Heute vor... im Dezember: Überraschender Tod des Troja-Ausgräbers Heinrich Schliemann

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Wissenschaftliche Fehde geht immer noch weiter.

Die Presse 31.12.1890

Der so plötzlich erfolgte Tod Schliemanns wendet demselben das allgemeinste Interesse zu. Schliemann hatte sich im Herbst dieses Jahres zu neuen Ausgrabungen in Troja, der Hauptstädte seiner großen Entdeckungen, entschlossen, besonders um die fortgesetzten Bemängelungen derselben durch den Hauptmann a.D. Bötticher zu widerlegen. Er lud diesen seinen Hauptgegner ein, denselben beizuwohnen; dieser folgte auch der Einladung und war genötigt, seine Hauptbeschuldigungen in Gegenwart der von Schliemann zugezogenen unparteiischen Sachverständigen zurückzunehmen, setzte aber trotzdem seine Anfeindungen fort. Eine von Schliemann im März d. J. nach Hissarlik berufene internationale Conferenz von Sachverständigen bestätigte die Forschungen Schliemanns. Inzwischen hatte ein immer mehr zunehmendes Ohrenleiden Schliemann veranlasst, die Hilfe eines deutschen Ohrenarztes in Anspruch zu nehmen. Die Heilung nach einer Operation verlief befriedigend, am 13. Dezember reiste er nach Berlin, dann nach Paris, um von dort über Neapel nach Athen zurückzukehren und möglichst noch vor Jahresabschluss bei den Seinen einzutreffen. Aber es sollte anders kommen – am 26. Dezember ist er in Neapel plötzlich verschieden.

Anmerkung: Die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, auf die der Artikel hinweist, begannen bereits im Dezember 1883, es ging um die Interpretation der Forschungen Schliemanns in Troja, genauer: um die Deutung der Funde von Hissarlik zwischen Schliemann und dem archäologischen Dilettanten Ernst Boetticher, Hauptmann a.D., der davon überzeugt war, dass der von Schliemann ausgegrabene Hügel keine Siedlung, sondern eine Feuernekropole sei und dies in teilweise sehr polemischen Artikeln vertrat. Die Meinungsverschiedenheiten gipfelten letztlich in der sogenannten Ersten Trojakonferenz im Dezember 1889. Ernst Boetticher führte seinen Feldzug gegen Schliemanns Positionen auch nach dessen Tod im Dezember 1890 bis 1911 weiter.

England führt die allgemeine Wehrpflicht ein

Wo bleibt jetzt die Abneigung des Engländers gegen den Militarismus?

Neue Freie Presse 30.12.1915

Der englische Premierminister Asquith will dem Parlamente einen Gesetzesentwurf über die allgemeine Wehrpflicht unterbreiten. Der Tag, an dem das geschieht, wird für die Politik des britischen Reiches bedeutungsvoll sein. England glaubte, ein starkes Heer durch hohen Sold und später durch Freiwillige, die unter scharfem gesellschaftlichem Druck zur Meldung gedrängt wurden, ins Feld schicken und beständig ergänzten zu können. Die englische Regierung glaubte, kein packenderes Schlagwort finden zu können als den Aufruf zum Kampfe gegen den Militarismus. Die geschichtlich entwickelte Abneigung jedes Engländers gegen Zwang sollte durch das Gespenst des Militarismus aufgerüttelt und zum Hass gegen Deutschland gesteigert werden. Denn das Recht, über seine Person und seine Zeit nach eigenem Willen zu verfügen, war der Stolz jedes Engländers und einer der Beweggründe des Hochmuts, mit dem er sich mehr dünkte als die Bürger anderer Völker, welche Jahre ihres Lebens der Verteidigung des Landes widmen. Soldat im britischen Reiche ist früher nur der geworden, der sonst nichts mit sich anzufangen wusste, und trotz der Trinksprüche an den Tafeln war die gesellschaftliche Absonderung nirgends schroffer als in England, wo der einfache Soldat nicht als das gegolten hat, was dort respektabel genannt wird. Der Militarismus war für den Engländer die Grenzmarke zwischen sklavischen und unabhängigen Völkern. Der Gedanke war ihm fremd, dass die Kriege von heutzutage nicht mehr durch Söldlinge, die für einige Schillinge geworben werden, sondern nur durch Volksaufgebote geführt werden können. Jetzt ist der Militarismus bei den Kreidefelsen von Dover angekommen und gelandet. Siegreich zieht er in London ein und zwingt das Parlament nieder. Von dem Deutschland, das es vernichten wollte, muss England im Krieg lernen; von außen wird es gezwungen, auf das wichtigste Merkmal seiner Eigenart zu verzichten und nicht mehr zu sein, was es gewesen ist. Das ist eine politische Niederlage.

Anmerkung: Im Gegensatz zu den Heeren von Österreich-Ungarn, Frankreich und Deutschland war die britische Armee bis 1916 keine Massenarmee, es existierte keine Wehrpflicht. Der britische Kriegsminister Herbert Kitchener war einer der der ersten in London, der von einem mehrjährigen Krieg ausging, er arbeitete an der Vergrößerung der Armee. Massenhaft wurde jenes Plakat verbreitet, das ihn (mit dem Zeigefinger auf den Betrachter weisend) mit dem Aufruf zeigte: „Join Your Country’s Army!“ Freiwillige wurden angeworben, zu den neun regulären Divisionen, die zu Kriegsbeginn in Frankreich eingesetzt wurden („British Expeditionary Force“) kam nun „Kitchener’s Army“ hinzu. Die Freiwilligen verpflichteten sich für eine Dienstzeit bis zum Ende des Krieges. So gelang es zunächst, eine allgemeine Wehrpflicht zu vermeiden, eine starke pazifistische Gruppe der englischen Sozialisten (ihr prominentester Vertreter war Bertrand Russell) plädierte gegen den Wehrdienst. Doch 1916 wurde sie in England, Schottland und Wales eingeführt, 1918 auch in Nordirland. Anfang 1916 wurde eine halbe Million Soldaten eingezogen, ihren Mangel an Ausbildung und Erfahrung sollte ein neue Taktik und bestes Material ausgleichen. Bei Kriegsende wurde die Wehrpflicht wieder abgeschafft und beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wieder eingeführt. 1949 erfolgte der Umbau zum National Service, 1957 wurde die Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht beschlossen. Die letzten eingezogenen Wehrpflichtigen wurden 1962 entlassen. 1961 kam es zum Aufbau einer reinen Freiwilligenarmee, monatelang strahlte das britische Fernsehen Aufforderungen an Englands männliche Jugend aus, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Es gab ernsthafte Zweifel, dass Großbritannien das Minimum von 180 000 Mann für ein künftiges Berufsheer zusammenbringen würde.

Der Krieg gebiert ein neues Wunderwerk - das Maschinengewehr

Die neue Waffe ist schuld an der langen Dauer des Weltkriegs.

Neue Freie Presse 29.12.1915

Ehedem war die „Schießerei“ im Kriege eine verhältnismäßig harmlose Sache. So eine gute dumme Kugel schlotterte in der Laufbohrung wie in einem Schlafrocke hin und her, gelangte mit einem Seitensprung ins Freie, machte einige Purzelbäume in der Luft und kollerte endlich auf der Erde noch knurrend ein Weilchen umher, bis sie selbstzufrieden irgendwo stillsaß. Es ging ihr, wie es in der Klassenlotterie zugeht, sie machte fast nie einen Treffer. Doch heute in der großen Zeit des Weltkriegs hat die Kugel an Klugheit zugenommen. Das hat das Repetiergewehr gemacht; jedoch am klügsten wurde sie durch das Maschinengewehr. Das Maschinengewehr ist eine wahrhaftige Kugelspritze, ist eine Zauberspritze, es ist ein modernes Wunderwerk. 300 bis 600 Geschosse speit es in den Minute aus und schleudert sie mit unfehlbarer Sicherheit dorthin, wohin es beabsichtigt wird. Ein einziges Maschinengewehr macht mitunter einen Infanterieangriff zuschanden. Da muss dann die große Hilfsschwester, die Artillerie, zur Unterstützung gerufen werden, um dieses kleine Ungetüm unschädlich zu machen.

Trotz der männermordenden Wirkung des Maschinengewehres muss es als einer der mannigfachen Faktoren betrachtet werden, welche die lange Dauer des Weltkrieges verursachen. Das scheint paradox zu klingen. Das Maschinengewehr ist eine großartige Vernichtungsmaschine, man sollte meinen, dass gerade durch diese verheerende Wirkung der Kampf, somit der Krieg, abgekürzt werden müsse. Dem ist nicht so. Diese Kriegsmaschine verleiht dem Schwächeren, auch dem schon Geschlagenen, der sich in den Schutz der Verteidigung begibt, den Wall der Schützengräben aufsucht, ungeahnte neue Kraft, mehr als dem die Deckung verlassenden Angreifer. Die abstoßende Kraft des Maschinengewehres in der Verteidigung ist immens größer als jene im Angriffe und befähigt den Schwächeren zum Ausharren. Es ist daher diesem Umstande zuzuschreiben, wenn wir in dem Maschinengewehre einen der Verlängerer des Weltkriegs erblicken müssen.

Anmerkung: Die Analyse des namentlich nicht genannten Autors ist zutreffend, Historiker sehen das heute genauso. Die Feuerkraft, Reichweite und Zielgenauigkeit der Waffen hatte sich in den Jahrzehnten vor 1914 dramatisch erhöht. Die Kugeln besaßen eine höhere Durchschlagskraft als früher und riefen daher schwerere Verwundungen hervor. Das Maschinengewehr, das 400 bis 600 Schuss in der Minute abgeben konnte, war vor dem Ersten Weltkrieg nur wenig im Gebrauch gewesen. Nun wurde es erstmals systematisch und an breiter Front eingesetzt. Seine Wirkung war überwältigend. Es tötete mit industrieller Effizienz, die angreifende Infanterie konnte in der Regel nur unter schwersten Verlusten das Niemandsland überqueren und die feindlichen Linien attackieren. So kam es zum Stellungskrieg. Die Feuerkraft der modernen Gewehre bot dem Verteidiger einen deutlichen Vorteil, es ergab sich die strukturelle Überlegenheit der Defensive, denn für einen Angriff war das Maschinengewehr wegen seines Gewichts kaum zu gebrauchen.  Ein Schock für die Soldaten, deren Vorstellungen vom Krieg durch Angriffsgeist geprägt war und die sich nun hinter Erdwällen verkriechen mussten. Die Stellungen befanden sich in der Regel etwa 800 Meter hinter den vordersten Linien, von hier aus konnte man das gesamte Niemandsland mit tödlichem Feuer bestreichen. Frontale Angriffe hingegen führten zu enormen Verlusten und wenig Durchbruchsmöglichkeiten. Die Schlussfolgerung: Vor dem Angriff der Infanterie mussten die feindlichen Befestigungen durch Artillerieangriffe vernichtet werden, vor allem mussten die Maschinengewehrstellungen des Gegners ausgeschaltet werden. Wie der Artikel richtig analysiert: Das führte zum zermürbenden Stellungskrieg und zur Verlängerung des Weltkriegs.

