Nürnberg '45: Das Weltgericht hat begonnen

N�rnberger Prozesse
N�rnberger Prozesse(c) imago/ITAR-TASS (imago stock&people)
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Der Internationale Gerichtshof. Die deutschen Hauptkriegsverbrecher stehen seit 20. November vor ihren Richtern. Mit Seyß-Inquart und Kaltenbrunner sitzen auch zwei Österreicher auf der Anklagebank, beiden ist die Todesstrafe sicher.

Nürnberg, die alte Reichsstadt, am 20. November 1945. In der Fürther Straße, vor dem großen, fast unbeschädigten Gerichtsgebäude, sperren alliierte Besatzungssoldaten die Zufahrt und kontrollieren jeden Ankömmling. Es sind Journalisten aus der ganzen Welt, Verteidiger, Schreibkräfte, Dolmetscher. Der spektakulärste (und umstrittenste) Strafprozess der Geschichte hat an diesem Tag begonnen. Die Weltgemeinschaft will richten über die deutschen Hauptverbrecher des Zweiten Weltkriegs.

Unter den Advokaten befindet sich auch – als einziger Österreicher – Dr. Gustav Steinbauer. Er ist vom früheren Wiener Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart gebeten worden, seine Verteidigung zu übernehmen.

Steinbauer hat sich lang vorbereitet, er kennt das Gerichtsgebäude bestens: Sechshundert Räume, dahinter das sternförmig angelegte Zentralgefängnis, in dem die höchsten (noch lebenden) NS-Funktionäre zusammen mit zwei Generälen auf den Prozessbeginn warten. Über eine Million Dollar wurde in die rasche Instandsetzung des Hauses investiert, das wie durch ein Wunder den Bombenteppichen der letzten Kriegstage entgangen war.

Erstaunliches hat man geleistet: Eine technische Anlage, die modernste ihrer Zeit, um eine zeitsparende, reibungslose, unmittelbare Übertragung der Reden in vier Sprachen zu ermöglichen. Dicke Teppiche bedecken den Boden und dämpfen jeden Schall. Der ganze Prozess spielt sich auf diese Weise in einer fast unheimlichen Ruhe ab. Alles vollzieht sich fast lautlos. Man spricht nur gedämpft ins Mikrofon.

Neben der noch leeren Anklagebank, hinter einer gläsernen Wand sitzen die Dolmetscher. Jeder Zuhörer hat vor sich einen kleinen Schaltapparat, auf dem er die Sprache einstellen kann, die er mithilfe seines Kopfhörers hören will. Die Dolmetschergruppe umfasst 36 Personen, die in drei Schichten durchschnittlich je zwei Stunden arbeiten. Vierzig Stenografen haben abwechselnd den Verlauf der Verhandlung in den vier Sprachen festzuhalten. Amerikanische und französische Kräfte bedienen sich dabei des Stenotyps, einer Stenografie-Schreibmaschine mit fünfhundert Silben in der Minute. Außerdem wird der gesamte Prozess auf Schallplatten aufgenommen. 27.000 Meter Tonband und 7000 Schallplatten mit einer Abspielzeit von je dreißig Minuten dienen dazu, im Fall von Unstimmigkeiten über das Protokoll Auskunft zu geben. Die Vervielfältigungsmaschinen sollten bis zum Prozessende am 30. September 1946 mehr als zweihundert Tonnen Papier schlucken; 1300 Rollen Fotopapier werden im Lauf der vielen Monate für 780.000 Fotokopien verwendet werden. In Zeiten des Mangels fast unvorstellbar.

Mit dem Advokaten Otto H. Kranzbühler, einem früheren Marinerichter, der jetzt Admiral Karl Dönitz verteidigen wird, hat Gustav Steinbauer schon vor Prozessbeginn seine ernsten Einwendungen gegen die Verhandlung formuliert. Erstens, dass gegen die bisher gültige Grundregel verstoßen wurde, nämlich „nulla poena sine lege“ (keine Strafe ohne Gesetz). Zweitens, noch gravierender, dass das Gericht ganz einseitig aus lauter Angehörigen der Siegerstaaten zusammengesetzt sei.

Der Gerichtshof replizierte in ebenso gediegener und höflicher Form, aber unmissverständlich: Man hätte schwer einen geeigneten, wirklich neutralen Richter gefunden.

Tipp:
Die Wortprotokolle des IMT Nürnberg, 23 Bände, 1947.

Dafür wären eigentlich nur die Schweiz, Spanien oder Schweden infrage gekommen. Die Beiziehung zusätzlicher Richter aus anderen Nationen hätten den Übersetzungsapparat völlig überfordert. Der Beschluss basiere auf einem Viermächteabkommen vom 8. August 1945. Darauf hätten sich die „Großen drei“, Stalin, Roosevelt und Churchill, schon am 17. Juli1945 (Potsdamer Konferenz) geeinigt.

Die 21 Angeklagten werden von US-Soldaten, die weiße Helme und weißes Lederzeug tragen, zu ihren Plätzen auf der zweireihigen Anklagebank geführt. Sie tragen Anzüge, die auf Wunsch zuvor gereinigt und gebügelt wurden. Die Generäle Keitel und Jodel erscheinen in ihren alten Uniformen ohne Rangabzeichen, der bisherige Reichsmarschall Hermann Göring trägt einen umgeschneiderten hellgrauen Uniformrock, ebenfalls jedes Schmuckes beraubt. In den Bankreihen davor lauschen die vielen Verteidiger. Einen Stock tiefer, auf Zimmer 681, drängen sich die Journalisten, die vom deutsch-amerikanischen Nachrichtenbüro betreut werden.

Bevor der Prozess streng nach „Drehbuch“ beginnt, gibt der Vorsitzende, Lordrichter Geoffrey Lawrence, im Namen des gesamten Gerichtshofs eine Erklärung ab: „Der Prozess, der nunmehr eröffnet wird, steht einzig in der Geschichte der Rechtspflege der Welt da und ist von größter Bedeutung für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Aus diesem Grunde ruht auf jedermann, der daran teilnimmt, die feierliche Verantwortung, seiner Pflicht furchtlos und unparteiisch nachzukommen, gemäß den geheiligten Grundsätzen von Recht und Gerechtigkeit.“

Dann hebt Sidney S. Aldeman, der beigeordnete Ankläger für USA, mit der Verlesung der Anklageschrift an. Ein Stück Weltgeschichte hat soeben begonnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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