeigt. Durch eine Drehung kann man sechserlei Fuß- und Wadenvarianten hervorrufen! Notabene ist dies nicht die Annonce für einen Schuhladen oder ein Strumpfwarengeschäft, sondern einen Tabakladen.

Görz: die Zerstörung einer österreichischen Stadt

Viele Tote unter den Trümmern der eingestürzten Häuser

Neue Freie Presse 28.11.1915

Über die furchtbaren Wirkungen der wiederholten Beschießungen von Görz werden noch Einzelheiten bekannt. Die meisten hervorragenderen Gebäude wurden entweder vernichtet oder schwer beschädigt. So verbrannten, durch Granaten in Brand gesteckt, die Realschule, das städtische Bad, die schönen alten Palazzi und das Hotel Post. Am 21. fiel um 1 Uhr nachmittag eine von einem Flieger geschleuderte Bombe auf das schöne Haus des bischöflichen Kollegiums und steckte es in Brand. Zerstört sind sämtliche Häuser der Piazza Grande, eine Granate fiel auf das Spital der barmherzigen Brüder. Wie viele Tote und Verwundete die Beschießungen bisher forderten, lässt sich kaum sagen, da zweifellos noch viele Tote unter den Trümmern der eingestürzten Häuser liegen. Die Beschädigungen des alten Doms sind schwere. Das darin befindliche Freskengemälde „Maria Verkündigung“ befindet sich an der Wand oberhalb des Altars im mittleren Kirchenschiff. Die Flucht der Einwohner aus der Stadt, in der das Leben fast ganz erloschen ist, dauert fort. Unterdessen nehmen die Kämpfe um die Görz vorgelagerten Höhen ihren ungeschwächten Fortgang. Sie werden von den Italienern immer wieder mit starken Kräften angegriffen, bisher ohne Erfolg. Über die wahren Gründe des Vandalismus, den das italienische Heer mit der Zerstörung von Görz begeht, hat der „Corriere della Sera“ eine Äußerung gemacht, welche die weiteste Aufmerksamkeit verdient. Die Beschießung ist dieser Angabe zufolge auch deshalb beschlossen worden, weil man erfahren habe, dass keine italienischen, „also irredentistisch gesinnten“ Einwohner sich mehr in Görz befinden, sondern nur Deutsche, Slawen und österreichische Italiener. Man beachte, dass das Mailänder Blatt nicht etwa bloß eine Vermutung ausdrückt, sondern mit außerordentlicher Aufrichtigkeit erzählt, wodurch man zur Beschießung der offenen Stadt bestimmt worden ist.

Warum sollte eine Frau Hosen tragen?

Pariserinnen lehnen Reformkleidung ab.

Neue Freie Presse 27.11.1890

„Mit dem Schwersten fängt man an“, so dachten wohl jene beherzten Missionarinnen, welche dieser Tage aus London nach Paris kamen, von ihrer Aufgabe ganz erfüllt, die in einer gründlichen Reform der Frauenkleidung gipfelt. Die Damen wurden von den emancipiertesten Mitgliedern der Pariser Damenwelt feierlichst empfangen, doch verhehlte man ihnen nicht, dass Paris kein guter Boden für einen erfolgreichen Beginn ihrer Tournee sei. Erstens ist die Pariserin zu kokett, um die neue, halbmännliche Kleidung anzulegen, und zweitens gestattet  es die Polizei nicht! Im ganzen weiten Frankreich besitzen nur zehn Frauen die behördliche Erlaubnis, Männerkleidung zu tragen. Zu diesen gehört auch Madame Rosa Bonheur, die weltberühmte Tiermalerin. Einige der Damen verdanken die polizeiliche Genehmigung zu einer so radicalen Änderung der üblichen Toilette einer ausgiebigen Bartzier, mit der sie die Natur bedacht, andere wieder haben entschieden männliche Beschäftigungen, wie jenes Mitglied der „Zehn“, das einer Setzerei vorsteht. Die Männerwelt revanchiert sich nur in bescheidener Weise für die zehn Überläuferinnen, denn ein einziger Franzose verlangte und erhielt in den letzten Jahren die Bewilligung, Frauengewandung anlegen zu dürfen.

Anm: Die Zeitung verulkt hier ein ernstes Thema. England und die USA waren seit 1880 Vorreiter von Kleiderreformbestrebungen, die deutsche Zeitung „Gartenlaube“ brachte seit Ende der 1880er Jahre ebenfalls regelmäßig kritische Anmerkungen zur herrschenden Damenmode. Man argumentierte zunehmend, dass die Frauenbekleidung den Gesundheitskriterien der Ärzte entsprechen sollte. Die Tendenz sollte in Richtung einer praktischeren und weniger bewegungshemmenden Frauenkleidung gehen.  Nach der Einengung durch das Korsett sollte nun Bewegungsfreiheit ermöglicht werden. Bereits 1851 rühmte die amerikanische Frauenrechtlerin Emely Blumers die vernünftigen, weil gesunden Hosen auch für die Frauen. Doch die Realisierung blieb Einzelkämpferinnen  vorbehalten, wie etwa der Pianistin und Ballonfahrerin Madame de Gass, und zwar nur – da hat der Zeitungsartikel Recht – mit Sondergenehmigung der Polizei.  Deutlich wurde: Die Hose, um die zunehmend fanatisch gekämpft wurde, symbolisierte nicht nur Vernunft und Gesundheit, sondern auch Gleichberechtigung mit dem männlichen Geschlecht. Welche Bedeutung die Mode des Fahrradfahrens in diesem Zusammenhang hat, wurde jüngst in der „Presse“ dargestellt. Mehr dazu: „Die Presse“ – Geschichte Band 2 „Was uns bewegt“

Der Mensch als Affe: Wo liegt der Skandal?

Über die neuen „heidnischen“ und „gotteslästerlichen“ Ansichten.

Die Presse am 26.11.1865

Der Rektor der Universität zu Graz hat sich neulich zu der Ansicht bekannt, welche den Menschen unmittelbar vom Affen abstammen macht. Darüber sind die clericalen Blätter in heftige Betrübnis geraten, haben mit Scharfsinn nachgewiesen, wie heidnisch, ketzerisch und gotteslästerlich diese Ansicht sei, wie sie die Familie erschüttere, die Gesellschaft zerstöre, den Staat vernichte, sie haben gemahnt, sich gegen so verruchte und gefährliche Irrlehren zu erheben. So schön dieser Eifer auch ist, so scheint er doch ziemlich überflüssig zu sein. Nehmen wir nun (bloß zum Scherze) an, die Natur wäre so vorgegangen, dass der Mensch nichts als das letzte Glied einer endlosen Reihe von Tieren, nicht als ein „entwickelter Affe“ sei. Nicht das Geringste würde sich ändern, der Mensch bliebe ganz derselbe, der er ist, mit denselbem Gesicht, Gang, Kräften, Gefühlen, Gedanken, und mit derselben Herrschaft über den Affen wie bisher. Das gibt ihm, dem Menschen, die starke Empfindung davon, dass er so, wie er jetzt ist, ein ganz eigen geartetes, auch von den verwandteren Geschöpfen sehr unterschiedenes Wesen ist, mag er es nun als fertiges Geschenk empfangen haben oder es aus einem niederen Zustand mühsam in Jahrzehntausenden herausgearbeitet haben. Oder sollte der gebildete Teil der Menschheit durch den Gedanken, vom Affen abzustammen, wirklich so tief entmutigt werden können, dass er, an der Möglichkeit verzagend, seine Bildung, welche ihm keineswegs als reife Frucht in den Schoß fiel, sondern die er sich schwer errungen hat, aufrecht zu erhalten und fortzuführen, seine Kunst und Wissenschaft aufgebe und sich zu dem Austral-Neger herabsinken ließe? Selbst wenn der Mensch seine Kräfte erst aus den Affen gesogen hätte, ungefähr so wie die Pflanze sie aus dem Erdboden saugt, würde er sie zuletzt nicht ebensogut derselben Schöpferkraft verdanken, als wenn sie ihn unmittelbar „aus einem Erdenkloß“ gebildet hätte? Stammt der Mensch deshalb weniger von dem ab, von welchem alles abstammt, weil dieser den Keim zu ihm in den Affen verborgen hat, wie der Ackersmann das Saatkorn in die Erde, statt ihn gleich vollendet an die Spitze der Schöpfung zu stellen? Wenn nun Gegenwart, Zukunft und schließlich auch Vergangenheit des Menschengeschlechts durch die Abstammung vom behenden Geschlecht der Affen nichts verlieren, so scheint mir eine Ansicht, welche diese Abstammung behauptet, den menschlichen Einrichtungen durchaus keinen Nachteil bringen zu können.

(Anm:  Charles Darwins Buch „The Descent of Man“ erschien 1871).

Das Dreiquellenprojekt soll Wien mit Wasser versorgen

Wien wird vom Schneeberg-Rax-Gebiet Wasser beziehen.