Die kommende Silvesternacht: Nicht alles ist erlaubt, was gefällt

Silvesterulk und Rummel ist in Zeiten wie diesen taktlos.

Neue Freie Presse 28.12.1915

Wie das Wiener Publikum sich in der vorjährigen Silvesternacht dem Ernst der Kriegszeit angemessen betragen und allzu laute Kundgebungen vermieden hat, so wird gewiss auch diesmal die Feier der Jahreswende nicht den Charakter eines „Rummels“ annehmen. Unbenommen bleibt es jedem, an der hoffnungsvollen Begrüßung eines künftigen besseren Jahres freudig teilzunehmen, doch sei – um Übermut zu vermeiden – nur daran erinnert, dass viele Familien in Trauer, viele in banger Sorge um ihre im Feld stehenden, verwundeten, gefangenen oder vermissten Angehörigen sind. Dieser Hinweis wird für jeden, der Gemüt und Gesittung besitzt, wohl an sich genügen, um zu vermeiden, dass Kränkungen durch taktlosen Silvesterlärm und Silvesterulk erfolgen. Überdies sind solche Ausschreitungen behördlich verboten. Lärmende, die nächtliche Ruhe und Ordnung störende Kundgebungen, Unfug aller Art und die gute Sitte und den Anstand verletzende Belästigungen sowie „Anrempelungen“ auf der Straße sind streng untersagt. Es ist daher alles zu unterlassen, was zu Ansammlungen oder Gefährdung der Verkehrssicherheit Anlass geben könnte. Hiezu gehören besonders: Abbrennen von Feuerwerkskörpern, Singen und Musizieren, Zurufe, Winken mit Tüchern oder anderen Gegenständen usw. Balkons sind von Zuschauern freizuhalten. In den öffentlichen Lokalen und auch in Wohnungen sind bei etwa geöffneten Fenstern lärmende und eine Verbindung mit der Straße suchende Kundgebungen verboten.  Der Verkauf sowie das unentgeltliche Verteilen von Juxgegenständen, Reklamezetteln und dergleichen sind verboten. Gegen Widerspänstige wird mit der Arretierung vorgegangen werden. Übertretungen können mit Arrest von 6 Stunden bis zu 14 Tagen geahndet werden.

Mildes Frühlingswetter zu Weihnachten

Wintersportaktivitäten sind arg beeinträchtigt.

Neue Freie Presse am 27.12.1915 

Das Weihnachtswetter brachte vielen Tausenden eine arge Enttäuschung, nicht zuletzt der Jugend, die sich schon gefreut hatte, im Wienerwald dem Rodel- und Skisport huldigen zu können. Freilich waren diese Hoffnungen schon Freitag abend stark reduziert worden, als Regen einsetzte und in Wien auf den Straßen und Wegen ein Kotmeer erzeugte. Sonntag gegen Mittag setzte dann aufklärendes Wetter ein, mehr und mehr kam die Sonne zur Geltung, und nachmittags herrschte schönes, geradezu mildes Frühlingswetter, das wohl viele Tausende Wiener ins Freie lockte, aber sie kamen nicht weit, denn überall gab es trostlose Wegzustände. Einzelne Wege, besonders über Wiesenflächen und in Wäldern waren geradezu grundlos sumpfig. Die Ausflügler waren daher auf wenige, halbwegs in leidlichem Zustande gebliebene Wege angewiesen, auf diesen gab es freilich lebhaftes Treiben. Im Prater war es am Samstag völlig still, die meisten Schaubuden blieben geschlossen, und erst Sonntag stellte sich nachmittags regeres Treiben ein. Die Theater, Restaurants und Cafés waren bei diesem Verlaufe des Weihnachtswetters natürlich übervoll. Der Semmering hatte wie alle Jahre glänzenden Besuch.

Die verderbliche Unsitte des Einkindsystems

Das heutige "Heute vor" stellt eine Ausnahme dar: Da die "Presse" nie am 26. Dezember erschien, greifen wir heute auf eine Ausgabe der "Deutschen Zeitung" zurück.

Deutsche Zeitung am 26.12.1915 

Ungarn will jetzt energische Maßnahmen gegen das sogenannte „Einkindsystem“ treffen. Die schädlichen Wirkungen dieses Systems sind im Verlauf des jetzigen Krieges mit krasser Deutlichkeit zutage getreten. Wenn auch nicht in Ungarn, so doch in anderen Staaten haben sich die Folgen dieser Unsitte schon vor Ausbruch des Krieges, dann aber nach Mobilisierung der Millionenheere bemerkbar gemacht, besonders stark in Frankreich, wo das Einkindsystem (oft auch Keinkindsystem) ganz auffallend in Blüte steht und wo man schon seit langen Jahren statistisch eine fortwährende Abnahme der Bevölkerungszahl wahrnehmen konnte. Darauf ist es zurückzuführen, dass Frankreich überseeisches Menschenmaterial, darunter selbst Halbwilde in die Reihen seines Heeres einstellen musste, um die entstandenen Lücken ausfüllen zu können.
Oft sind es die Bessersituierten, welche hier den Anfang machten und das gewiss nicht nachahmenswerte Beispiel gaben und geben: nur ein Kind zu haben. Nachahmer finden sich leider nur zu bald. Gründe hierfür mag es verschiedene geben. Einmal das Bestreben, den ererbten oder erworbenen Besitz zusammenzuhalten, was schon nicht leicht geht, wenn mehrere erbberechtigte Kinder vorhanden sind; dann die falsche Eitelkeit der Mütter, die nur zu oft nach unerlaubten Mitteln greifen, um ja nichts an ihrer Schönheit einzubüßen und um Plackereien mit der Erziehung der Kinder zu vermeiden.

Der Weltsieg des Automobils und die Frauen

Seit das Automobil die Damen für sich hat, steht ihm die Zukunft offen.

Neue Freie Presse am 25.12.1915

Zwei besondere Kapitel rund um das Automobil sind die Unfälle und die Automobildamen. Der Chauffeur, der davon den Namen hat, dass er sich nicht echauffieren soll, hat in manchem kritischen Falle die Macht über das Fuhrwerk verloren, und so geschahen die Mahleurs. Man soll mit dem Volant, den Hebeln, den Griffen nur spielen beim Automobillenken, aber man soll dabei jeder Situation gewachsen bleiben. Vielleicht hat auch das das Automobil den Damen sympathisch gemacht; es ist ein Ungetüm, das sich mit Glacéhandschuhen traktieren lässt, man muss nur wissen wie. Dann verlangt das Automobil Dress, Toilette, auch kleiden die wehenden Gesichtsschleier so hübsch. Fazit: Der Weltsieg des Automobils. Es hat die Damen für sich, die immer wussten, was sich schickt. Die Frauen, die früher mit den Kleinigkeiten des Haushalts sich herumschlugen, über Dienstmädchen klatschten, Handarbeiten machen, sind jetzt durch das Automobil gänzlich umgewandelt. Mit fieberhafter Spannung studieren sie die Karten und werfen mit Fachausdrücken um sich, die nur der Mann vom Fach versteht. Die Damen, die den Automobilsport betreiben, sind in der Regel sehr hübsch und schlank gewachsen. Und wenn die Männer Blut schwitzen, um den Motor zu säubern und in Ordnung zu bringen, stehen sie, die Lorgnette in der Hand, mit liebenswürdig interessierter Miene dabei und geben Winke und Anweisungen.

Der Mensch will so alt wie möglich werden, aber wie?

Hier einige gute Ratschläge, um frisch zu bleiben.

Neue Freie Presse am 24.12.1890

Diese Frage – hervorgegangen aus dem natürlichsten und stärksten Triebe der Menschheit, aus dem Selbsterhaltungstriebe – umfasst eigentlich all die vielfältigen Bestrebungen der modernen Hygiene, jene schädlichen Einflüsse zu bekämpfen, welche die Gesundheit des Menschen bedrohen und sein Leben verkürzen. Der Mensch will so alt wie möglich werden, er will sein Leben bis an die äußerste Grenze der Dauer, die es überhaupt erreichen kann, ausdehnen. Man betrachtet es als eine der schwer zu vermeidenden Folgen unserer Culturzustände, dass die Kräfte des Menschen in der Arbeit um den Erwerb, im Kampfe ums Dasein immer rascher verbraucht und aufgezehrt werden, dass mit den Fortschritten der Menschheit die durchschnittliche Lebensgrenze der Individuen immer tiefer und tiefer herabsinkt und dass es namentlich das Übel der Nervosität ist, welches als eine Folge ungesunder socialer Zustände und einer überreizten Lebenstätigkeit so viele Menschen um das ersehnte Ziel einer längeren Lebensdauer, eines höheren Alters bringt.

Hier nun die Antworten des Feldmarschalls Moltke, der mit seinen 90 Jahren von der gesamten Mitwelt als der erstaunlichste Beweis einer bis ins höchste Greisenalter bewahrten körperlichen und geistigen Kraft und Frische angestaunt wird:

Die Jugend:

Gesundheit in der Jugend?  Zähe Natur

Auf dem Land oder in der Stadt aufgewachsen? Bis zum 10. Lebensjahr auf dem Land.

Wie viele Stunden in freier Luft zugebracht? Unregelmäßig und nur wenige Stunden.

Abhärtende Spiele oderandere Übungen? Methodische nicht.

Dauer des Schlafes? 10 Stunden in der Jugend.

Besondere Bemerkungen? Freudlose Jugend, spärliche Ernährung, fern vom Elternhaus.

Reiferes Alter:

Besondere Lebensgewohnheiten? Mäßigkeit in allen Lebensgewohnheiten. Bei jeder Witterung Bewegung im Freien. Kein Tag ganz im Hause.

Erholungen? Reiten bis zum 86. Lebensjahr.

Welchen Umständen schreiben Sie ihr hohes Alter zu? Gottes Gnade und mäßigen Lebensgewohnheiten.

