"O Captain! My Captain!": Die Geschichte eines 150 Jahre alten Gedichts

Whitman-Porträt aus dem Jahr 1866.
Whitman-Porträt aus dem Jahr 1866.(c) Imago
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Der amerikanische Poet Walt Whitman schrieb 1865 eines der populärsten Gedichte der US-Literaturgeschichte. Was hierzulande kaum jemand weiß: Es ist dem 16. Präsidenten, Abraham Lincoln, gewidmet. Und Whitman haderte mit seinen berühmtesten 24 Zeilen.

"O Captain! My Captain!", schreit ein Schüler mit zitternder Stimme durch den Klassenraum. Dann steigt er auf seinen Tisch. Es ist ein Tribut an seinen nonkonformistischen Lehrer, dem die Mehrheit seiner Klassenkollegen folgen wird. Dieses Bild aufmüpfiger, auf den Pulten thronender Schüler, die damit den einzig möglichen und zugleich maximalen Widerstand in einem bedingungslosen Gehorsam fordernden Elite-Internat leisten, hat sich wohl bei allen eingebrannt, die jemals den Peter-Weir-Film „Der Club der toten Dichter“ (1989) gesehen haben.

Der Film wirkt bis heute nach, wie sich anlässlich des Todes von Robin Williams, dem Darsteller des Lehrers, im Vorjahr gezeigt hat. Zahlreiche Prominente von „Tonight Show“-Gastgeber Jimmy Fallon bis zu „ZiB2“-Anchorman Armin Wolf sowie viele Fans sahen sich dazu veranlasst, mit „O Captain! My Captain!“-Parolen auf die Tische zu steigen. Als Hommage an die ergreifende Schlussszene des Films.

Verdammt sei „My Captain“

Weniger bekannt ist die Geschichte hinter „O Captain! My Captain!“, selbst eines der berühmtesten Gedichte der Literaturgeschichte. Vor 150 Jahren, am 4. November 1865, wurde es erstmals in der „New York Saturday Press“ veröffentlicht. Der amerikanische Schriftsteller Walt Whitman (1819–1892) schrieb sein Gedicht unter dem Eindruck der Ermordung des 16. US-Präsidenten, Abraham Lincoln, im April 1865.

O Captain! My Captain!

O Captain! My Captain! our fearful trip is done;

The ship has weather'd every rack, the prize we sought is won;

The port is near, the bells I hear, the people all exulting,

While follow eyes the steady keel, the vessel grim and daring:

But O heart! heart! heart!

O the bleeding drops of red,

Where on the deck my Captain lies,

Fallen cold and dead.

O Captain! My Captain! rise up and hear the bells;

Rise up?—?for you the flag is flung?—?for you the bugle trills;

For you bouquets and ribbon'd wreaths?—?for you the shores a-crowding;

For you they call, the swaying mass, their eager faces turning;

Here captain! dear father!

This arm beneath your head;

It is some dream that on the deck,

You've fallen cold and dead.

My Captain does not answer, his lips are pale and still;

My father does not feel my arm, he has no pulse nor will;

The ship is anchor'd safe and sound, its voyage closed and done;

From fearful trip, the victor ship, comes in with object won;

Exult, O shores, and ring, O bells!

But I, with mournful tread,

Walk the deck my captain lies,

Fallen cold and dead.

Doch noch zu Lebzeiten stellte er seine berühmtesten 24 Zeilen infrage: „Verdammt sei ,My Captain‘ [. . .] Ich bedauere es fast, dieses Gedicht geschrieben zu haben.“

Tatsächlich sind seine Verse sehr konventionell und eigentlich untypisch für Whitman. Es könnte viel eher aus Herman Melvilles „Moby Dick“ (1851) stammen, in dem der Seemann Starbuck den besessenen Kapitän Ahab zu überzeugen versucht, die Jagd nach dem weißen Wal aufzugeben.Das Gedicht (rechts oben) ist eine Metapher zur Lage in den Vereinigten Staaten im Jahr 1865. Der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) ist aus Sicht des patriotischen Unionisten gewonnen – oder wie Whitman dichtet: „Our fearful trip is done“. Die Menschen warten jubelnd im Hafen auf die Rückkehr des siegreichen Kapitäns – Lincolns Union der Nordstaaten hat gerade über die konföderierten Staaten des Südens gesiegt. Doch dann wird aus der Siegesfeier eine Totenklage („But O heart! heart! heart!“). Tot liegt der Kapitän, Präsident Abraham Lincoln, an Deck des Schiffs. Whitman huldigt dem Verstorbenen, der sich selbst opfert, und überhöht den von vielen Afroamerikanern als „Vater Abraham“ bezeichneten Politiker biblisch. Die dritte Strophe endet mit einer Vision von einem friedlichen und geeinten Amerika.