Neue Freie Presse am 25.11.1865

Nichts dient so sehr zur Charakteristik einer Stadt, als die Art und Weise, wie und in welcher Menge sie mit Wasser versehen ist. Sage mir, welches Wasser die Stadt besitzt, und ich will dir sagen, wie viel Kranke und Sterbende in ihr wohnen. Die Wasserfrage ist so recht die Lebensfrage großer Städte, und die meisten derselben haben sie bereits gelöst. Da, wo keine genügenden Leitungen existieren, steht gewiss die Wasserversorgung auf der Tagesordnung der Beratung. Gutes trinkbares Wasser herbeizuschaffen, ist daher keine leichte Sache, und wir wissen keine Stadt, die einen Wasserschatz in allernächster Nähe besäße. Gutes Trinkwasser muss immer aus der Ferne herbeigeholt werden, und ein frischer Trunk für eine Bevölkerung von Hunderttausenden kostet eben Millionen. … Der gegenwärtigen Wasserversorgungs-Commission des Gemeinderats blieb es vorbehalten, die so lange schwebende Frage zu einem gedeihlichen Abschluss zu bringen. Auf den Antrag dieser Commission hatte der Gemeinderat am 12. Juli 1864 den Beschluss gefasst, zur Versorgung der Residenz mit hinreichendem Trink- und Nutzwasser die drei Quellen: Kaiserbrunnen, Stixenstein- und Altaquelle herbeizuleiten. Ausgedehnte Untersuchungen, welche bereits im Jahr 1863 über alle zur Verfügung stehenden Quellen und Flüsse stattfanden, hatten es unzweifelhaft bewiesen, dass nur diese drei Quellen allen Bedingungen einer ersprießlichen Wasserversorgung entsprechen, indem nur sie die notwendig Wassermenge in der erforderlichen Höhe und in einer so vorzüglichen Qualität, wie kaum ein anderes auf der ganzen Erde, zu liefern vermögen. … Bei allen drei Quellenhäusern, den sogenannten Wasserschlössern beim Kaiserbrunnen, Stixenstein und Alta, finden wir ein wichtiges Princip vorherrschend, jenes nämlich, die Quellen so tief als möglich aufzufassen, um jeden Tropfen Wasser, welcher gewonnen werden kann, der Leitung zuzuführen. Dies wird dadurch erreicht, dass durch einen Schuber die Einströmung des Wassers reguliert wird. Ein an dem Wasserschlosse am Kaiserbrunnen aufgestellter Wächter, dessen Wohnung sich neben dem Quellenhaus befindet, überwacht den Wasserstand in dem Sammelbecken und lässt, je nach Bedarf, durch eine größere oder geringere Hebung des Schubers mehr oder weniger Wasser einströmen.

(Anm.: Wiens Wasserversorgung war vor 150 Jahren durch das Wachstum der Stadt zu einem Problem geworden. Die Brunnen in der Stadt reichten nicht mehr aus, außerdem war das Grundwasser durch das Fehlen einer Kanalisation verunreinigt, Wasser aus dem Donaukanal wurde gefiltert, wurde aber mit der Zeit ebenfalls zu einem Gesundheitsrisiko. Wien musste einer regelrechten Trinkwasserkrise Herr werden, eine Kommission wurde gebildet, der übrigens auch „Presse“-Gründer August Zang und der spätere Bürgermeister Cajetan Felder angehörten, Projekte wurden in Augenschein genommen und man gelangte bei der Suche nach brauchbaren Quellen immer weiter nach Süden, überprüfte die Flüsse Pitten, Schwarza, Fischa und Leitha auf der Suche nach qualitätsvollem Trinkwasser, bis man im Rax-Schneeberg-Gebiet fündig wurde. Die Wahl fiel auf den Kaiserbrunnen im Höllental, die Quellen von Stixenstein und die Alta-Quelle in Brunn bei Pitten. Maßgeblich bei der Expertise war der Geologe Eduard Suess, dessen Urteil Ausschlag gab, auch die Gesellschaft der Ärzte in Wien gab ein positives Gutachten ab, somit war „die ersprießliche Versorgung der Stadt mit Wasser“ durch eine Vereinigung dieser drei Quellen gesichert. Die Quellgebiete wurden von der Stadt Wien gekauft, der offizielle Baubeginn der „Kaiser Franz Josef-Hochquellenleitung“, heute Erste Wiener Hochquellenleitung genannt, war im April 1870, die feierliche Eröffnung war dann am 24.Oktober 1873 beim Hochstrahlbrunnen am Schwarzenbergplatz. Von dieser Leitung wird heute noch die Hälfte der Wasserversorgung Wiens ermöglicht.)

Autotaxichauffeure sind die wahren Herren der Straße 

Tricks mit den Taxametern sollte man ihnen nicht durchgehen lassen.

Neue Freie Presse am 24.11.1915

Zu den begehrtesten und unnahbarsten Persönlichkeiten im Pariser Straßenleben gehört jetzt der Taxameterchauffeur. Der Mangel an Verkehrsmitteln hat den Chauffeur der Mietautos zu einer Erscheinung von besonderer Bedeutung erhoben. Die Chauffeure sind die wahren Herren der Straße geworden. Sie legen die höchste Verachtung für alle jene an den Tag, die es wagen wollen, zu verlangen, dass der Taxameter in Ordnung sei und der städtische Tarif nicht überschritten werde. Unerschöpflich sind sie im Erfinden neuer Einrichtungen, die dem Publikum das Geld aus der Tasche ziehen. So halten sie sich von den Theatern und öffentlichen Lokalen fern,um die Freude des müden Wanderers, nach langem Suchen doch noch in einer Nebenstraße ein Auto erobert zu haben, in klingende Münze umzusetzen. Sie stellen die Taxameter ab und behaupten, dass sie verdorben seien. Sie weigern sich zu fahren, indem sie sich auf den Benzinmangel berufen und erklären sich erst bereit, wenn der Fahrgast den Preis verdoppelt hat. Doch irgendwann wird auch der Stern der Pariser Chauffeure verblassen, die die einzigen Leute in Frankreich waren, die noch nicht unter dem Krieg zu leiden hatten. Auch in Wien weiß man ein Lied von der Selbstherrlichkeit der Autotaxichauffeure – jetzt muss man wohl Mietkraftwagenlenker sagen – zu singen.

Braucht Österreichs Armee Hinterlader-Gewehre?

Die zuständige Kommission tagt und entscheidet nicht.

Neue Freie Presse am 23.11.1865

Versuche mit Hinterladungs-Gewehren. Vor Monaten haben wir schon berichtet, dass im Arsenal vor der Belvedere-Linie commissionelle Versuche mit Hinterladungs-Gewehren, den besten, welche bisher bekannt wurden, stattfinden. Diese Versuche lieferten ein günstiges Resultat, und ward in Folge dessen an maßgebender Stelle die Einführung der Hinterladungs-Gewehre in der Armee beschlossen. Der Beschluss würde auch schon durchgeführt worden sein, wenn es sich nicht um die Construction der Patrone handeln würde, welche mehrseitige, jedoch noch nicht endgültig entschiedene Projekte notwendig machte. Übrigens dürfte auch dieses letzte Experiment in kurzer Zeit dem gewünschten Ende zugeführt werden und der angestrebten Hinterladung kein weiteres Hindernis bezüglich der Einführung in der Armee im Wege stehen.

(Anm.: „Heute vor“ nähert sich Schritt für Schritt dem Jahr 1866, bekanntlich ein bedeutsames Datum in der österreichischen Geschichte: Der Konflikt zwischen Preußen, das die Vormachtstellung im Deutschen Bund erreichen wollte, und Österreich kulminierte am 3. Juli dieses Jahres in der Schlacht von Königgrätz, mit einem desaströsen Ausgang für die österreichische Armee. Über die Ursachen wird in den Jubiläumsartikeln des nächsten Jahres einiges zu lesen sein, doch wie ein vorausahnendes Wetterleuchten mutet die in der „Neuen Freien Presse“ (siehe Originaltext oben) angeführte Diskussion um die richtige Bewaffnung an. Feldzeugmeister Ludwig von Benedek hatte die Verantwortlichen bereits längere Zeit vor dem Juli 1866 vor der schleichenden Entwaffnung des Heeres durch Sparmaßnahmen gewarnt. In die lange Reihe der Versäumnisse, die dazu führten, dass die Schlacht bei Königgrätz bereits verloren war, bevor sie überhaupt begonnen hatte, zählte die Ausstattung der Soldaten mit modernen Gewehren. In der preußischen Armee war das Zündnadelgewehr bereits eingeführt, ein Hinterlader, der ohne Ladestock geladen werden konnte und damit den Soldaten ermöglichte, in liegender Stellung, also in Deckung, nachzuladen. Bei Vorderladern musste der Soldat aufstehen, bot also während des Ladens eine Zielscheibe. Der österreichische Generalstab hatte diesen Nachteil durchaus bemerkt und auf die Einführung des Zündnadelgewehres gedrängt. Schon 1850 lobte man die äußerste Zuverlässigkeit und die Schnelligkeit dieser Waffe, mit der theoretisch bis zu 12 Schüsse pro Minute möglich waren. Damals entstand ein geflügeltes Wort: „So schnell schießen die Preußen auch wieder nicht!“ Ein Hinweis darauf, wie sehr aus Ersparnisgründen die Umrüstung immer wieder aufgeschoben wurde, zuletzt eben 1865. Irgendwann in der zweiten Jahreshälfte 1866 sollte damit begonnen werden …. Als die Schlacht von Königgrätz begann, besaßen nur vier österreichische Bataillone und einige Eskadronen diese moderne Waffe. Übrigens: Auch der amerikanische Unabhängigkeitskrieg war noch mit Vorderladern geführt worden.)

Die fatale Vorliebe für Wunderärzte und Scharlatane

Der wissenschaftlich gebildete Arzt zählt im Vergleich – nichts.