Wie kommt man sicher über den Ärmelkanal?

Rund tausend Schiffsunglücke auf der vielbefahrenen Linie Dover – Calais.

Neue Freie Presse am 23.12.1865

Es scheitern jährlich in der Nähe der britischen Küsten achthundert bis zwölfhundert Schiffe, und es verlieren dabei zwischen siebenhundert und tausend Personen ihr Leben. Die Statistik ist unerbittlich, und die Wrackkarten mit ihren an gewissen Punkten weit ins Meer hinaus sich ziehenden Sternenlinien, welche die Häufigkeit der Schiffbrüche andeuten, geben ein schauerliches Gemälde. Die stoische Schule zählt in dem wortkargen entschlossenen England viele Anhänger; man entrichtet daher dem unbarmherzigen Gebieter der Tiefe ohne Murren den Tribut an Menschenopfern. Gleichwohl regt hie und da ein einzelner Schiffbruch die Gemüter gewaltig auf. So war es, als vor zehn Jahren der Ostender Postdampfer auf den schrecklichen Goodwin-Sandbänken scheiterte. So ist es jetzt wieder bei dem vor wenigen Tagen erfolgten Schiffbruch des Postdampfers, der zwischen Dover und Calais fährt. Er ist von einer amerikanischen Barke so überrannt worden, dass seine eisengeplattete Seite gleich einem dünnen Brette einbrach und die hereinstürzenden Wogen in einem Nu mehrere Passagiere ertränkten. Das Furchtbare an solchen Vorfällen auf der so vielbefahrenen Linie zwischen Dover und Calais und Dover und Ostende ist, dass die englische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit ganz anders davon betroffen wird, als von dem Scheitern der Kauffahrer und der Fischerboote. Auf dem schmalen Wasserstreifen, der uns vom Continente trennt, bilden die Postschiffe beinahe eine stehende Brücke, eine regelmäßige Heerstraße. Dass diese Brücke plötzlich bricht, dass sich auf dieser Wasserstraße der gähnende Abgrund auftut, das erfüllt die Hunderttausende, die das Geschäft oder der Vergnügungsdrang unablässig nach dem Continent hinüberführt, oder die Verwandte und Freunde drüben haben, mit großer Besorgnis.

Erstmals elektrische Beleuchtung in der Hofburg

Die vollkommen ruhige und herrliche Wirkung des elektrischen Lichts.

Neue Freie Presse am 22.12.1890

Heute abends um ½ 7 Uhr hat in der Hofburg die Hauptprobe der elektrischen Beleuchtung stattgefunden, welche so glänzend ausfiel, dass bereits Anfang nächster Woche in den Stephans-Appartements ein Familien-Diner bei elektrischer Beleuchtung stattfinden wird. Die Beleuchtung der prächtigen Säle macht wegen der Art, in welcher die Glühlampen angebracht sind, einen eigenartigen Eindruck. Auf den ersten Blick glaubt man eine prachtvoll strahlende Kerzenbeleuchtung zu sehen und ist von der Ruhe des Lichtes überrascht. Bei näherem Zusehen erblickt man die Glühlämpchen, welche die Form von Kerzenflammen haben und auf Ständern in Kerzenform montiert sind. Die Glühlampen haben die Leuchtkraft von fünf Normalkerzen, so dass gegen die bisher verwendete Beleuchtung eine zwei- bis dreifache Helligkeit erzielt ist. In jedem Saal ist für jeden Luster ein Ausschalter angebracht. Die Installationsarbeiten haben sechzig Tage in Anspruch genommen.  Obersthofmeister Prinz Hohenlohe nahm wiederholt Veranlassung, dem bei der Beleuchtungsprobe anwesenden Director der Internationalen Elektrizitäts-Gesellschaft über die vollkommen ruhige und herrliche Wirkung des elektrischen Lichtes seine Anerkennung in den lobendsten Ausdrücken auszusprechen.

Phonographische Aufnahme der Stimme des Kaisers

Franz Josef zeigt seine Anerkennung für den Fortschritt der Technik.

Neue Freie Presse am 21.12.1915

Das Präsidium des k.k. österreichischen Militär-, Witwen- und Waisenfonds hat in den letzten Tagen eine interessante Aktion zum Abschlusse gebracht. Es hatte die Idee gefasst, phonographische Aufnahmen der Stimme des Kaisers herstellen zu lassen. Dem Kaiser wurde die Bitte unterbreitet, in den Aufnahmeapparat zu sprechen. Die Aufnahme fand am Dienstag den 14. im Schönbrunner Schlosse unter der Leitung des Leutnants der Luftschifferabteilung Leo Kronau statt. Der Aufnahmsapparat wurde in den ersten Vormittagsstunden nach Schönbrunn gebracht und im Annunziatenzimmer aufgestellt. Als alles zur Aufnahme bereit war, wurde dem Kaiser die Meldung erstattet. Der Kaiser ließ sich dann auf das genaueste den Vorgang der Aufnahme erklären und äußerte sich sehr anerkennend über die großen Fortschritte, welche die Technik auf diesem Gebiete zu verzeichnen habe. Auf die Bitte des Leutnants Kronau nahm hierauf der Kaiser vor dem Aufnahmsapparat Aufstellung und sprach mit klarer Stimme und mit markanter Betonung. Da der Kaiser wissen wollte, ob die Aufnahme gelungen war, setzte Leutnant Kronau den Sprechapparat sofort in Aktion, worauf die Worte deutlich und scharf aus dem Schallrohr ertönten. Der Kaiser sagte lächelnd: „Das ist ja zum Sprechen ähnlich!“ Leutnant Kronau bat um die Erlaubnis, nach ihrer Herstellung diese und eine Reihe anderer Platten dem Kaiser vorführen zu dürfen. Der Kaiser erwiderte “Ich freue Mich schon sehr darauf!“ und verabschiedete huldvollst die Herren. Das Kaiser Franz Josef-Phonogramm wird Anfang Januar in den Handel gebracht werden. Das Reinerträgnis fließt dem k.k. österreichischen Militär-, Witwen- und Waisenfonds zu.

(Anm:  Die Aufnahmen der Stimme Kaiser Franz Josephs sind heute noch erhalten und Teil der historischen Bestände des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die hier gesammelten Aufnahmen wurden von der UNESCO in das Weltkulturerbe aufgenommen. Die oben erwähnte Aufnahme ist nicht die erste, es existiert bereits eine von 1903. Dazu Gerda Lechleitner, die im Phonogrammarchiv die historischen Bestände betreut: „Er spricht stockend und macht nicht sinngemäße Pausen. Das rührt daher, dass er den Kopf ganz nahe am Trichter haben musste und deswegen den Text nicht lesen konnte“. Es war von Seiner Majestät nicht zu verlangen, den Text auswendig zu lernen; deshalb wurde ihm dieser von der gegenüberliegenden Seite zugeflüstert. „Solche Informationen, etwa über die Aufnahmesituation, findet man erst, wenn man sich eingehend mit der Aufzeichnung beschäftigt und diese dokumentiert. Es ist zwar ein Stimmporträt entstanden, das diese Person charakterisieren soll, doch so hat Kaiser Franz Joseph nie gesprochen“, ergänzt Gerda Lechleitner.  Wie der Kaiser wirklich gesprochen hat, erfährt der Zuhörer erst auf einer anderen Aufnahme. Denn am Ende hat sich Seine Majestät erbeten, auch einige Wort selbst zu formulieren: „Es hat mich sehr gefreut, auf Wunsch der Akademie der Wissenschaften meine Stimme in den Apparat hineinzusprechen und dieselbe dadurch der Sammlung einzuverleiben.“ Die Aufnahme des Kaisers wurde für die heutige CD-Edition – ausnahmsweise – geschnitten. „Das könnte man eigentlich als Geschichtsfälschung verstehen. Aber es ist klar, dass Franz Joseph so nicht gesprochen hat und sein stockendes Sprechen den technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit und der Aufnahmesituation geschuldet ist“, erklärt Gerda Lechleitner.

>>> Siehe Link )

Kriegsbilderbücher für die Kleinsten

Patriotische Jugendliteratur mit tiefer Lebenswahrheit.

Neue Freie Presse am 20.12.1915

Die rührigen Jugendschriftenverleger bringen fast nur Kriegsbücher heraus, angefangen vom unzerreißbaren Bilderbuch bis in die sanften Höhen jener Töchteralbums, in denen bisher nur himmelblaue Schwärmerei und holde Mädchenhaftigkeit zu Hause war. In der Masse der Kriegsbilderbücher habe ich zwei wirklich schöne Bändchen gefunden. Das eine heißt „Haltet aus im Sturmgebraus“, ist in Nürnberg erschienen und enthält neben einem schlichten Text prachtvolle Bilder, die in ihrer tiefen, ernsten Lebenswahrheit etwas Erschütterndes haben. Das ist ein mit Herzblut gemaltes Bilderbuch und sollte nicht allein die Kinder weinen machen! Das andere, „Der Weltkrieg für die Jugend erzählt“, schildert die wesentlichsten Ereignisse der ersten Kriegsmonate knapp und würdig in warmen und guten, menschlichen Worten. Erschienen ist auch ein prächtiges Knabenbuch „Ich zieh‘ in die Welt“. Es ist ein Wanderbuch und predigt Selbständigkeit in allen Dingen. Es lehrt, wie man ein Schutzzelt aufrichtet, wie man eine Landschaft am schönsten photographiert, wie man Wetter-, Weg- und Himmelsrichtung erkennt, wie man eine Suppe kocht, und noch viele andere nützliche Dinge. Wer aber ein patriotisches Bilderbuch für die reifere Jugend sucht, ein Buch, aus dem man die Begeisterung verstehen lernt, mit der Menschen Blut und Leben für ein Land opfern, der schenke der Jugend Österreichs ein kleines Buch, das im Kunstverlag Anton Schroll in Wien erschienen ist: „Denkmale der Kunst in südlichen Kriegsgebieten“. Die Schätze im bedrohten Süden, in den Dörfern Dalmatiens, Istriens und Südtirols sind da abgebildet. Denn es ist Zeit, den Jungen die Augen zu öffnen für den Reichtum, den sie zu bewahren haben, nicht nur jetzt mit ihrem Blut und ihren Waffen, sondern auch nachher mit  ihren Herzen.

Das Christkind bringt uns einen Motormörser

Kriegerische Atmosphäre in den Spielwarengeschäften.