Als welch herausragende Persönlichkeit Whitman den ermordeten US-Präsidenten betrachtete, macht auch ein Bericht vom 12. August 1898 in der „Neuen Freien Presse“ deutlich: „Lincoln ist der einzige Einzelne, der Whitman interessiert, sonst interessieren ihn nur die Massen, er kümmert sich nur um die Basis der Armee: die gemeinen Soldaten nur sind es, die ihm am Herzen liegen. Von den Officieren spricht er selten und oft mit herbem Tadel; die gewöhnlichen Soldaten, ihr stummes heroisches Kämpfen und Dulden, wird er nicht müde zu charakterisieren, an ihren Betten sitzt er, von ihnen will er geliebt sein und wird er vergöttert.“

„Grasblätter“ als Lebenswerk

Ausgabe von
Ausgabe von "Leaves of Grass".(c) Reuters

Das berühmt gewordene Gedicht ist ein Teil seines Lebenswerks „Leaves of Grass“ („Grasblätter“). 1855 brachte Whitman unter diesem Titel eine 95 Seiten umfassende Gedichtesammlung heraus. Die Auflage betrug keine 800 Stück, von denen gerade einmal 200 gebunden waren. 37 Jahre lang arbeitete Whitman an seinen „Grasblättern“, die „Totenbett-Edition“ aus dem Jahr 1892 umfasste mehr als 400 Gedichte (im Jahr 2009 ist erstmals eine vollständige deutsche Übersetzung im Hanser-Verlag erschienen). Stark beeinflusst von Ralph Waldo Emerson („Nature“, 1836) und den Transzendentalisten preist Whitman vor allem in seinen frühen Gedichten die Natur und die Rolle jedes Einzelnen darin. Später reflektiert er durchaus düster die Geschehnisse und Schlachten des Sezessionskriegs. Whitman wusste, worüber er schrieb. Als Sanitäter war er als freiwilliger Helfer jahrelang in Lazaretten im Einsatz. Er sah also, was der Krieg mit den Menschen machte. All seine Hoffnungen für eine friedvolle Zeit ruhten auf Lincoln.

Whitmans Unmut über die Popularität des Gedichts ist wohl darauf zurückzuführen, dass ihm vor allem seine 206 Zeilen umfassende Lincoln-Elegie „When Lilacs Last in the Dooryard Bloom'd“ („Als jüngst der Flieder blühte im Garten vorm Haus“) am Herzen lag. Das Gedicht, das den Trauerzug mit dem Sarg des toten Präsidenten durch die US-Bundesstaaten beschreibt, gilt bis heute als eine der schönsten Elegien in englischer Sprache. Der englische Dichter Algernon Swinburne bezeichnete es als „the most sweet and sonorous nocturne ever chanted in the church of the world“. Zudem fängt es mit seinem Nachsinnen über den Tod und den Blick auf die trauernde Nation einen wichtigen Moment in der Identitätsbildung der Vereinigten Staaten von Amerika ein.

Auch sah Whitman mit dem Lauf der Zeit die mythische Figur Lincoln differenzierter. In den 1880er-Jahren hielt er am Todestag Lincolns alljährlich eine Rede unter dem Titel „Death of Abraham Lincoln“. Darin fand er auch immer wieder zur zentralen Schlussfolgerung seiner Flieder-Elegie zurück, dass Lincolns Tod in gewisser Weise eine Notwendigkeit der Geschichte war. Den Autor verband jedoch mehr mit Lincoln als nur dessen Ableben.

Die Doppelbiografie „Lincoln and Whitman: Parallel Lives in Civil War Washington (2004)“ versucht, die Parallelen im Leben der beiden Männer aufzuzeigen. Demnach seien sich Lincoln und Whitman zwar nie persönlich begegnet. Dennoch habe nicht nur Lincoln Whitmans Schaffen beeinflusst, sondern auch umgekehrt. Lincoln habe 1858, als er für den US-Senat kandidierte, „whitmanesque“ Reden gehalten, ist der Historiker Daniel Mark Epstein überzeugt. Zumindest drei Reden des Politikers seien von Whitmans „Grasblätter“-Poesie beeinflusst worden.

Apropos toter Dichter

Im Hollywood-Film »Der Club der toten Dichter« kommen auch andere Verse Walt Whitmans vor.

Es bleibt zwar vor allem die Schlussszene hängen – Stichwort „O Captain! My Captain!“. Doch auch andere Verse aus Walt Whitmans Lebenswerk, „Grasblätter“, werden im Film „Der Club der toten Dichter“ zitiert. „I sound my barbaric yawp over the roofs of the world“ („Ich brülle mein barbarisches Johoo über die Dächer der Welt“). So fordert Lehrer Keating einen Schüler zum Urschrei auf. Es ist ein Vers aus „Song of Myself“ von Whitman. An anderer Stelle im Film wird etwa das 166. Gedicht in „Grasblätter“ zitiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2015)

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