Neue Freie Presse am 22.11.1890

Das geehrte Publikum, und darin gleicht das gebildete dem ungebildeten, das arme dem reichen ganz und gar, ist gegenüber dem Arzte und den Arzneien ganz eigentümlich unberechenbar, unbegreiflich. Der wissenschaftlich gebildete Arzt, das klinisch erprobte Heilmittel ist ihm, wie Bismarck so kräftig sagt: „Wurst“, aber von irgendeiner exotischen Kur und einem komischen Mittel, von irgendeinem Bader oder Pfarrer, einer Hebamme oder Bäuerin erzählt es ärztliche Wunder über Wunder. Welch große Anzahl von ärztlichen Wundermännern und Wunderfrauen habe ich seit Jahrzehnten in unserm lieben Wien lobpreisen und verhimmeln gehört; ganz abgesehen von den unterschiedlichen Magnetiseuren, Somnambulen und Medien! Da beehrt ein neapolitanischer Wundermann, der hochberühmte „Krebsdoctor“ Landolfi Wien. Der Mann hatte die Behauptung aufgestellt, jenes fürchterliche, schmerzensreiche Leiden, das die Blutquelle vergiftet und welches seit altersgrauer Zeit von allen denkenden Ärzten in der Regel für unheilbar erklärt wurde, ausnahmslos heilen zu können und die Welt – glaubte es ihm! Die Unglücklichen, welchen er seine teure „Ätzpasta“ applicirte, litten durch Tage, ja Wochen wahre Höllenqualen, und nach einigen Monaten wucherte der fort geätzte Krebs aufreibender, verheerender denn je nach. Man kann derzeit in Wien auch kein Haus betreten, wo man nicht Lob und Preis über die medizinisch-chirurgischen Wunderkuren des ehrwürdigen Pfarrers Kneipp hört. Er stellt die Behauptung auf: Das Wasser heilt alle heilbaren Krankheiten. Dafür sind wir nun gebildet und aufgeklärt geworden!

Ernst und Vergnügen, Lachen und Sterben – Leben in Kriegszeiten

Noch nie waren die Gegensätze schärfer als jetzt.

Neue Freie Presse am 21.11.1915

Grämliche Menschen tadeln das Bedürfnis nach Unterhaltung im Krieg. Schauspielhäuser und Konzerte sind stark besucht, die Läden in der Kärntnerstraße, auf dem Graben, auf dem Kohlmarkt und auf dem Ring werden vom Licht überflutet, die Auslagen haben dieselbe Anziehung wie im Frieden und die Spaziergänger zeigen bisher noch keine Neigung zu der dringend empfohlenen Einfachheit. Auch die Mode hat ihren Einfluss nicht verloren. Eine kurze Fahrt auf der Straßenbahn nach Ottakring, zu den am Wilhelminenberg sich hinaufziehenden Gassen oder jenseits der Donau nach Leopoldau wird sofort das strenge Gesicht des Krieges zeigen. Aber selbst dort, wo die Preise und vielleicht noch mehr deren rücksichtslose Ausnützung die Lebensverhältnisse erschweren und mancherlei Not hervorrufen, ist der Trieb, die Einförmigkeit zu mildern und das bedrückte Herz durch einige Freude zu erleichtern, nicht erloschen. Die Lichtspiele, die eine billige und leicht zugängliche Zerstreuung bieten, sind volkstümlich geblieben, und der natürliche Drang, sich gegenseitig auszusprechen und die Sorgen gemeinsam zu tragen, erklärt den Wunsch, die Feierabende nicht einsam zu verbringen. Wir müssen diese Erscheinungen hinnehmen als Teil der Schwäche, die uns nicht gestattet, in sechzehn Monaten beständig einem einzigen Gedanken nachzuhängen und in einem einzigen Gefühl aufzugehen. Die Gegensätze im öffentlichen Leben sind freilich schneidend: Die eleganten, mit Edelsteinen geschmückten und reich gekleideten Damen in den Fenstern der Kaffeehäuser und die Berichte von Schlachten, über die der Tod mit großer Sense einherschreitet, Plaudern und Lachen hier, Vergehen und Sterben dort.

In stockdunkler Nacht im Schützengraben

Ein Streifzug durch die Gräben und Tunnels an der Isonzofront.

Neue Freie Presse am 20.11.1915

Ich kann nicht behaupten, dass mir der Weg in die Schützengräben in stockdunkler Nacht gerade zutraulich gewesen wäre. Ohne sich den Luxus einer elektrischen Taschenlampe leisten zu dürfen, ging es durch den unvermeidlichen bodenlosen Kot, durch Granatlöcher und Tunnels, in denen erst ein wuchtiger Hieb auf den Kopf den weisen Schluss ziehen ließ, dass man sich bücken müsse, ging es über mancherlei abenteuerlich gestellte Leitern und Stufen hinauf und hinunter. Ein ganz anderes Bild bot sich mir am nächsten Tag. Es war sonnig und blauer Himmel. Ich machte also sofort einen Streifzug durch die Gräben. Da sind zunächst zwei Arten zu unterscheiden. Erstens der Schützengraben, welcher in der Feindesrichtung der vorderste und sorgfältig eingedeckt, das heißt überdacht ist. Hier befindet sich die Mannschaft bei ihren Schlafstellen fast wie in einer Kaserne. Und zweitens der Laufgraben, welcher mit dem Schützengraben parallel läuft und dem Verkehr dient. Als dritte Art kämen dann die Verbindungsgräben in Betracht, welche nach rückwärts führen. Die Deckungen in den Schützengräben sind schrapnellsicher und wasserdicht aus starken Balken und Brettern gebaut, sie haben zumeist gut schließende Türen, welche aus dem Gerät zusammengeschossener Wohnhäuser und Fabriken stammen, sind somit recht wohnlich ausgestattet. Die Liegestellen, man könnte sie auch recht gut Betten nennen, sind sauber, ab und zu sieht man ein Nachtkästchen, Wandspiegel und allerlei Bilder, die dem ästhetischen Bedürfnis der Mannschaft Rechnung tragen. Die Schießscharten, in denen das Gewehr schussbereit liegt, sind nach außenhin sorgfältig verkleidet wie das ganze Dach des Schützengrabens, das sich nur wenig über das allgemeine Bodenniveau erhebt.

Japan in Erwartung eines Thronerben

Geburt eines Mädchens würde nationale Trauer auslösen.

Neue Freie Presse am 19.11.1925

Siebzig Millionen Japaner denken nichts anderes und sprechen von nichts anderem als von einem freudigen Ereignis, das in den nächsten Wochen im Hause des Prinz-Regenten und seiner Gemahlin, der Prinzessin Nagako, erwartet wird. Wenn der neue Erdenbürger ein Knabe ist, dann wird er der 124. direkte Abkömmling der Sonnengöttin auf dem kaiserlichen Throne sein; denn nach dem Glauben der Japaner wurde die kaiserliche Familie 660 v. Chr. von dem ersten Kaiser Dschimmu Tenno begründet. Schon seit einigen Monaten gehen Andeutungen von einem nahen „glücklichen Ereignis im Kaiserhaus“ durch die japanische Presse. Dabei wagt sich nicht der leiseste Zweifel hervor, dass der herbeigewünschte Zuwachs der kaiserlichen Familie am Ende nicht ein Prinz wäre. „Er“ ist das einzige Fürwort, das man im Zusammenhang mit dem Erwarteten gebraucht. Der unerschütterliche Glaube an die Geburt eines Thronerben im großen grauen Palast, der Tokio überschaut, ist in dem sehnlichen Wunsch verwurzelt, möglichst frühzeitig darüber versichert zu sein, dass die Thronfolge sich in gerader Linie fortsetze. Und jedes Vorzeichen, nach dem ängstlich ausgeschaut wird, befestigt diesen Glauben. Man fühlt sich also in Japan in der Erwartung auf den männlichen Thronerben so sicher, dass die allgemeine Enttäuschung einer nationalen Trauer gleichkommen würde, falls sich diese Hoffnung nicht verwirklichen, statt des ersehnten Prinzen eine Prinzessin das Licht der japanischen Sonne erblicken sollte.

(Anm.: Die Erwartung des japanischen Volkes richtete sich auf das erste Kind des Kronprinzen Hirohito, der in Vertretung seines kranken Vaters Yosihito 1925 bereits seit vier Jahren das Land regierte. Am 26. Januar 1924 hatte er seine Cousine Nagako geheiratet, den Titel Kaiser und Kaiserin trug das Paar erst ab 1926. Die Schwangerschaft Nagakos, die am 15. April 1925 bekanntgegeben worden war, wurde ein öffentliches Ereignis. Das gesamte Volk fieberte dem angekündigten Geburtstermin (26. November) entgegen, Radiosender bereiteten sich auf die Verkündigung des Ereignisses vor, eine Militärkapelle stand rund um die Uhr bereit, im Fall des Ereignisses die Nationalhymne zu spielen. Mütter, die ihren Geburtstermin an demselben Tag wie die Prinzessin hatten, sollten belohnt und gefeiert werden. Natürlich rechnete jeder mit einem männlichen Thronfolger. Doch in dieser Hinsicht musste sich das japanische Volk gedulden: Am 6. Dezember 1925 kam Prinzessin Teru auf die Welt, rund zwei Jahre später Prinzessin Hisa, die früh starb, gefolgt von Prinzessin Taka und Prinzessin Yori. Erst 1933 wurde ein männlicher Kronprinz geboren, Akihito.)

Korruption? Hat es bei uns immer schon gegeben

Es gab noch keine Journale, die alles an die große Glocke hingen.