Neue Freie Presse am 19.12.1915

Der Spielwarenmarkt von 1915 steht ganz und gar im Zeichen des Weltkriegs. Theoretiker, besonders kinderlose, finden das gar nicht erfreulich und meinen, dass man doch wenigstens die Kinderstube vom Krieg fernhalten müsse, aber sie haben mit dieser im Prinzip sicher sehr richtigen Anschauung nicht nur bei den Spielwarenerzeugern kein Glück, die schließlich nur das auf den Markt bringen, was man verlangt, sondern vor allem bei den Kindern nicht. Und wenn sie die Kinder aus ihren Bekanntenkreisen nach ihren Wünschen fragen, so werden sie Antworten wie: einen echten Motormörser, ein Festungsspiel, Kanonen mit Gummiprojektilen, Kriegsbücher, bekommen, und das sanfteste kleine Mädchen wird eine Pflegerinnenpuppe verlangen.

Betritt man ein Spielwarengeschäft, so ist man geradezu von einer kriegerischen Atmosphäre umgeben. Da steht ein wirklich beinahe echter Motormörser von gut zehn Kilo Gewicht. Drehbar, zielbar, genau auf Meter und Zentimeter einstellbar. Nur dass die Geschosse aus Gummi sind und das Abfeuern gottlob nicht mit Pulver erfolgt, sondern durch Federung oder Luftdruck. Als Ziel werden dann allerlei reizende Festungen oder „Unterstände“, Bahnhöfe oder Luftschiffhallen aufgestellt. Hat man genau eingestellt, so trifft man auch genau. Während der ganzen Prozedur muss natürlich ein kleiner Fesselballon in der Luft schweben. Soldaten aus dem jetzt sehr teuren Zinn, aber auch aus Eisen und Holz, ganz naturgetreu, bis in das kleine Detail „echt“ sind ein Hauptartikel. Man kauft solche Dinge in „Formationen“. „Komplett“ ist man erst, wenn der Knabe eine kleine Armee mit allen Truppengattungen aufstellen kann. Unglaubhaft kostspielig.

Für kleine Mädchen ist die Auswahl an kriegerischen Dingen nicht so reich, obwohl sich nach der Versicherung des Verkäufers auch die Mäderln sehr für den Krieg interessieren. Sehr beliebt ist das Rote-Kreuz-Spital, da müssen dann Betten vollständig eingerichtet vorhanden sein, in denen arme verwundete Soldaten liegen, während reizende kleine Pflegerinnenpuppen zwischen den Betten stehen, Suppen kredenzen oder Verbandszeug bereithalten, um dem ganz naturgetreu nachgemachten Arzt im Spitalskittel zu helfen.

Nachmittagskaffee in Kaffeehäusern ab sofort verboten

Nachmittagstee ist ohnehin gesünder.

Neue Freie Presse am 18.12.1915

In Wien und Niederösterreich wird der Ausschank von Milchkaffee, Milch und mit Milch zubereiteten Getränken in Gast- und Kaffeehäusern von 2 Uhr nachmittags an bis gegen Abend verboten. Damit soll in erster Linie der Luxus, der überflüssige Mehrverbrauch, getroffen werden, daher sind nur solche Lokale betroffen, in denen erfahrungsgemäß der Nachmittagskaffee der Befriedigung eines Luxusbedürfnisses dient. Der gegenwärtige Verbrauch an Milch in Wien wird an 500.000 Litern im Tag geschätzt. Die durch den Entfall des Nachmittagskaffees zu gewärtigende Ersparnis berechnen die maßgebenden Stellen mit rund 10.000 Liter täglich, also 2 Prozent. In die Lebensgewohnheiten der Wiener wird die Maßregel als ziemlich tief einschneidend erscheinen. Erinnert man sich aber, wie leicht der konservative Geschmack des Wieners sich an das Aufhören des Weißgebäcks, an das Aufhören des Schlagobers auf dem Kaffee, dagegen an Seefische und Hammelfleisch gewöhnt hat und dass er die zwei fleischlosen Tage der Woche bereits als Selbstverständlichkeit hinnimmt, so kann wohl mit Sicherheit behauptet werden, dass der Übergang vom Nachmittagskaffee zum Nachmittagstee sehr leicht gefunden werden kann; denn ungemischten schwarzen Kaffee zu trinken, ist nicht jedermanns Sache und auch vom gesundheitlichen Standpunkt nicht allgemein rätlich. Die etwas komplizierte Art, wie heute in Wien Tee serviert wird, wird sich bei dem voraussichtlich gesteigerten Konsum nicht ganz aufrechterhalten lassen: man wird zu glasweiser Verabreichung von Tee schreiten müssen, dem, sofern nicht irgendein Alkohol als Zusatz gewünscht wird, eine Scheibe Zitrone wird beigelegt werden müssen.

Das Glück der Neutralität im brennenden Europa: die Schweiz 

Neutral sein bedeutet auch kriegsbereit und verteidigungsfähig zu sein. 

Neue Freie Presse am 17.12.1915

Wer heute durch die Welt reisen wollte, um irgendwo völligen Frieden zu finden, der würde eine ganz vergebliche Reise tun. Ein solches glückliches Land gibt es nicht, kann es jetzt nicht geben, und wenn schon der Krieg nicht selbst der unerbittliche Hausherr ist, blickt er doch als ungemütlicher Nachbar beunruhigend zum Fenster herein, und man weiß nie, ob er nicht plötzlich ungebeten hereintritt. Alle leiden irgendwie am Weltkrieg und spüren ihn in den Nerven, im Gemüt, im Geldbeutel. Man ist auf alles gefasst, hält sein Pulver trocken und das Gewehr bei Fuß. So ungefähr sieht es heute auch in einem neutralen Land aus, denn neutral bedeutet heute: kriegsbereit sein. Das gilt auch für die Schweiz. Die bewaffnete Schweiz – das hätte früher wie ein unverständlicher Widerspruch geklungen, weil man in diesem schönen Lande, das von Gott gleichsam als Sommerfrische und Sanatorium für die ganze Welt eingerichtet worden ist, nie an militärische Dinge dachte, nie davon etwas spürte. Die Schweizer Armee war den ausländischen Sommertouristen ein unbekannter Begriff. Heute hat sich die Schweiz an den Ausnahmezustand der ständigen Bewaffnung schon gewöhnt. In den ersten Tagen des Weltkrieges wurde zum Zwecke der Grenzbesetzung die gesamte Schweizer Armee mobilisiert. Als sich dann die Gemüter beruhigten und die Welt sich sozusagen an den Weltkrieg zu gewöhnen begann, konnte auch die Schweiz wieder teilweise abrüsten, und jetzt sind im ganzen drei Divisionen mobilisiert, die namentlich im Nordwesten, an der elsässisch-französischen Grenze und an der österreichisch-italienischen Grenze konzentriert sind. Die natürliche Beschaffenheit dieser Grenzen, die Vertrautheit der Truppen mit dem Terrain, die hervorragende Schießausbildung und nicht zuletzt der ruhige solide Patriotismus jedes Einzelnen sind eine eiserne Bürgschaft dafür, dass die Schweizer mitten im brennenden Europa das Glück der Neutralität und des Friedens in ungestörter Sicherheit genießen können. Die Neutralität ist nicht nur ein Glück für die Schweizer, sondern eine Notwendigkeit für ganz Europa.

Die Kaiserin baut sich ein Schloss auf Korfu

Glühbirnen, Bogenlampen, Klimaanlage – Sisi wohnt modern.

Neue Freie Presse am 16.12.1890

Das Schloss der Kaiserin auf Corfu, das soeben im Baue begriffen ist, wird mit allen modernen Einrichtungen und mit besonderem Comfort ausgestattet werden. In Folge eines kaiserlichen Auftrages wird das Schloss auch elektrische Beleuchtung erhalten; sämtliche Räume werden mit Glühlichtern, die Terrasse durch Bogenlampen erhellt. Zu diesem Behufe wird im Schlossgebäude eine besondere elektrische Anlage errichtet. Außerdem wird für die Versorgung des Schlosses mit Trink- und Nutzwasser und der Vorratsräume im Schlosse mit kalter Luft und Eis mittels eigener maschineller Anlagen Vorsorge getroffen. Mit der Installation der elektrischen Beleuchtung wurde die Internationale Elektrizitäts-Gesellschaft betraut. Es werden bereits in nächster Zeit auf Corfu durch einen an Ort und Stelle entsendeten Ingenieur der Gesellschaft die notwendigen Arbeiten eingeleitet werden. Die Vollendung soll nach Möglichkeit beschleunigt werden, damit die Kaiserin bis zum kommenden Herbste in ihrem vollständig eingerichteten Schlosse alle wünschenswerte Bequemlichkeit finden kann.

(Anm: Der Plan der österreichischen Kaiserin Elisabeth, sich auf der griechischen Insel Korfu ein Refugium zu erbauen, stieß bei dem Ehemann in Wien naturgemäß auf geringe Begeisterung, nicht nur wegen der enormen finanziellen Belastung. Es hatte den Anschein, als wollte die Ehefrau und Mutter ihren Verpflichtungen am Wiener Hof völlig den Rücken zukehren und sich ganz ihrer Begeisterung für die Antike hingeben. Sie lernte Griechisch und zeigte Interesse an den Ausgrabungen und Publikationen etwa eines Heinrich Schliemann, ihr antiker Lieblingsheld war Achill, dessen Statue in der Folge dem Domizil auf Korfu den Namen geben sollte: „Achilleion.“ Doch kaum war das antiken Vorbildern nachempfundene Gebäude fertig, reagierte die Kaiserin ernüchtert: „Unsere Träume sind immer schöner, wenn wir sie nicht verwirklichen.“ Sechs Jahre nach dem Abschluss der Bauarbeiten wollte sie das Schloss schon wieder loswerden, der Kaiser hatte die Insel nie besucht. Letztendlich, nach ihrem Tod, ging es auf die Tochter Gisela über, die es an den deutschen Kaiser Wilhelm II. verkaufte. Im Ersten Weltkrieg wurde es als Lazarett genutzt, seit 1919 ist es im Eigentum des griechischen Staates (mit Ausnahme der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg). Es wurde auch als Spielcasino genützt und ist heute ein Hotspot des korfiotischen Tourismus. Österreichische Urlauber zieht es zum Domizil der populären Sisi.)

Österreichischer Gelehrter entziffert Sprache der Hethiter

Sensationelle Entschlüsselung der Schrift eines vergessenen Volkes.