Neue Freie Presse am 18.11.1865 

In den Augen hyperstrenger Sittenrichter gilt das gegenwärtige Zeitalter als der Inbegriff aller Laster, Ausschweifungen und Verbrechen, während sie die „guten alten Zeiten“ in dem noch unbefleckten Kleide kindlicher Unschuld einhergehen lassen. Nur in der Vergangenheit lebt noch Ehrenhaftigkeit, Treue, Glauben, Wahrhaftigkeit. Unsere Zeit dagegen, mit der sogenannten Cultur und Verfeinerung, ist nach ihrer Ansicht nur auf den Umsturz aller Zucht und Ordnung gerichtet. Unser Zeitalter, heißt es, sei bereits am äußersten Rande der Schlechtigkeit und Verworfenheit angelangt. Nur ein Schritt weiter – und der Untergang dieser sündhaften Welt ist entschieden. Wenn heutzutage irgendein obscurer Kassebeamter bei großer Arbeit, aber geringem Lohne einige Hunderter aus der öffentlichen Geldkiste nimmt und für sich verwendet, dann wird gleich die gesamte menschliche Gesellschaft mit all ihrer Bildung in den Anklagestand versetzt; ein solches Vergehen wird gleich einer ganzen Generation zur Last gelegt. Doch greifen wir zurück in die Vergangenheit: Endlos ist die Reihe der Fälle, wo öffentliche Cassiere sich direkt an den Staatsgeldern versündigten. Allerdings traten diese Erscheinungen nicht unter solchem Lärm zutage wie jetzt. Es gab noch keine Journale, welche die unterschlagenen und gestohlenen Millionen sofort an die große Glocke hingen, wie es jetzt geschieht.

Glänzende Uraufführung „Die Csardasfürstin“

Emmerich Kalman hat für das Wiener Johann-Strauß-Theater eine neue Operette abgeliefert.

Neue Freie Presse am 17.11.1915

Die Csardasfürstin ist eine Brettlsängerin, Sylva Barescu mit Namen. Das mit zahlreichen körperlichen und seelischen Reizen ausgestattete Mädchen ist Gegenstand allgemeiner Liebe und Verehrung seitens sämtlicher Besucher eines Budapester Vergnügungsetablissements; und Gegenstand spezieller Liebe und Vergötterung seitens eines Fürstensohnes. …. Wir müssen sagen, dass wir schon lange keinen besseren Operettenakt gesehen haben als diesen 1. Akt. Es geht etwas vor auf der Bühne, die meisten Personen sind menschlicher als sonst die im Schema erstarrten Operettenfiguren zu sein pflegen. Man könnte vielleicht nur nebenbei bemerken, dass Idee und Durchführung des Stückes zu wenig lustspielmäßig sind. Das Antupfen sozialer Gegensätze und psychischer Probleme geschieht mit viel zu redlichem Ernst, doch im dritten Akt lacht man wieder über das unwiderstehliche Vordringen der lieben, guten Operettenschablone. Kalmans Musik trägt das Stück besonders dort, wo es Anwandlungen von Schwäche zeigt. Zwar ist dem ungarischen Komponisten diesmal kein stürmischer Walzer gelungen, doch dafür bietet er eine Reihe sorgfältig gearbeiteter Nummern, von denen sich einige mit leichtwiegender Gefälligkeit ins Ohr schmeicheln. Die vorherrschend elegische Stimmung ungarischer Nationalmusik ist mit gutem Bedacht dem lustigeren und luftigeren Musikmachen nach neuerer Wiener Art gegenübergestellt. Kalmans ungarische Musik ist nicht gekünstelt, scheint manchmal verständnisvoll der echten Zigeunermusik abgelauscht. Wir halten Kalman für einen der wirklich Begabten unter den neueren Operettenkoryphäen. Allen seinen Nummern ist künftige Popularität zuzutrauen; und den Gesamteindruck der neuen Operette fördert die glänzende Aufführung im Johann-Strauß-Theater.

Welch ein Schauspieler! Winston Churchill geht

Das Blut an den Dardanellen klebt an seinen Händen.

Neue Freie Presse am 16.11.1915

Der Abschied Winston Churchills. Auch Churchill könnte wie Nero von sich sagen, welch ein Schauspieler geht mit mir zugrunde! Er ist Minister geblieben, trotzdem man ihm die Marine wegnahm und ihn auf ein Nebengeleise schob. ER ist Minister geblieben, als der Ärger über das Scheitern der Aktion an den Dardanellen durch ganz England ging, und er blieb auf seinem Platze, als Premier Asquith der tiefen Enttäuschung Ausdruck gab über einen Misserfolg, der England einen glänzenden Erfolg aus den Händen riss. Erst jetzt zieht er sich zurück, „für seinen Ruhm zu spät“, wie Grillparzer von Metternich gesagt hat, und seine Abschiedsgebärde ist echter Churchill, leichtfertig, verwegen und mit rednerischem Glanz und Flitter durchsetzt. Das Blut von Antwerpen und von den Dardanellen klebt an den Händen Churchills, und wenn er jetzt mit dreister Gebärde die Schuld auf die militärischen Sachverständigen schiebt, so ist das kaum etwas anderes, als der Ausdruck der Ärger eines verwöhnten Glückskindes, das sich plötzlich dem vollen Ernst des Schicksals gegenübersieht. Churchills Abschied ist abstoßend und zeigt das Unverbesserliche dieses verdorbenen Talentes.

Tausende Waggons mit Winterausstattung für die Soldaten

Pelzwesten, Wollwäsche, Wadenstutzen und Muffen für die Fußtruppen.

Neue Freie Presse am 15.11.1915

Die Ausrüstung unserer Soldaten mit Kälteschutzmitteln wurde vom Armeeoberkommando im Einvernehmen mit dem k.u.k. Kriegsministerium in diesem Jahre schon frühzeitig eingeleitet. Außerordentlich große Mengen mussten in Bewegung gesetzt werden, mehrere tausend Waggons waren notwendig, um die bereitgestellten Mengen in die Armeebereiche zu bringen, und große Kolonnen von Autos und Fuhrwerken verfrachteten die vorsorglich beschafften Kälteschutzmittel zu den Truppen. Die Ausgabe wurde in zwei Gruppen geteilt; die eine Gruppe umfasste die Wollwäsche, Wollhandschuhe, Leibbinden, Untermäntel und Decken und war bei den Truppen an der Südwestfront bereits Ende September, bei den übrigen Truppen bis Mitte Oktober vollkommen verteilt, die andere Gruppe besteht aus den Pelzwesten oder gestrickten Westen, Pulswärmern, Schneehauben oder Baschliks für jeden Mann, Wadenstutzen, Überschuhen und Muffen für Fußtruppen, dann Kniewärmern, Fußwärmern und Pelzfäustlingen für Reiter, endlich auch Schneemänteln für die Kampftruppen. Diese Sorten sind bei den Truppen der Südwestfront bereits ausgegeben worden, bei allen übrigen Armeen im Armeebereich eingetroffen und in Ausgabe begriffen. So wie im Vorjahre werden auch heuer die Truppen in ihren Stellungen mit den so bewährten Schwarmöfen versehen werden. Als besondere Wintervorsorge wurden für die Truppen in den unwirtlichen Höhenstellungen der Südwestfront zwei bis drei Decken per Mann ausgegeben, für Wachposten, Chauffeure und Flieger warme Pelze verteilt und in allen Armeebereichen Strohmatten und Strohüberschuhe erzeugt. Diese sollen unsere braven Kämpfer bei dem Aufenthalt in den Schützengräben und in den Unterständen vor dem Einfluss der Bodenkälte schützen.

Tanzvorführung der Schwestern Wiesenthal in der Urania

Neue Tänze als Augenweide für das Publikum.

Neue Freie Presse am 14.11.1915

Die Schwestern Wiesenthal erschienen heute im Rahmen der „Urania“ vor dem Wiener Publikum, neue Tänze bietend und eine kleine Schar von Jüngerinnen vorstellend. Es war ein lehrhafter und genussreicher Abend. Elsa und Berta Wiesenthal gaben neben der Augenweide ihrer eigenen Kunst interessanten Einblick in das Werden und Wachsen ihrer Tanzdichtungen. Wir sehen, wie sich die Tänze aus der Musik, die sie nachzeichnen, gleichsam von selbst aufbauen und begreifen, wie gleichsam von selbst aus dem Rhythmus der Töne der Rhythmus des Körpers entquillt. In den Darbietungen der Schwestern sind Farbe, Ton, Bewegung zu so stimmungsvoller Einheit verbunden, dass sich niemand der außerordentlichen Wirkung dieser Kunst entziehen kann.  Ob sie nun im „kleinen Walzer“ von Carreno schwebend, wie von aller Schwere befreit, auf der Bühne erscheinen oder „alte Weisen“ von Fritz Kreisler zu kleinen Szenen erweitern, die Polka Mazurka „Frauenherz“ von Josef Strauß durch Teilung des Raumes, in dem die Paare kommen und schwinden, gleichsam dramatisieren, immer ist man von dem Gefühl einer echten und ganz persönlichen Kunst bestrickt.

(Anm.: Um 1900 begann der moderne Tanz in Wien Fuß zu fassen, durch die 1885 geborene Grete Wiesenthal entwickelte sich die Stadt zu einem Tanzzentrum. Auffällig ist, dass in dem Artikel nicht von Grete, der berühmten Tänzerin, sondern nur von ihren Schwestern Elsa und Berta die Rede ist. Das lässt sich erklären. Die Hietzinger Großbürgerfamilie Wiesenthal, in der Musik und Kultur ein Lebenselement war,  hatte sieben Kinder, darunter die Mädchen Grete, Elsa, Gertrud, Hilde, Berta und Marta. Grete und Elsa wurden ab 1893 Ballettelevinnen am k.u.k. Hofoperntheater. Grete machte Karriere als Solotänzerin, verachtete bald den uninspirierten, empfindungslosen, alles Neue ablehnenden Tanzunterricht und wandte sich vom „eingefrorenen“ Ballett der Jahrhundertwende ab. Sie begann gemeinsam mit ihren Schwestern eine eigene Art von Tanzstil zu entwickeln und präsentierten ihn in privaten Aufführungen. 1907 schieden die Schwestern aus der Hofoper aus und widmeten sich nur mehr ihrem eigenen Stil. Grete erlangte nach einem Auftritt im „Wintergarden“ in New York internationale Berühmtheit und gründete 1919 eine eigene Tanzschule auf der Hohen Warte in Wien, wo sie mit Toni Birkmeyer zusammenarbeitete. Ziel ihres Stils ist es, eine Einheit von Musik und Tanz zu erreichen, Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen, Tanz soll Ausdruck seelischen und musikalischen Erlebens sein. Maßgebend sind einheitliche Linie, weiche und abgerundete Bewegungen, der Intuition gehorchend. 1910 kam es zur Trennung der Schwestern, Grete tanzte alleine weiter, Berta und Elsa blieben zusammen und eröffneten mit ihrer Schwester Marta eine eigene Tanzschule. Auftritte in Wien hatten sie, wie im Text dargestellt, in der Urania, auch in der Volksoper. Bald urteilte die Kritik: Elsa und Berta waren begabte Tänzerinnen, doch nur Grete trug die Anlagen zu einer genialen Künstlerin in sich. Jedenfalls wurde Grete noch erfolgreicher, sie habe, wird sie gerühmt, als „Walzerkönigin“ die damalige Wiener Mentalität in Tanzform gebracht. Im Lauf des 20. Jahrhunderts geriet sie dann in Vergessenheit, doch heute wird der Wiesenthal-Stil als ein Fach im Rahmen der Ballettausbildung wieder unterrichtet.)

Die junge Republik Österreich feiert Nationalfeiertag

Hoffen auf ein Heraufkommen besserer Zeiten.

Neue Freie Presse am 13.11.1925  Geburtstag

Bundespräsident Dr. Hainisch hat am Nationalfeiertag die nachstehende Ansprache durch das Radio gehalten: „Wir feiern heute den Geburtstag unserer Republik. Die Form unserer Verfassung hat die erdrückende Mehrheit unserer Staatsbürger selbst bestimmt. Die Grenzen unseres Staates aber sind eine Folge des Friedensschlusses. In diesem wurde auf die Wünsche der Bevölkerung keine Rücksicht genommen. Diese neuen Grenzen sind vielfach geographisch ungünstig gezogen. Sie stellen auch schwere Hindernisse für die Entwicklung der Wirtschaft dar. Trotzdem bieten sie gegenüber früheren Zeiten den Vorteil, dass sie eine national einheitliche Bevölkerung umschließen. Dadurch bleiben uns fruchtlose und aufreibende nationale Kämpfe im Inneren erspart. In diesem unserem Staate ist es unsere Pflicht, mit den einmal gegebenen Verhältnissen zu rechnen. Wir müssen durch Einigkeit, Fließ und Sparsamkeit das möglichste leisten und das Heraufkommen besserer Zeiten abwarten. Wenn der jetzt glücklicherweise in Europa und in der ganzen Welt sich vorbereitende Umschwung der Meinungen weiterhin Fortschritte macht, so können diese besseren Zeiten nicht mehr allzufern sein.“

Wertvolles Deckengemälde durch Fliegerangriff auf Venedig zerstört

Heftige Polemiken rund um die Kulturgütervernichtung.

Neue Freie Presse am 12.11.1915

Die italienische Presse und die dortigen Hüter der alten Kunst überbieten sich in Empörungsausbrüchen wegen der Beschädigung des Deckengemäldes von Tiepolo in der Chesa degli Scalzi bei dem letzten Luftangriff unserer Flieger auf Venedig. Wie sonderbar mutet aber diese Empörung der Italiener unsereinen an, der so viel Gelegenheit hatte, im Verlaufe dieses Feldzuges jene sinnlosen, barbarischen, absichtlich und vorbedacht ausgeführten Verwüstungen und Verheerungen zu sehen, welche die Herzensbrüder der Italiener, die russischen Horden, bei ihren siegreichen Vormärschen und noch mehr bei ihren furchtbaren Raub- und Rückzügen durch das arme Galizien und Polen als unverwischbare Spuren ihres asiatischen Vernichtungstriebes zurückgelassen haben. Die Italiener erheben ein Jammergeschrei wegen eines einzigen Gemäldes, sie die tausend bilderreiche Museen und Kirchen, als Überlieferung des jüngst für sie vergangenen, edlen, feinfühligen Zeitalters in ihrem geistig und kulturell verkommenen Lande besitzen, was sollen aber die Polen sagen zu der jammervollen, beispiellosen Vernichtung tausender und aber tausender Gegenstände des Landes zugunsten russischer Museen.

Triest ist und bleibt eine österreichische Stadt

Die Hafenstadt ist schwarz-gelb, das fremde „Gesindel“ verschwunden.

Neue Freie Presse 11.11.1915

Keine Stadt Europas, die nicht gerade mitten im Schussfeld lag, hat eine so große Veränderung durch den Krieg gemacht als Triest. Der völlige Stillstand von Handel und Verkehr seit 14 Monaten in einer Hafenstadt, die zu den bedeutendsten Europas zählt, muss schon an und für sich tiefgehende Änderungen mit sich bringen. Aber neben dieser schmerzlichen Metamorphose hat Triest auf politischem Gebiet eine recht erfreuliche Zeit hinter sich. Wie ein Mann, der, vom Schicksal in die Fremde geführt, nach jahrelangen Stürmen endlich durch den Weltkrieg wieder den Weg und damit die Liebe zum angestammten Vaterland findet, so ist auch Triest sich in dieser ernsten Kriegszeit bewusst geworden, keine slowenische und keine italienische, sondern einfach eine österreichische Stadt zu sein. Und das ist gut und recht. Auf lange Jahre nationaler Streitigkeiten ist eine Epoche wohltätiger Ruhe gefolgt. Triest fühlt sich wieder, wie man hier sagt, schwarz-gelb. Das lärmende, stets unzufriedene Gesindel hat seit dem Ausbruch des Krieges gegen Italien teils freiwillig, teils unfreiwillig die Stadt geräumt, und Triest gehört jetzt endlich wieder statt landfremdem oder im Solde der Fremden stehendem Pöbel den Triestinern. Würde der Westwind nicht den fernen Kanonendonner vom Karst herüberbringen, so könnte sich Triest, das durch seine eigenartige geographische Lage zwischen den Bergen und der See eine gewisse lokale Isolierung genießt, fast einer idyllischen Ruhe erfreuen.

Österreicher geben mehr als 4 Milliarden für den Krieg

Dritte Kriegsanleihe: Auch Ärmere geben ihre kleinen Ersparnisse her.

Neue Freie Presse am 10.11.1915

Amtliche Mitteilung: „Die Zeichnungen auf die dritte österreichische Kriegsanleihe haben bisher den Betrag von 4015 Millionen Kronen erreicht.“ Das ist ein großer finanzieller Sieg, und die nie erlebte und nie geahnte Ziffer wird einen starken Nachhall haben. Die Verlockung lässt nicht los, tastend herauszuspüren, woher sie kommen mögen. Das Ereignis des Aufbaues so riesiger Summen in kurzer Zeit zu einem einzigen Zwecke ist neu wie der Krieg selbst. Wer hat gezeichnet? Die vier Milliarden sind ein Teil des allgemeinen Volksvermögens in Österreich. Von unserem Lande müssen wir jedoch die Gebiete abziehen, die unter der Fremdherrschaft gelitten haben oder in unmittelbarer Nähe der jetzigen Kampfschauplätze sind. Die vier Milliarden sind von einer Bevölkerung aufgebracht worden, die etwa achtzehn oder neunzehn Millionen zählt. Auch Dürftigere haben durch ihre kleinen Ersparnisse zu den vier Milliarden beigetragen, hochragende Felsen entstehen durch winzige Kalkmuscheln. Aber die Zahl der Zeichner wird durch nur eine Auslese von einigen Millionen aus der gesamten Bevölkerung sein. Dann erst beginnt das Staunen, wie aus einem solchen Ausschnitte des Volkes die märchenhaften Schätze, der Reichtum, der uns die Sorge um die Deckung der Kriegskosten durch viele Monate erleichtert, geschöpft werden konnte.