Neue Freie Presse am 15.12.1915

Über die aufsehenerregende Entdeckung eines Wiener Gelehrten berichten in ihrem neuesten Heft die „Mitteilungen der deutschen Orientgesellschaft“: Dem Orientalisten Professor Friedrich Hrozny in Wien ist es gelungen, die bisher unverständliche Sprache der Hethiter zu enträtseln und deren Ursprung zu erforschen. Das Reich der Hethiter stand im zweiten Jahrtausend vor Christo auf dem Höhepunkt seiner Macht und scheint mit den Nachbarstaaten Ägypten und Babylon rivalisiert zu haben. Die Hethiter sind dann nicht nur als Volk spurlos verschwunden, auch die Geschichte hat ihrer vollständig vergessen. Erst die historische Forschung der letzten Jahrzehnte hat begonnen, dieses merkwürdige Volk aus dem Dunkel herauszuheben, in das es versunken war. Vor einigen Jahren entdeckte der deutsche Forscher Hugo Winckler in den Ruinen von Boghazkoei, im nördlichen Kleinasien, die Spuren der Hauptstadt des Reiches der Hethiter. Dort wurde auch eine Masse von Tontafeln aufgefunden, die teils in Hieroglyphen-, teils in Keilschrift geschrieben waren und anscheinend ein großes Archiv darstellten, das die Hethiter in ihrer Hauptstadt angelegt hatten. Alle Versuche, diese Tontafeln zu entziffern, waren bisher vergebens. Jetzt hat Professor Hrozny nach jahrelanger, mühseliger Arbeit das Problem gelöst. Er hat es zustande gebracht, die Inschriften zu lesen und auf diese Weise den Wortlaut einiger Texte in der Sprache der Hethiter festzustellen. Diese Feststellung hat nun weiter zu dem erstaunlichen, auf dem Wege der Sprachvergleichung erlangten Resultat geführt, dass die Sprache der Hethiter indogermanischen Ursprungs ist. Man muss also annehmen, dass im zweiten Jahrtausend vor Christo zwischen Ägyptern und Babyloniern ein indogermanisches Volk von einer für jene Zeit hohen Kulturstufe einen Staat gebildet hat.

(Anm: Die Wiederentdeckung der Hethiter, eines kleinasiatischen Volkes aus dem 2. Jahrtausend vor Christus,  begann bereits 1834, als im anatolischen Hochland bislang unbekannte Ruinen beim Dorf Bogazköi entdeckt wurden. ES dauerte bis 1906, bis man die Ruinen als Überreste der Hauptstadt der Hethiter identifizieren konnte, die Grabungen unternahm der deutsche Assyriologe Hugo Winckler (dank der guten Beziehungen Kaiser Wilhelms II. zu den Osmanenherrschern).  Dabei kamen 2.500 Keilschrifttafeln und Fragmente zum Vorschein, die eindeutig bewiesen, dass man auf das politische Zentrum des hethitischen Reiches, die Stadt Hattusa, gestoßen war. Schließlich hatte man Inschriftenmaterial im Umfang von 10.000 Tafeln, die man nicht lesen konnte. Allerdings fand man auch Urkunden in babylonischer Sprache, sie konnten gelesen werden und lieferten Hinweise, dass das Hethiterreich neben Babylonien, Ägypten und Assyrien zu den Großreichen des Alten Orients gehörte. Die Erschließung der Sprache gelang dann dem tschechischen Orientalisten Bedrich (Friedrich) Hrozny, der in dem Artikel gewürdigt wird. Erstmals 1915, dann ausführlicher 1917 legte er die indogermanischen Wurzeln der Sprache dar. Obwohl die Publikation mitten im Weltkrieg stattfand, wurde sie rasch rezipiert und 1918 wurde Hrozny zum Professor für Keilschrift und Geschichte des Alten Orients an der Prager Karls-Universität ernannt. Zur Lösung des hethitischen Sprach-„Rätsels“ verwendete er zwei Sätze aus einer Urkunde: „NINDA-an ezzateni“ und „ watar-ma ekutteni“. Er wies durch Vergleiche mit dem Sumerischen nach, dass der erste Satz heißt „ihr werdet das Brot essen“, der zweite „ihr werdet Wasser trinken“. Ezzateni und watar sind Wörter aus der indogermanischen Sprachfamilie, im Lateinischen, Englischen und Deutschen gibt es ganz ähnliche Wortbildungen. )

Warum werden so viele Wiener lungenkrank?

Aufgewirbelter Straßenstaub und Granitteilchen verursachen tuberkulöse Schäden.

Neue Freie Presse 14.12.1890

Es ist keine neue Entdeckung, dass nicht das Wiener Klima oder die schädliche Einwirkung der herrschenden Stürme, sondern vielmehr der Wiener Straßenstaub das massenhafte Auftreten der Lungenkrankheiten in Wien verursacht. Schon vor mehr als dreißig Jahren hatte man den Wiener Staub als einen der ärgsten Feinde der Gesundheit der Wiener bezeichnet, damals aber hauptsächlich das Glacis und den Exerzierplatz als den Herd des Übels betrachtet und sich von der Verbauung dieser meist offenen Flächen durch die Stadterweiterung eine wohltätige Wirkung für den Gesundheitszustand der Stadt versprochen. Diese Hoffnung hat sich nun allerdings nicht erfüllt, ebensowenig wie die Einführung der Hochquellenleitung in Bezug auf die Lungenkrankheiten etwas zu ändern vermochte. Eine andere Anschauung ist, dass das Granitpflaster der Wiener Straßen dazu beitrage, den Staub so schädlich für die Atmungsorgane und Lungen zu machen. Neuere Versuche haben nun den alten Verdacht gegen den Wiener Straßenstaub vollauf bestätigt. Es wurde unter anderem Kaninchen und Meerschweinchen Wiener Straßenstaub inhaliert, und nach zwei bis drei Wochen zeigte es sich, dass die meisten derart behandelten Tiere tuberkulös geworden waren. Es konnte kein Zweifel obwalten, dass dies nur eine Folge der Einatmung des Straßenstaubs war, da die Tiere früher ganz gesund gewesen. Ihre Erkrankung bewies, dass der Staub die ansteckenden Keime der Tuberculose enthalten hatte und dass sie durch das Einatmen derselben infiziert worden waren. …Während der meisten Monate des Jahres, im Frühling, Sommer und Herbst, hat die reichliche Bespritzung der Straßen die wohltätige Wirkung, dass der größte Teil des Staubes weggeschwemmt wird. Im Winter aber, wenn auch kein Schnee fällt, hat der Wind freies Spiel mit dem Staub. Dazu kommt noch die Art der Straßenreinigung, indem der trockene Straßenstaub durch die Besen der Gassenkehrer aufgewirbelt und den Passanten in dichten Wolken geradezu ins Gesicht geschleudert wird; es ist daher natürlich, dass das Publicum den Straßenkehrer-Brigaden bei ihrer Arbeit mit Schrecken ausweicht und instinktiv die Gefahr ahnt, der es ausgesetzt ist.

Die neue Großgemeinde Wien- was sagt die Statistik?

Ausdehnung und Bevölkerung der Stadt steigen rapide.

Die Presse 13.12.1890

Soeben ist eine statistische Arbeit über die Verhältnisse Groß-Wiens erschienen. Da die Vereinigung der Vorortegemeinden mit Wien zu einer neuen Großgemeinde unmittelbar bevorsteht, ist eine authentische Auseinandersetzung über die räumlichen Verhältnisse und die Bevölkerungszahl des neuen Gemeinwesens willkommen. Das Jahr 1850 brachte die Angliederung der Vorstädte an die innere Stadt, für jene eine nicht minder einschneidende Affaire, als sie sich heute für die Vororte darstellt, deren kleinster heute schon größer ist, als es damals viele der Vorstadtgemeinden waren. Das Jahr 1857 brachte die Stadterweiterung, und mit dieser beginnt das rapide Anwachsen der Vorstädte und Vororte. Das Diagramm, das die Bevölkerungszunahme darstellt, zeigt uns vom Jahr 1850 eine steil aufsteigende Linie mit gleichmäßiger Steigung. Der 4., 5. und 10. Bezirk haben die steilste Linie. Ihre Bevölkerungsziffer steigt, von 1857 bis 1890 berechnet, von 90.000 auf 170.000, dann folgt der 2. Bezirk, der von 56.000 auf 120.0000 steigt, der dritte Bezirk mit einem Zuwachs von 61.000 auf 91.000; auch im 9. und 1. Bezirk ist eine fortwährend steigende Tendenz verzeichnet. Anders stehen die Verhältnisse im 6.,7. und 8. Bezirk, die nahmen seit 1869 an Bevölkerung ab.

Die Gesamtzahl der Häuser in Wien hat im Jahr 1830 nur 8037 betragen, im Jahr 1890 ist sie auf 13.321 gestiegen; betrachtet man die Flächen von Wien in seiner jetzigen und künftigen Ausdehnung, so zeigt sich jetzt ein Raum von 55,4 Quadratkilometern, künftig 178 Quadratkilometern. Josefstadt ist der kleinste Bezirk, dann Fünfhaus, Mariahilf, Neubau, Wieden, Rudolfsheim, Margarethen, Alsergrund, innere Stadt, Landstraße, Meidling, Währing, Ottakring, Hernals, Döbling, Favoriten, Simmering, Hietzing und Leopoldstadt. Der Umfang dieser Stadt ist gleich der Entfernung von Wien bis Preßburg. Der Bevölkerungsmenge nach reihen sich die Bezirke wie folgt: II., III., XVI., V., XVII., IX., I., VII., XVIII., XII., IV., VI., X., XV., VIII., XIV., XIII., XI., XIX. Neubau und Mariahilf sind die dichtest bewohnten Bezirke. An Steuerleistung steht die innere Stadt obenan, dann folgen Leopoldstadt, Neubau und Landstraße.