(Anm.: „Österreich kämpft mit einer Welt, / Und zum Krieg gehört auch – Geld!“ dichtete man in Österreich-Ungarn. Es gab nur zwei Alternativen: Der Staat musste zur Finanzierung des Kriegs die Steuern drastisch anheben oder sich mithilfe von Anleihen Geld borgen. Die Kriegsanleihen waren formal verzinsliche Wertpapiere, die einen Kredit an staatliche Institutionen zum Inhalt hatten. Die Tilgung hängt unausgesprochen vom Ausgang und Erfolg des Kriegs ab, verkürzt gesagt: das waren Wetten auf den Sieg der eigenen Streitkräfte. Finanzfachleute waren zunächst gegen einen Weltkrieg auf Pump, weil man jene inflationäre Wirkung befürchtete, die ja auch eintrat, im Lauf der Jahre 1914 bis 1918 wurde die Krone immer weniger wert. Bereits im November 1914 wurde die erste Kriegsanleihe aufgelegt (mit einer Tilgung bis 1. April 1920), die 2,2 Milliarden Kronen, die hereinkamen, waren bald verbraucht, so folgten im Mai und Oktober 1915 die 2. und die 3. Kriegsanleihe. Bis zur letzten, der 8. Anleihe von Juni 1918, die eigentlich nur mehr den Übergang zum Frieden finanzieren helfen sollte, kamen in Österreich und Ungarn insgesamt 53,72 Milliarden Kronen zusammen. Die Krone hatte in den letzten beiden Kriegsjahren wie gesagt bereits eine geringere Kaufkraft. Ob und wie das Geborgte dann einmal zurückgezahlt werden konnte, stand in den Sternen. Die Hoffnung, dass nach einem Sieg die Kriegsgegner in Form von Reparationen die Rückzahlung finanzieren würden, war natürlich da. Zeitungen wie die „Neue Freie Presse“ hatten einen wesentlichen Anteil an der Bewerbung der Kriegsanleihen, es erschienen hunderte Artikel und tausende Inserate in der Presse, es hieß oft „Beste Verzinsung bei größter Sicherheit.“ Dienstmädchen und Stubenmädchen wurden als Testimonials zitiert, um bei ihren Berufsgruppen Werbung zu machen. Immer wieder heben die Zeitungen den patriotischen Opfermut der „kleinen Sparer“ und des Mittelstands hervor, mit der Mindestsumme von 25 Kronen war man ja schon dabei, so plünderten auch Kinder ihre Sparschweine. Bankgeheimnis gab es bei Kriegsanleihen keines: Die Namen derer, die höhere Beträge zeichneten, wurden in den Zeitungen veröffentlicht. Vor allem die Mitglieder des Herrscherhauses wurden besonders hervorgehoben. Manchmal ging es auch nicht ganz freiwillig zu, etwa wenn öffentliche Bedienstete einen Gehaltsbestandteil in Form von Kriegsanleihen ausbezahlt bekamen, auch Kriegslieferanten mussten nolens volens mit Anleihen als Zahlung vorliebnehmen. Ab 1917 hieß es dann „Die Kriegsanleihe verlängert den Krieg“, da ließ die Begeisterung bei den Nationalitäten der Monarchie, bei den Tschechen oder Ungarn etwa, deutlich nach. Auch die Sozialdemokratie ging ab der sechsten Anleihe auf Distanz. Finanziert wurden die Kriegsfolgen aber auch durch die rege Spendentätigkeit der Bevölkerung für karitative Einrichtungen. Das dritte Instrument war die Notenpresse; Es gab umfangreiche Kreditgewährungen an den Staat, die Geldmenge stieg an, das Preisniveau stieg dadurch. Als der Kriegs dann verlorenging, konnte man sich nicht an den Kriegsgegnern schadlos halten, vielmehr legten diese die Reparationen den Besiegten auf. Die Hoffnung auf Rückzahlung der riesigen Schulden war dahin, tatsächlich wurden sie in der Hyperinflation von 1923 total entwertet.)

Freiherr von Vogelsang nach Autounfall gestorben

Vom Versuch, die Arbeiter ins klerikale Lager zu führen.

Neue Freie Presse am 9.11.1890

Karl Freiherr v. Vogelsang, der Leiter des „Vaterland“, ist nach kurzem Leiden an den Folgen des Unfalles, der ihn jüngst getroffen, heute Morgens gestorben. Der Spross einer alten sächsischen Adelsfamilie, der nach Österreich übersiedelte, gehörte zu jener Gruppe deutscher Emigranten, die, kaum im neuen Adoptiv-Vaterland warm geworden, die Österreicher den wahren Patriotismus lehren wollten und sich als die eifrigsten Vorkämpfer der Reaktion und des Feudalismus aufspielten. Baron Vogelsang, von Geburt Protestant, war gleichzeitig ein feuereifriger Convertit, der mit aller Energie für den ultramontanen Gedanken eintrat. Als er sich als Kämpfer gegen jegliche liberale Idee in der Journalistik eingeführt hatte, wurde er von den Patronen des clerical-feudalen „Vaterland“ zur Leitung dieses Blattes berufen. Volle zwanzig Jahre lang hat er mitgeholfen, jene Zustände zu fördern, an denen heute Österreich krankt. Die große Agitation, welche von clericaler Seite unter der Ägide des Fürsten Alois Liechtenstein begonnen wurde, um die Arbeiter ins clericale Lager zu führen, und die, trotz aller Umschmeichelung der Arbeiter, mit einem gründlichen Fiasko der clericalen Agitatoren endigte, war mit ein Werk des Freiherrn v. Vogelsang, der auch mit der antisemitischen Bewegung in Fühlung trat, um sie dem Clericalismus dienstbar zu machen. Als er im December 1888 seinen 70. Geburtstag feierte, gab es Ovationen von Seite der gesamten anti-liberalen Liga. Am 28. V. M., Abends, war Baron Vogelsang von einem schweren Unfalle betroffen worden. Auf dem Burgring wurde er von einem Geschäftswagen niedergestoßen. Heute in den Morgenstunden verfiel Baron Vogelsang in Agonie und starb um halb 7 Uhr früh.

(Anmerkung: Vom Grundsatz „De mortuis nil nisi bene“ hält die „Neue Freie Presse“ nicht viel. Wenn sie verachtet und hasst, tut sie das auch in Nachrufen, wie im Fall des geistigen Vaters der katholischen Soziallehre, Karl von Vogelsang. Die Abneigung war übrigens durchaus wechselseitig: Vogelsang setzte die „Neue Freie Presse“ einmal mit „atheistischen Agitatoren der radikalen Linken“ gleich. Die Polemik mutet merkwürdig an, stand doch Vogelsang mit seinem Antikapitalismus in einer „gefährlichen“ Nähe zum Marxismus, wenn er in seiner „Österreichischen Monatsschrift“ schrieb: „Nach dem System des Kapitalismus findet die Produktion nicht statt, um dem Produzenten den Erwerb seines ausreichenden Lebensunterhaltes und dem Konsumenten die nötigen Güter zu verschaffen, sondern die Schaffung von Reichtümern ist ihr einziges Endziel. In der Konsequenz dieses Systems liegt die Ansammlung von Reichtümern, also Machtmitteln, in den Händen weniger und folglich die Herrschaft des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Stärkeren über den Schwächeren. Das System des Kapitalismus wäre nicht möglich ohne die Grundlage einer materialistischen Weltanschauung, und deshalb steht der Kapitalismus im entschiedensten Gegensatz zum Christentum.“ Im Gegensatz zu seinem gleichaltrigen Zeitgenossen Karl Marx sucht Vogelsang eine Lösung aber nicht in revolutionären, sondern in evolutionären Kategorien. So fasst er 1883 erstmals die Grundlagen seiner katholischen Sozialpolitik zusammen: Sie enthält Maßnahmen zur Erhaltung der bäuerlichen Existenzform, zum Schutz des Handwerks und einer genossenschaftlichen Organisation der Industrie, seine Thesen haben bestimmenden Einfluss auf die Sozialreformen der folgenden Jahre. Ungeachtet der politisch-ideologischen Differenzen (Vogelsang vertritt auch einen handfesten Antisemitismus), findet der katholische Sozialreformer auch außerhalb seines eigenen Lagers Anerkennung. So schreibt Viktor Adler in der „Arbeiter Zeitung“ nach Vogelsangs Tod: „Vogelsang war unser politischer Gegner. Wir haben ihn jederzeit politisch bekämpft. Niemals aber haben wir ihm die Anerkennung versagen können, dass er ein Mann von großer Bildung, umfassendem Wissen, ein Denker von wirklicher echter Originalität war.“ Der politische Gegner findet also positivere Worte als die liberale Zeitung. Heute wird die Erinnerung an ihn wachgehalten durch das Karl von Vogelsang-Institut, nach Eigendefinition ein „Institut zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich.“)

Die erste Handelsschule Wiens feiert Jubiläum

Vom Versuch, die Arbeiter ins klerikale Lager zu führen.

Neue Freie Presse am 8.11.1915

In diesen Tagen, da die Wiener Technische Hochschule ihre Zentenarfeier begeht, sollte es von Interesse sein, daran zu erinnern, dass nicht nur die technische, dass auch die kaufmännische Berufsausbildung im laufenden Jahr ein Jubiläumdatum verzeichnen kann. Genau fünfzig Jahre vor der Gründung des Polytechnikums, also 1765, wurde in Wien der erste Versuch gemacht, eine Schule zu schaffen, die als eine Art Handelslehranstalt angesehen werden kann. Das Verdienst, die Notwendigkeit und Wichtigkeit einer besonderen fachlichen Vorbildung, auch für die kommerziellen Berufe, vor anderthalb Jahrhunderten zuerst erkannt zu haben, gebührt den Piaristen, die ja auch sonst unermüdlich und erfolgreich für das Bildungs- und Erziehungswesen in Österreich tätig waren. Es lag in ihrem Schulsystem, mit dem ausschließlich Humanistischen zu brechen und dem Unterricht einige Fächer für die Praxis des Alltages und für das künftige Erwerbsleben der jungen Leute einzufügen. … Im Jahr 1765 ging das Haus der ehemaligen Juristenschule in der Schulerstraße in den Besitz des Ordens der Piaristen über und dort errichteten sie eine Art Fortbildungsschule, unter deren Lehrgegenständen sich neben der „Geometrie“ auch die „Schönschreibekunst“, ferner die „Cameralbuchhaltung“, die „doppelte Buchhaltung“, die „Wechselkunde“ und die „Wechselrechenkunst“ vorfinden, somit einige Hauptfächer des heute hochentwickelten Handelsschulunterrichts.

Der lächerliche Mystizismus der russischen Zaren

Nikolaus II. hat eine Vorliebe für religiösen Humbug.