Die Kaiserin und ihr Lieblingsdichter

Elisabeth besaß die Originalhandschrift von Heines „Wintermärchen“

Neue Freie Presse 12.12.1915

Kaiserin Elisabeth besaß das Manuskript von Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“, das Original dieser episch-lyrischen Satire, die Anfang 1844 entstand, ein ganzes  Heft mattfarbener Blätter, auf denen sich die Verse und Strophen des Dichters, klar und deutlich zu lesen, aneinanderreihen. Dass die edle Besitzerin ihres Schatzes oft im stillen sich erfreute, darf als sicher angenommen werden. Es ist auch fraglich, ob sie sich von den Ungezogenheiten und Derbheiten, wovon gerade das Wintermärchen voll und übervoll, besonders abgestoßen fühlte. Sie stand dem Dichter nicht eklektisch gegenüber, sie nahm ihn, wie er war und wie er sich gab, mit Licht und Schatten, seinen Vorzügen und seinen Fehlern. Ihre Sympathie bewegte sich rund um die volle, ungeschmälerte, ungeteilte Persönlichkeit. Es gibt kaum einen Verehrer Heines, der nicht seine Vorbehalte in petto hielte. Nicht so diese hohe Frau. Gewiss war es zunächst die süße Schwermut seines Gesanges, die sie anzog. Man fragte sie, welches seiner Lieder ihr am besten gefalle, und sie antwortete: „Alle! Denn alle sind nur ein einziges Lied, eines und dasselbe. Sein Unglauben an die eigene Sentimentalität und Begeisterung ist auch mein Glaube …, ich liebe an ihm seine grenzenlose Verachtung der eigenen Menschlichkeiten und die Traurigkeit, mit der ihn die irdischen Dinge erfüllten.“ Ein merkwürdiges Bekenntnis. Nicht bloß die Süßigkeiten des Liedes war es, was dieser Frau gefiel, sie liebte auch das Hohngelächter, das aus demselben Munde der holden Trauer nachklang, den Schmerz, der sich selbst auslachte, die Poesie, die sich selbst vernichtete, die ganze Wollust der Selbstverspottung. Das Zerrissene fesselte sie nicht weniger als das Abgeklärte. Sie liebte auch die Dissonanz, kein Wunder, dass sie das Autogramm des Wintermärchens als köstliches Gut zu schätzen wusste.

Anm: Dazu schrieb Stefan Zweig 1916: „Heines ganzer handschriftlicher Nachlass hat sich in zahllosen, flüchtigen Blättern über die Welt verstreut … Nur eine Frau hat versucht, das Schönste seines Werks in Verehrung zu vereinigen, die verstorbene Kaiserin Elisabeth von Österreich, die auch auf Korfu in ihrem weißen Schlosse ihm das erste Denkmal setzen ließ. Ihr Sohn, der Kronprinz Rudolf, wusste ihr keine größere Geburtstagsfreude zu bereiten, als durch den Erwerb von Handschriften ihres Lieblingsdichters. Über den ganzen Umgang dieses Besitzes, der heute in den Händen der Erzherzog Marie Valerie sich befindet, sind bisher Publikationen noch nicht erfolgt, doch stellt offenbar das Manuskript von „Deutschland, ein Wintermärchen“ das Kronstück dieser Sammlung dar. …. Ein Revolutionspasquill im Besitz einer Kaiserin!“

Das Heer der arbeitenden Frauen - die Soldaten des Hinterlandes

"Wo man das Weib auch hinstellte, hat es entsprochen.“

Neue Freie Presse 11.12.1915

Die Verwendbarkeit der Frau im praktischen Leben ist eine der großen Erkenntnisse dieses Krieges. Wo man das Weib auch hinstellte, hat es entsprochen. Dass sie den Mann im Hinterlande in vielen Berufen in dieser schweren Zeit vertreten kann, dies beweist manche Frau tagtäglich. Heute stehen nicht nur Schaffnerinnen im Dienste der Trambahnen und dergleichen, sondern brave Frauen arbeiten in Metallbetrieben an Stellen, die man früher als ausschließliche Domäne starker Männer ansah. Die männlichen Kollegen aber sehen mit Achtung auf diese tüchtigen Arbeiterinnen. Ja, es hat sich vielfach eine erfreuliche Art von Wetteifer aus diesem Nebeneinander von Mann und Weib ergeben. Kein Zweifel: Die für das Heer arbeitende Frau ist der Soldat des Hinterlandes!

Wenn nun daran gedacht wird, in einem noch größeren Maßstab als bisher die Frauenarbeit zu fruktifizieren, so kann die Obsorge auf die sonstigen Pflichten der Frau als Mutter nicht außer Acht gelassen werden. Sie muss in den Stand gesetzt werden, ihre Obliegenheiten gegenüber ihrem Haushalt und hinsichtlich ihrer Kinder gerecht zu werden. Das kann unschwer dadurch erzielt werden, dass neben den Betrieben, in denen die Frauen arbeiten, Heimstätten für ihre Kinder geschaffen werden, in denen auch der Mutter Gelegenheit gegeben ist, ihre Kinder zu stillen, wie dies schon lange in Schweden und Norwegen eingeführt ist.  Auch die Einführung von Halbtagsschichten ist eine begrüßenswerte Anregung.

Welche Folgen würde diese Frauenmobilisierung im kommenden Frieden zeitigen? Eine Verdrängung des Mannes? Zuverlässig nicht! Dass viele Arbeiterinnen Ersätze für gefallene oder invalid gewordene Männer sein werden, ist wohl verständlich. Den verstorbenen Helden vertritt dann seine Frau, seine Tochter. Zahlreiche Frauen werden jedoch nach Beendigung des Krieges wieder aufs Land, in die Küche usw. zurückkehren, also keine Platzräuber für den Mann sein, wohl aber tüchtigere Menschen als früher. Frauen, die stolz sagen werden: Auch ich habe zum großen Sieg beigetragen.

Gauner, Lügner und geborene Verbrecher

Hans Gross, der Vater der österreichischen Kriminalistik, ist tot.

Neue Freie Presse 10.12.1915

Der bekannte österreichische Kriminalist Professor Dr. Hans Gross ist heute in Graz im Alter von 68 Jahren gestorben. Sein bekannte s Werk, das „Handbuch für Untersuchungsrichter“, spielt in der juristischen Literatur eine wichtige Rolle. Es enthält Exkurse über Fragen der gerichtlichen Medizin neben scharfsinnigen Untersuchungen über Physiognomik, psychologische Studien über den geborenen Verbrecher oder über den pathologischen Lügner neben amüsanten Ausführungen über verwegene Gaunertricks und sehr ernsthafte linguistische Untersuchungen über das Rotwelsch der Gaunersprache. Der Grundsatz der Lehre von Hans Gross ist: Nicht das Verbrechen, sondern der Verbrecher ist Gegenstand der Strafe. Die Einführung der Kriminalistik in das Hochschulstudium ist das Verdienst seiner Lebensarbeit. Er hat die Lehre von den Verbrechen, seinen Erscheinungen, Bedingungen und Formen und zugleich die Besonderheit der Verbrecher in psychologischer und anthropologischer Hinsicht aus den verwandten Gebieten herausgelöst und durch eindringliche Studien zu einem selbständigen Wissensgebiet herausgearbeitet. Er wurde der Begründer der kriminalpsychologischen Richtung im Strafrecht. In Graz hatte er auch ein Kriminalmuseum ins Leben gerufen.

Anm.: Hans Gross spielt rückblickend in der Geschichte der Universität Graz eine bedeutende Rolle, 1905 wurde er zum Professor für Strafrecht ernannt. Seit 1893 war seine ständige Forderung, eine Lehrkanzel für Kriminalistik als strafrechtliche Hilfswissenschaft einzurichten, 1895 begründete er in Graz ein Kriminalmuseum und legte der Öffentlichkeit seine Erfahrungen im kriminalistischen Berufsalltag in einem „Handbuch für Untersuchungsrichter“ vor.  Der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftler Otto Hausmann würdigte ihn vor wenigen Tagen anlässlich des 100. Todestages als „Altmeister der Kriminologie“, der einen „Ehrenplatz im Olymp der Wissenschaften“ verdiene (Wiener Zeitung, 5.12.2015), habe er doch aus einer Hilfswissenschaft des Strafrechts eine neue akademische Disziplin geschaffen. Hausmann weist darauf hin, wie modern Gross‘ epochemachendes Werk über den „Untersuchungsrichter“ für die damalige Zeit war, er referierte über die Verwendung von Mikroskopen bei der Analyse von Blutspuren, Urin, Speichel, Sperma oder Haaren. Lebensferne Paragraphenjuristerei lehnte er ab. Lebensnah seine Tipps für die richtige Füllung eines „Tatortkoffers“ bei den Untersuchungen des Kriminalisten: Gips, um Abgüsse von Fußabdrücken zu machen; Glasröhrchen, um eine Magenprobe der Leiche zu entnehmen; eine kleine Schachtel mit Bonbons, das helfe beim Verhör kleiner Kinder; Zigaretten, um den strengen Leichengeruch zu überlagern; ein Kreuz, um Zeugen oder Sterbende darauf schwören zu lassen.  Insgesamt war das Werk ein Hymnus auf die Rolle des Untersuchungsrichters und für Generationen von Studierenden ein Standardlehrbuch für Kriminologie. Im Übrigen gilt das Werk auch als eine wichtige Quelle zur Erforschung der Gaunersprache des „Rotwelsch“.  Nicht erwähnt wird in dem Nachruf der „Neuen Freien Presse“  Hans Gross‘ Sohn Otto, der ein weit turbulenteres Leben als der Vater führte und es zu einiger Berühmtheit brachte: Er setzte sich als Psychiater für die Lehre Sigmund Freuds ein, geriet aber im Gefolge des Erstes Psychoanalytischen Kongresses 1908 in Konflikt mit Freud. Otto Gross, der sich auch in der Münchner Anarchistenszene herumtrieb, beharrte darauf, gesellschaftspolitische Schlussfolgerungen aus der psychoanalytischen Lehre Freuds zu ziehen, Freud lehnte das ab. Gross landete in einer Irrenanstalt, sein Vater Hans wurde als Kurator für den „wahnsinnigen“ Sohn eingesetzt. Der Sohn starb schon 5 Jahre nach dem Vater, 1920. Das Grazer Kriminalmuseum, dessen Räume derzeit nicht zugänglich sind, veranstaltete am 9. und 10. Dezember eine Tagung zum Wirken von Hans Gross, ebenfalls zur Wiederkehr des Todestages erschien die Studie „Hans Gross – ein ‚Vater‘ der Kriminalwissenschaft, hg. Von Christian Bachhiesl, Gernot Kocher, Thomas Mühlbacher, LIT Verlag, Wien 2015

Finanzierung des Votivkirchenbaus hängt in der Luft

Wenn sich keiner zuständig fühlt, geht nichts weiter.