Neue Freie Presse am 7.11.1915

Bedenkt man, dass der Kaiser von Russland zugleich Oberhaupt der russischen Kirche ist und von seinen Untertanen als Statthalter Christi verehrt wird , so muss es umso auffallender erscheinen, dass dieser großmächtige Herr vor allen wichtigen Entschließungen einen niedrigen Mönchen oder geringen Bauersmann befragt, die armen Teufel also in überirdischen Dingen für besser unterrichtet hält als sich selbst, die kaiserliche Majestät und Heiligkeit. Es ist gerade, wie wenn sich der unfehlbare Papst des Vatikans in Angelegenheiten der katholischen Kirche bei einer Kartenaufschlägerin Rat holte. Nikolaus II. ist übrigens nicht der erste Zar, der auf solchen Schleichwegen die Pläne der Vorsehung zu erlauschen trachtet. Der Mystizismus - in diesem Fall ein wohlklingendes Deckwort für Aberglaube – gehört in dieser Herrscherfamilie zu den Erbstücken……Am Hof des gegenwärtigen Zaren feiert dieser alte russische Mystizismus, diese eigenbrötlerische Gottsucherei, wahre Orgien. Nikolaus II. ist für jederlei Blendwerk zu haben, jede phantastisch frisierte Lüge erscheint ihm als göttliche Wahrheit. Es ist, als hätten sich in seiner Seele alle dunkeln Triebe, die in seinen Vorfahren mächtig geworden, zu einem wirren Knäuel gesammelt. Er ist auch kirchenfromm, beobachtet die vorgeschriebenen Bräuche, wallfahrtet zu den Gebeinen eines Heiligen, echtes Himmelsbrot findet er aber nur im religiösen Humbug. Auf den Hintertreppen seiner Schlösser drängen sich Wahrsager, Spiritisten, Chiromanten, Zauberer, Somnambulen, Wetterpropheten, und sonstiges abenteuerndes Volk, Auswurf der Popenhäuser, Kehricht der Sakristeien, lichtscheue Gesellen, die geradewegs aus dem Mittelalter herzukommen scheinen, ein Gespensterzug am hellen Vormittag. Jeder verschafft sich Gehör, jeder genießt seine Stunde der Macht.

Noch nie haben wir die Technik so sehr gebraucht

Lobrede zur Jahrhundertfeier der Technischen Hochschule.

Neue Freie Presse am 6.11.1915

Die Jahrhundertfeier der Wiener Technik konnte in keine Zeit fallen, die für ein solches Fest geeigneter wäre. Alles, was wir in diesen maßlos bewegten Tagen, wo die Schicksale einer Welt entschieden werden, erleben, ist Technik. Technik sind die Motormörser, die den Ruhm unserer Waffen bis nach Belgien und Frankreich getragen haben. Technik, höchste Vollendung ihrer Fähigkeiten, war die Überbrückung der Donau über viele hundert Meter, Technik: die Bomben, dessen Dienst kein Heer entbehren kann; Technik: das Unterseeboot, das den stärksten Schrecken einflößt. Wenn wir Tirol halten können, wenn wir jetzt gegen einen übermächtigen Feind sozusagen jeden Fußbreit zu bewahren verstehen und jeder Abhang und jeder Felsen ihnen Trotz zu bieten vermag, wem anders danken wir diesen Kriegserfolg als dem Techniker? Eine Brücke ist gesprengt worden, ein Tunnel verschüttet, eine Feldbahn ist zu bauen. Wer hilft? Immer wieder der technisch Geschulte, der Ingenieur und der Pionier. Wieder muss die Technik heran, wenn es gilt die Schäden des Krieges auszumerzen, die Verwundeten und Entstellten über ihr Schicksal zu trösten. Musterhaft ist die Ergänzung der verlorenen Gliedmaßen; gestern war der Verwundete und Entstellte vielleicht in Gedanken ein Bettler, Hilfesuchender, unfähig menschenwürdigen Daseins. Morgen vielleicht breitet er freudig die Arme aus zu dem neuen Morgenrot, zu einer neuen Hoffnung.

Habsburger Johann Orth nach Schiffbruch ertrunken

Schiffswrack vor Kap Hoorn wurde identifiziert.

Neue Freie Presse am 5.11.1890

Die gestern ausgesprochene Hoffnung, dass Johann Orth mit seinem Schiffe den Stürmen im südamerikanischen Archipel entgangen sei und wieder zum Vorschein kommen werde, hat sich leider als trügerisch erwiesen. Heute abends erhalten wir aus Hamburg eine ausführliche telegraphische Meldung, aus der hervorgeht, dass das Schiff „Sta. Margaretha“ wahrscheinlich ein Opfer des Sturmes geworden ist, und dass man schwer annehmen kann, es sei dem Führer und der Mannschaft des Schiffes gelungen, sich zu retten. Das Telegramm unseres Hamburger Correspondenten lautet: Nach persönlichen Erkundigungen, die ich heute bei den Assekurateuren des Orth’schen Schiffes eingezogen habe, steht fest: Johann Orth kaufte im Frühjahr das Schiff „Sta. Margaretha“, ein eisernes Schiff erster Qualität, in Dünkirchen und depeschierte am 11. Juli, dass das Schiff unter seiner Führung mit Ballast über Cap Horn nach Valparaiso gehe, wohin er sich etwaige Aufträge erbitte. Orth ist aber nicht in Valparaiso angekommen. Gleichwohl waren die hiesigen Schiffsreeder bis vor kurzem der Meinung, das Schiff „Sta. Margaretha“ sei wegen der zu jener Zeit herrschenden starken Stürme oder behufs einer Reparatur in irgend einem kleinen Hafen eingelaufen. Dieser Tage aber sind zwei Schiffe aus Valparaiso hier angekommen, welche meldeten, sie hätten beim Cap Horn drei Schiffswracks gesehen, von denen eines der „Sta. Margaretha“, welche unter österreichischer Flagge segelte, glich. Danach scheint dem Schiffe ein Unfall zugestoßen zu sein, und man muss leider annehmen, dass es dem Capitain Johann Orth und der Mannschaft nicht gelungen ist, sich aus dem Schiffbruche zu retten.

(Anm.: Johann Orth ist einer jener Habsburger, um dessen Leben und Tod sich viele Legenden ranken. Auch mit dieser glaubhaften Meldung über seinen Tod hörten die Gerüchte nicht ganz auf, erst 21 Jahre danach, 1911, wurde er vom K.u.k. Obersthofmarschallamt für tot erklärt und sein Besitz versteigert. Geboren wurde er 1852 als Erzherzog Johann Salvator von Österreich-Toskana, Sohn des Großherzogs Leopold II. von Toskana. Ab dem 12. Lebensjahr wurde er am Wiener Hof erzogen. Wie Kronprinz Rudolf interessierte er sich für die fortschrittlich-liberalen Ideen seiner Zeit, in seiner Militärzeit übte er Systemkritik am Kadavergehorsam der k.u.k. Armee und trat für selbständiges Denken ein. Das kam nicht gut an. Doch es gibt noch eine weitere Parallele zum Leben des Kronprinzen Rudolf: Ein Liebesverhältnis zu einer Tänzerin, Milli Strubel, tat ein Übriges, um ihm jede Möglichkeit einer militärischen oder politischen Karriere zu rauben, so bat er um die Entlassung aus dem Habsburgischen Familienverband und nahm 1889 die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Er verzichtete auf seine Rechte und wählte den Namen Johann Orth (nach dem Schloss im Salzkammergut, wo er wohnte), überliefert ist der Satz:  "Zu jung, um für immer zu ruhen, zu stolz, um als bezahlter Nichtstuer zu leben, musste meine Lage peinlich, ja mir unerträglich werden". Er heiratete seine Geliebte, wurde Kapitän und kaufte sich den Dreimaster „Santa Marghareta“, um eine Weltreise anzutreten. Vor der südamerikanischen Küste kam er im Juli 1890 bei einem Sturm ums Leben, es war extrem unvorsichtig, bei dieser Wetterlage das Kap Hoorn zu umschiffen, beinahe ein Todeskommando. Der Artikel erzählt von der Auffindung des Wracks. Sein Schloss am Traunsee in Gmunden wurde „Star“ einer populären Fernsehserie, eine Sache, die dem impulsiven, nonkonformistischen und aufmüpfigen Abkömmling des österreichischen Kaiserhauses vielleicht gefallen hätte.)

Unter die Haube kommen – ein Lebensziel?

Attacke gegen die Verlogenheit der Emanzipationsdebatte.

Neue Freie Presse am 4.11.1865

Die Nachricht von einem Frauencongress mag bei manchem ein spöttisches Lächeln hervorgerufen haben; damit ist aber noch keineswegs bewiesen, dass dieses Lächeln am rechten Platz war. Bedeutend ist nämlich das Thema der von Jahr zu Jahr wachsenden Zahl alleinstehender, auf sich selbst angewiesener Frauen, die sich den Weg zur Gründung einer unabhängigen Existenz bahnen müssen. Nicht von törichten und unsauberen Emancipations-Gelüsten ist hier die Rede, sondern von dem Rechte jeder menschlichen Creatur, die ihr verliehenen Fähigkeiten zu ihrem eigenen wie zum Nutzen der Gesamtheit zu verwerten.

Wer kennt nicht die Redensarten, mit denen die socialen Pharisäer jeden Versuch des Weibes, sich durch Arbeit eine Stellung zu erringen, als unstatthaft zurückzuweisen pflegen? Die Nichtigkeit ihrer Einwürfe braucht kaum bewiesen zu werden; Tag für Tag finden sie ihre, nicht selten tragische Widerlegung. Wir haben es zur Genüge, dass das Weib nur für den engen Kreis der Häuslichkeit geschaffen sei, dass es seiner Bestimmung untreu werde, wenn es etwas anderes sein wolle, als Gattin und Mutter; dem praktischen Leben gegenüber werden solche Bemerkungen zu  hohlen Phrasen. Glaubt ihr wirklich, es existiere ein zurechnungsfähiges weibliches Wesen, das aus freier Wahl mit Sturm und Wogen kämpfte, wenn ihm der Hafen einer beglückten Häuslichkeit offen stände? Es geschieht aus keinem andern Grund, als weil ihnen kein Ausweg bleibt. Meint ihr, es sei Übermut, tolle Laune, was sie treibt, das Recht auf Arbeit für sich in Anspruch zu nehmen? Ach, wie gerne möchte sie darauf verzichten! Aber sie dürfen es nicht, wenn sie nicht nach so vielen bitteren Verlusten auch noch die Achtung vor sich selbst verlieren wollen. Die Eventualität des Verhungerns mag dabei auch mit in Rechnung gebracht werden.

Dennoch pflegt man dieses Faktum bei der Erziehung junger Mädchen gänzlich außer acht zu lassen. Von Kindheit an wird ihnen durch alles, was sie sehen und hören, der Glaube eingeprägt, es gebe für ein weibliches Wesen kein anderes Lebensziel, als nur unter die Haube zu kommen? Man hält den Mädchen lange Predigten über die Gefahren der Koketterie, und treibt sie andererseits, alle Künste aufzubieten, um sich einen Mann zu erbeuten.  Man gibt sich den Anschein, die Ehe als das Höchste zu betrachten, und würdigt sie in Wahrheit zum Gemeinsten, zur Versorgungsanstalt, herab. Eine gute Partie! So heißt das Losungswort nicht nur der Eltern, sondern sehr oft auch der Töchter, die um den Preis einer gesicherten Existenz einen Mann, für den sie nicht die Spur einer Neigung empfinden, unbedenklich mit in Kauf nehmen, wenn sich nur einer findet. Ob eine solche Ehe sittlich ist, überlasse ich dem Ermessen jedes Einzelnen. (Betty Paoli)

>> Originaltext von Betty Paoli

(Anm.: Ein wunderbarer Feuilletontext einer besonderen Frau. Gerne hätten wir diesen Text zur Gänze abgedruckt, er macht der Zeitung große Ehre. „Sie war meine Vorgängerin, als es für eine Frau noch exzeptionell war, für eine Zeitung zu schreiben“, resümierte „Presse“-Redakteurin Bettina Steiner im Juni 2013. Gemeint ist Betty Paoli, emanzipierte Frau, Lyrikerin, die erste Berufsjournalistin Österreichs viele Jahrzehnte, bevor Alice Schaleks Weltkriegstiraden und Schützengrabenhymnen Aufsehen erregten. Sie hatte keine vermögenden Eltern, die ihr die Wege ebneten, sie musste vielmehr zunächst als Gesellschafterin und Übersetzerin arbeiten und verbrachte fast 40 Jahre  ihres Lebens bei der jüdischen Kaufmannsgattin und Mäzenin Ida Fleischl. Als Tochter eines Militärarztes hatte sie einen Grundstock an Bildung. In den Feuilletons der Zeitung stellte die 1814 in Wien geborene Paoli, die eigentlich Barbara Elisabeth Glück hieß, die Werke von Marie von Ebner-Eschenbach und Annette von Droste-Hülshoff vor, sie plädierte immer wieder für die naturwissenschaftliche Erziehung der Mädchengeneration, kämpfte dafür, Frauen eine Berufsausbildung und somit einen eigenen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Der Weg zur Gleichberechtigung führe nicht über den Hafen der Ehe, sondern über die Bildung. Sie forderte daher ein Gymnasium für Mädchen, mit denselben Fächern wie bei den männlichen Schülern, mit einem Lehrplan, wo die Mädchen nicht nur die humanistischen Fächer, sondern auch Mathematik und Naturwissenschaft gelehrt werden sollte. Es sei ein Verbrechen an den Mädchen, ihnen eine Berufslaufbahn zu verschließen, die unverheirateten jungen Frauen, die nicht zum Adel aber auch nicht zum Fabriksarbeiterproletariat gehörten, sondern aus der gebildeten Mittelschicht stammten (wie sie selbst), würden ohne Bildung keinen Platz in der Gesellschaft finden. Betty Paoli hat die Frauen in ihrem typisch kämpferischen Ton ermuntert, sich selbst von der Bevormundung zu befreien. Man hat guten Grund, sie als eine der ersten unabhängigen intellektuellen Frauen Österreichs zu würdigen. Übrigens: sie blieb ihr Leben lang unverheiratet und selbständig.)

Eisenbahnsklaven arbeiten 21 Stunden durch

Unmenschliche Arbeitsbedingungen bei der Bahn.

Die Presse am 3.11.1865

Eine jüngst abgehaltene Gerichtsverhandlung in St. Pölten hat bekanntlich einen merkwürdigen Beitrag zu dem Capitel „Europäisches Sklavenleben“ geliefert. Sie hat ergeben, dass eine Anzahl von Bediensteten der Westbahn nicht weniger als einundzwanzig Stunden im Tage beschäftigt ist. Das ist nun freilich nicht nur in Wien so, sondern auch anderwärts. Ein Bericht der bergisch-märkischen Eisenbahn an den preußischen Handelsminister verlautet: Es ist Tatsache, dass die auf dem hiesigen Bahnhof tätigen Weichensteller täglich zwanzig Stunden Dienst, und, bringt man die Zeit des Zugangs und Abgangs von der Wohnung nach dem Posten in Rechnung, nicht einmal volle vier Stunden Schlaf haben. Es ist Tatsache, dass nicht selten der eine oder der andere gar nicht über Nacht nach Hause kommt, sondern in der Bude liegen bleibt aus Furcht, am Morgen nicht rechtzeitig wieder auf dem Platze zu sein. Eine solche Anstrengung ist übermenschlich und muss in kurzer Zeit den stärksten Körper zerstören; sie ist aber umso bedenklicher, als von der Aufmerksamkeit der in Rede stehenden Beamten auch andere Menschenleben abhängen. Das Ministerium, welches der Arbeiterfrage eine so große Aufmerksamkeit widmet, muss vor allem doch den Arbeitern gerecht werden. Die Weichensteller auf dem Bahnhofe, Rangierer, Locomotivführer, Bremser etc. haben als Regel täglich achtzehn bis zwanzig Stunden Dienst. Keinem Tiere mutet man eine solche Anstrengung zu und würde man es tun, es müsste erliegen.

Die Trauer eines ganzes Volkes um die Freiheit

Wiener strömen zum neuen Denkmal für die Gefallenen des März 1848.

Die Presse am 2.11.1865

Heute wandeln  nach altem Herkommen alle in den Gärten des Friedens, zwischen kranzgeschmückten Hügeln. Eine Trauer gibt es, die erhebender und befreiender ist, als der individuelle Schmerz, es ist die Trauer eines ganzen Volkes, der großen Gesellschaft. Ein solches Totenamt wird heute gefeiert, es gilt dem Mann, der jenseits des Ozeans die Fesseln der Sklaverei gebrochen (Anm.: gemeint ist der ermordete Abraham Lincoln).Sein Gedächtnis wird gefeiert von der großen Gemeinschaft, deren Mitglieder keiner Maurerzeichen bedürfen; die sich erkennen, ohne sich gesehen zu haben, an einem Wort, einem Blitz des Auges, einem Händedruck, an dem Vertrauen auf eine schönere, bessere Zukunft, an der zuversichtlichen Hoffnung, dass dort, wo noch Druck lastet, ob staatlicher oder socialer, der Tag des Messias kommen werde. In der Hauptstadt Österreichs hält diese Gemeinschaft ihre Feier an dem Obelisk, der den Opfern des März gesetzt wurde. Sie betet an dem Denkmal mit tiefer Inbrunst und von ganzer Seele: Herr, lass die Nebel schwinden, die die Augen trüben; lass es nie mehr geschehen, dass Völker gegen Völker, Brüder gegen Brüder den Stahl zücken; befreie uns von den Zweifeln, erleuchte uns, gib Ruhe und Frieden – allen Seelen.

Besuch auf dem Friedhof der Namenlosen

Hochwasser hat den kleinen Friedhof in den Donauauen verwüstet.

Neue Freie Presse am 1.11.1890

Am Tage der wehmutsvollen Erinnerung an die Toten kann es wohl kein traurigeres und trüberes Bild geben, als einen Friedhof, in dessen Frieden die Zerstörung gewaltsam eingebrochen ist und der einen Anblick der Verwüstung und Vernichtung darbietet. Eine solche unheimliche, fast grauenvolle Stätte des Todes befindet sich in der Nachbarschaft unserer Stadt im äußersten Südosten. Ihr heutiger schauerlicher Zustand ist ein Werk der entfesselten Naturkraft, des Hochwassers der Donau, das in den ersten Tagen des September die am Strom gelegene Umgebung Wiens heimgesucht und dort die Spuren seines Wütens zurückgelassen hat, die noch jetzt, nach zwei Monaten, noch deutlich sichtbar sind. Ein kleiner Friedhof, der, in den Donau-Auen versteckt, am Ufer des Stromes liegt, ist das Opfer des zerstörenden Elementes geworden. Nicht zum ersten Mal lenken wir die Aufmerksamkeit unserer Leser auf diese stille und abgelegene Ruhestätte der Toten. Einer unserer Kollegen hat vor Jahren diesen Platz der Trauer, der bis dahin nur den nächsten Anwohnern bekannt war, entdeckt und ihm den bezeichnenden Namen des „Friedhofes der Namenlosen“ gegeben, indem er in einer ergreifenden Schilderung erzählte, welche Bewandtnis es mit den Schäfern hat, die an dieser abgeschiedenen Stelle in dichtgedrängten Reihen zur letzten Ruhe vereinigt worden sind. Es sind dies die Opfer der Donau, die den Tod in den Wellen aus Verzweiflung gesucht oder durch einen Unglücksfall gefunden haben und deren Leichen der Strom, nachdem er sie eine Strecke weit mit sich geführt, in den stillen Auen aufs Ufer gebettet hat. Zwischen Kaiser-Ebersdorf und Fischamend gibt die Donau die meisten der Unglücklichen, die sie aus dem Menschengewühl der Hauptstadt wie einen Tribut des Todes aufgenommen hat, wieder heraus.

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