Neue Freie Presse 9.12.1865

Die Votivkirche in Wien ist bekanntlich eine Reichsstiftung; es hat zwar Niederösterreich, speziell Wien, bei weitem den größten Teil zum Aufbaue beigetragen; aber es liegt in der Natur der Stiftung, dass der Bau als keine lokale Anlage aufzufassen ist – er ist eine Sache des Reiches, nicht eine Sache Wiens. Die Votivkirche hat direkt weder mit dem Stadterweiterungsfonds, noch mit dem Lande Niederösterreich oder der Commune Wien etwas zu tun. Ihre Vollendung liegt im Interesse aller, insbesondere jener östlichen Kronländer, die sich bis jetzt sehr wenig an dem Bau beteiligt haben, so sehr sie ein naheliegendes Interesse hätten, dass der Bau als Reichsstiftung behandelt werde. Zum Aufbaue fehlt noch mindestens eine Million. Es liegt indes gar kein Programm vor, wie das Comité, in dessen Hände die Oberleitung des Baues gelegt ist, diese Million aufzubringen gedenkt. Dasselbe scheint ohne alles Programm der Zukunft zusteuern zu wollen; woher die Mittel kommen sollen, scheinen die Mitglieder des Comités selbst nicht zu wissen.

(Anm: Der Grundstein für die Votivkirche in Wien wurde am 26. April 1856 gelegt, das war der zweite Jahrsetag der Hochzeit von Kaiser Franz Joseph I. mit Elisabeth. Sie trägt den Namen Votivkirche, weil sie als Sühnegabe nach einem Attentat auf den Kaiser gestiftet worden war, sie sollte mit Spenden aus dem gesamten Reichsgebiet finanziert werden. 300.000 Menschen folgten auch diesem Aufruf, doch die Spenden reichten nur für ein Drittel der Kosten. Die Kalamitäten sind also bereits zum Zeitpunkt dieses Artikels im Dezember 1865 absehbar. Schließlich musste man doch auf die Mittel des Stadterweiterungsfonds zurückgreifen, doch die Fertigstellung verzögerte sich gewaltig, erst am 24.4. 1879 erfolgte die Einweihung.)

Heute vor 100 Jahren: Wie kleidet man sich richtig im Winter?

Wollkleidung darf nicht zu eng anliegen und braucht Luftraum.

Neue Freie Presse am 7. 12. 1915

Die Winterkleidung spielt für den allgemeinen Gesundheitszustand auf einem verhältnismäßig kleinen Raume wie Wien, der vielen Hunderttausenden Lebens- und Bewegungsgrundlage gibt, die hervorragendste Rolle. Man hat erkennen gelernt, dass die enganliegenden dichten Kleidungsstücke, die sich so weich und mollig anfühlen und die als die hervorragendsten Wärmeschutzmittel gelten, nicht in demselben Maße hygienisch sind. Das gilt namentlich von Pelzwerk und dichtgewebten, enganliegenden Kleidungsstücken. Dieselben sind undurchlässig, erzeugen wohl Wärme, verhindern aber das gleichmäßige Transpirieren, den Zu- und Abfluss der Luft, und verursachen dadurch bei plötzlichem Witterungsumschwung, oft aber auch schon beim Betreten und Verlassen geheizter Räume Krankheitsbildungen. Für den Wiener, der gewohnt ist, mehrere Stunden im Tag in überheizten rauch- und dunstgeschwängerten Lokalen zu verbringen, gewöhnlich in überfüllten Räumen, wo die Ausdünstungen nicht durch entsprechende Lüftung dauernd und regelmäßig besorgt werden kann, wird diese Möglichkeit zur Erwerbung von Krankheiten oder Krankheitskeimen wesentlich gesteigert. Die einzig vernünftige Kleidung, welche einen gewissen Schutz gegen Erkältungen bietet und die Abhärtung gegen Witterungseinflüsse vorbereitet und ermöglicht, ist eine leichte, poröse Wollkleidung, die dem Körper nicht eng anliegt und deren Wollfäden selbst Luftraum genug bieten.

Clique um Richard Wagner beherrscht den Hof des Bayernkönigs

Intrigen und heftige Kunstdebatten in München.

Neue Freie Presse am 7. 12. 1865

Von Zeit zu Zeit erhebt sich gegen den Einfluss, welchen Wagner auf den jungen, musikbegeisterten König übt, ein Sturm in der Umgebung des kunstsinnigen Herrschers, dem kleinere Intrigen als Präludium zu dienen pflegen. In neuerer Zeit ist man wieder schlimmer als je auf den Komponisten zu sprechen. Man erzählt von kolossalen Summen, die er dem königlichen Schatze koste, und schreibt ihm von klerikaler Seite sogar Einmengung in die Politik zu. Die Zeitung „Der Volksfreund“ schreibt: Die Aufregung unter der loyalen Bevölkerung über das unverantwortliche Gebaren der Clique Richard Wagners, die jetzt den baierischen Hof beherrscht, wächst in bedenklicher Weise. Wie weit der jetzt am baierischen Hof herrschende Kunst-Enthusiasmus geht, davon liegt ein neuester Beweis vor. Bei der morgigen Aufführung von Schillers „Maria Stuart“ soll auf dem königlichen Hof auch die Beicht- und Kommunionszene mit dargestellt werden. Nun entspinnt sich eine Diskussion, ob die Darstellung zweier Sakramente der katholischen Kirche auf der Bühne erlaubt sind. Wird etwa das Sakrament durch die würdige Vorführung seines Einflusses auf das religiöse Gemüt profaniert? Die Kirche, welche die Kunst so oft und mit Erfolg zu Hilfe ruft, sollte sich gerade gegen die darstellende sträuben? Die Komödianten auf der Bühne haben der Religion noch nie geschadet.

(Anm: Gemeint ist Richard Wagners Förderer Ludwig II. von Bayern. Die erste Begegnung zwischen dem kunstsinnigen jungen, erst zwanzigjährigen König aus dem Haus Wittelsbach und dem Komponisten war am 4. Mai 1864. In der Folge ließ der König dem verschuldeten Wagner große Summen Geld zukommen, er finanzierte damit unter anderem seinen Zyklus „Der Ring des Nibelungen“. Es kam zu einem regelrechten Aufstand der Münchner Staatsregierung und Mitgliedern der Bürgerschaft sowie der Familie des Königs gegen diese „Verschwendung“: Wagner musste Bayern verlassen, nur wenige Wochen, nachdem dieser Artikel erschienen war.)

Uraufführung der „Alpensymphonie“ von Richard Strauss

Ein Musikwerk, das ein wahres Fieber hervorruft

Neue Freie Presse 6.12.1915

Seit vielen Jahren, zumindest seit der „Salome“, gehört jede Erstaufführung eines Werkes von Richard Strauß zu den allergrößten Ereignissen der Musiksaison. Strauß‘ „Alpensymphonie“ hat nun in Berlin, das sonst künstlerische Ereignisse nicht leicht in den Vordergrund treten lässt, ein wahres Fieber hervorgerufen; in Wien ist sie gestern unter allen Zeichen der Sensation aufgeführt worden. So sieht Strauß mitten in der Kriegszeit die beiden größten deutschen Musikstädte bezwungen zu seinen Füßen, er hat alle Gipfel erklommen. Sein neues Werk verspricht ihm überdies das letzte: breitere Volkstümlichkeit.

Strauß‘ koloristisches Talent – man kann schon von einem koloristischen Genie sprechen – feiert Triumphe, und so wird uns ein abwechslungsreiches, oft sehr reizvolles, immer unterhaltendes Bilderbuch aufgeschlagen. Der Zuhörer, schon durch die Leutseligkeit des „Lektra“-Komponisten überrascht und gewonnen, kann – welche sensationelle Wendung! – mit einem Rosenstrauß wohlklingender Musik nach Hause gehen. Der Erfolg war groß; Strauß, der selbst dirigierte und ebenso in der Klangschönheit des Philharmonischen Orchesters schwelgen mochte wie die Zuhörer, wurde ungezählte Male gerufen.

(Anm: Zur Diskussion um die richtige Schreibweise des Namens Strauss siehe: http://www.johann-strauss.at/wissen/ss.shtml)

Stimmungsbild aus Wien im Advent

Österreich blickt dem Weihnachtsfest optimistisch entgegen.

Neue Freie Presse am 5.12.1915

Ein amerikanischer Arzt hat auf der Durchreise zum ersten Mal Wiener Pflaster betreten und blieb einige Tage hier, bevor er die umständlich gewordene Reise nach Amerika antrat. Als er nach einem Stadtbummel durch die Innere Stadt ins Hotel zurückkehrte, war er fassungslos: „Himmel, ist das die Hauptstadt eines Landes, das seit sechzehn Monaten nach drei Fronten einen furchtbaren Krieg führt? Dieses Leben in den Straßen, diese blenden Auslagen, dieser Luxus, diese schönen eleganten Frauen! Wie muss dieses Wien erst sein, wenn Frieden auf Erden herrscht?“ Und als nun der Portier auf ihn zutrat und bedauernd erklärte, dass für die Hofoper keine Karte mehr aufzutreiben sei, da schüttelte der Amerikaner den Kopf und murmelte: „Das muss ich drüben erzählen, man wird es kaum glauben wollen.“ Ja, Wien lebt, atmet mit kräftigen Lungen, schreitet, während im Norden und Süden, im Osten und Westen um Sein und Nichtsein gerungen wird, seinen Gleichschritt weiter, und nur der ganz Eingeweihte, nur wer ganz unter die Oberfläche schauen kann, merkt gewisse Veränderungen. Das ist eine der großen Verblüffungen dieses Krieges. Als an einem schwülen Julitag das Wort „Krieg“ gellend durch die Straßen gerufen wurde, schien das Leben erschlagen zu sein und in Agonie zu versinken. Viele Geschäfte trugen sich mit dem Gedanken, auf Kriegsdauer zu schließen. Die Schwarzseher sahen im Geiste dunkle Straßen, in denen nichts wahrzunehmen ist als herabgelassene Rollbalken, verdüsterte Menschen und Armut, nichts als Armut. Also, es ist anders gekommen, und zwar gründlich anders. Millionen von Kronen sind im Inland im Umlauf geblieben, neue Vermögen sind entstanden. Wieder steht Weihnachten vor der Tür und mit ganz anderer Stimmung, mit ganz anderer Lebenskraft sieht nach einer Reihe weltgeschichtlich bedeutungsvoller Siege Wien dem Feste entgegen.

Merkwürdige Position des Rechnungshofs in der Verfassung

Das Kontrollorgan ist direkt dem Kaiser zugeordnet.

Neue Freie Presse am 4.12.1915

Der Oberste Rechnungshof ist eine der wichtigsten verfassungsmäßigen Einrichtungen im Staate. Ihm obliegt die Prüfung der Gebarung mit den Staatseinnahmen und Staatsausgaben und mit dem Staatsvermögen; er hat die gesamte Verwaltung, somit alle Ressorts, bis in die einzelste Rechnung zu kontrollieren. Sein Prüfungsrecht bietet die Gewähr, dass die Ministerien die in ihre Kassen fließenden Gelder wirklich in Übereinstimmung mit den im Staatsvorschlag vom Reichsrat dem betreffenden Ressort erteilten Bewilligungen verwenden. Trotzdem fällt die konstitutionelle Grundlage für die Wirksamkeit dieser Behörde aus dem Rahmen der Verfassungsgesetze heraus. Der Oberste Rechnungshof übt nämlich seine Funktionen nicht auf Grund eines Gesetzes aus, sondern auf Grund einer kaiserlichen Verordnung von 1866, in einer Zeit also, in welcher die 1861 geschaffenen verfassungsmäßigen Einrichtungen sistiert waren. Das hat seine Spuren in dem Statut des Obersten Rechnungshofes hinterlassen. Obwohl dieser die Kontrolle über die Minister auszuüben hat, diese aber wieder für ihre Amtstätigkeit dem Reichsrat verantwortlich sind, hat der Oberste Rechnungshof nicht dem Parlament, sondern dem Kaiser direkt Rechenschaft über die Resultate seiner Tätigkeit zu erstatten und eventuelle Anstände, die sich bei Prüfung der Rechnungen ergeben, der kaiserlichen Entscheidung zu unterbreiten.

(Anm: Die Gründung des Rechnungshofes geht auf eine kaiserliche Verordnung von Franz Joseph I vom 21.11.1866 zurück, sein Leiter hatte Ministerrang, die Organisation war dem Kaiser direkt unterstellt. In der konstitutionellen Monarchie ab 1867 gingen zwar wesentliche Befugnisse im öffentlichen Finanzwesen, insbesondere die Budgeterstellung, auf den Reichsrat über, der Oberste Rechnungshof aber, der die Kontrolle innehatte, blieb jedoch dem Kaiser zugeordnet. Erst die 1918 entstandene Republik unterstellte den Rechnungshof dann der Nationalversammlung.)

Erstmals elektrische Zählmaschine bei einer Volkszählung

Erfindung der Lochkarte ermöglicht rasche Datenverarbeitung. 

Die Presse 3.12.1890

Die elektrische Volkszählung. Die nächste Volkszählung wird unter dem Zeichen der Elektrizität vor sich gehen, denn sie wird der neuen elektrischen Zählmaschine, welche von der statistischen Central-Commission hergestellt wurde, Gelegenheit bieten, sich zum erstenmale bei einer großen statistischen Arbeit zu erproben. Heute wurde die elektrische Zählmaschine Vertretern der Presse „vorgestellt“, um diese für die Zwecke der Statistik so eminent wichtige Erfindung dem großen Publicum bekannt zu machen. Wir empfanden beim Betreten des Saales ein gewisses Gefühl der Scheu, beiläufig von der Art des Empfindens eines Menschen, dem man zum erstenmale in seinem Leben Schlittschuhe anschnallt und ihn dann hinausstößt in das feindliche Leben der Eisbahn. Die vielen Vorzüge der neuen Erfindung wurden uns erläutert: Bisher musste die Statistik bei ihren Arbeiten hübsch Eines nach dem Anderen vornehmen; nun ist sie aber in der Lage, Vieles zugleich zu machen. Bisher bestand das Urmaterial bei einer Volkszählung, wie sie demnächst am 1. Jänner 1891 stattfinden wird, aus den Tabellen, die von den Gemeinden an die statistische Centralstelle eingeschickt wurden. Aber die Ausfertigung der Tabellen wurde von den betreffenden Ämtern nur schlampig durchgeführt. Die Einführung der Zählmaschine macht nun die ganze tabellarische Arbeit, wie sie bisher geleistet wurde, überflüssig, ja noch mehr, sie kann Tabellen überhaupt nicht brauchen. Der Pfarrer, der bisher eine Tabelle mit 70 Rubriken eingeschickt hat, wird in Zukunft nichts weiter zu tun haben, als eine simple Liste der in seinem Sprengel vorgekommenen Geburten, Todesfälle, Taufen, Verheiratungen etc. anzufertigen, und in gleicher Weise vereinfacht sich die Arbeit des Staatsanwalts mit seinen „Verbrechertabellen“, die der Bezirksämter etc. Alle diese Ämter werden ihr Urmaterial in Form von einfachen Listen abfassen. … Die Verwendung der Maschine hat zur Voraussetzung, dass die zu zählenden Daten vorerst durch Perforierung in der Weise auf Kärtchen übertragen werden, dass jedes an einer bestimmten Stelle der Karte angebrachte Loch, beziehungsweise jede Combination von zwei oder mehreren Löchern, eine bestimmte Eigenschaft des zu zählenden Individuums ausdrückt. Ist das gesamte Material auf Karten umgelegt, so beginnt erst die Tätigkeit der Zählmaschine, deren wesentlicher Bestandteil, der Contact-Apparat, die Aufgabe hat, dort, wo in jeder Karte Löcher angebracht sind, elektrische Ströme zu schließen. Es genügt, die Karten, welche die Volkszählungs-Ergebnisse enthalten, fünfmal durch den Apparat zu führen, um die Ergebnisse der Zählung mit ungleich feinerem Detail und in ungleich reicheren Combinationen tabellarisch darzustellen, als dies nach irgend einer anderen Methode möglich ist.

Anm.: Das System, das bei der Volkszählung Anfang 1891 erstmals in Österreich verwendet werden sollte, wurde 1890 erstmals in den USA bei einer Volkszählung erprobt. Es trug zu einer enormen Beschleunigung der Auszählung bei. Die Methode geht zurück auf eine Erfindung des amerikanischen Unternehmers und Ingenieurs Herman Hollerith (1860-1929), der das Lochkartenverfahren in der Datenverarbeitung entwickelt hatte, das in der Folge auch nach ihm benannt wurde. Sein erster größerer Auftrag zu einer Volkszählung nach den USA kam aus Russland, wo erstmals eine Volkszählung durchgeführt wurde. Die von ihm gegründete Firma Tabulating Machine Company (1896) entwickelte sich nach einigen Fusionierungen 1924 schließlich zur Firma IBM (International Business Machines Corporation). In Österreich fanden ab 1880 alle zehn Jahre Volkszählungen statt, die Methoden des Statistikamtes waren sehr fortschrittlich, denn im selben Jahr, 1890, in dem in den USA die elektrische Zählmaschine zum Einsatz kam, wurde sie auch schon in Österreich vorgestellt. Der Artikel in der „Presse“ berichtet auch richtig, dass ein Wiener Elektrotechniker nach der Vorlage von Herman Hollerith eine Zählmaschine speziell für die Bedürfnisse der österreichischen Volkszählung entwickelte. Es war dies Theodor Heinrich Otto Schäffler (1838-1928). Nach der Präsentation für die Journalisten ließ sich auch der Kaiser am 9. Mai 1891 bei seinem Besuch in der k.k. Statistischen Zentralkommission das Verfahren vorführen.

Der weiße Häuptling der Maoris

Das Naturhistorische Museum zeigt die Sammlung des Maoriforschers Andreas Reischek.

Die Presse 2.12. 1890

Im Naturhistorischen Museum sind derzeit die Sammlungen zu besichtigen, welche Herr Reischek als Resultat 12 1/2jährigen Aufenthalts in Neuseeland nach Österreich brachte. Diese Sammlungen enthalten ein so reichhaltiges Material für die Anthropologie und Ethnographie, für Zoologie, Mineralogie und Botanik, dass sie schon um ihres großen Reichtums willen nicht nur wertvoll sind, sondern auch wissenschaftliches Studium herausfordern. Da sie aber zudem auch eine ganze Reihe von Objecten enthalten, die einzig und unersetzbar sind, die kein anderes Museum besitzt, so begreift man, dass die wissenschaftlichen Institute wetteifern, um Reischeks Material zu erhalten.  Reischek selbst erzählte manches von seinen Abenteuern, von dem Leben unter den Maoris, die zwar den Fremden mit Misstrauen betrachten, aber, sobald sie ihn als vertrauenswürdig kennen gelernt haben, wie einen Häuptling ehren und behandeln. Obzwar sie Augen, Hirn und Herz ihrer Feinde verzehren, also Cannibalen sind, seien sie doch sonst gutmütige Menschen, und er habe unter ihnen Treue, Edelmut und Liebe und so echte Freundschaft kennen gelernt, dass er sagen könne, sie hätten sich nie falsch gezeigt. Seine Lebensweise habe er, was Kleidung, Nahrung und Wohnung betrifft, der ihrigen angepasst und friedlich unter ihnen gelebt. Merkwürdig ist, dass das eingeborene Volk von Neuseeland sich heute noch mit Vorliebe der Steinwerkzeuge bedient und mit diesen ungemein mühsame Kunstarbeiten ausführt.  Neuseeland böte, so Reischek, mannigfache Gelegenheit zu Handelsbeziehungen mit Österreich für Export und Import – dazu gehört aber kaufmännischer Unternehmungsgeist, den die Engländer und die Deutschen haben, während die Österreicher warten, bis die Kundschaft zu ihnen kommt, und somit laufen ihnen die anderen Nationen den Rang ab. Der Maorikönig wäre auch bereit gewesen, sein Land dem „Austaria“-Kaiser abzutreten – allein wir haben wahrlich genug mit unserer inneren Politik zu tun.

Anm: Andreas Reischek (1845-1902), dem in dem Zeitungsartikel der Vorname vorenthalten wird, hatte sich als Autodidakt umfangreiche Kenntnisse in Zoologie und Botanik erworben. 1877 wurde er durch einen Zufall kontaktiert, als der Direktor des Museums im neuseeländischen Christchurch einen fähigen Präparator und Sammler suchte. Zunächst war die Aufgabe für 2 Jahre geplant, schließlich wurde mehr als 12 Jahre daraus. Reischek bemühte sich, das bis dahin weitgehend unbekannte, für Europa teilweise sogar verbotene Land zu erforschen und naturwissenschaftliche Objekte zu sammeln. Insgesamt führte er acht größere Expeditionen durch. Den Kannibalismus der Maoris führte er auf ihren großen Fleischbedarf zurück: Als nämlich der Riesenstrauß – und damit die Hauptfleischnahrung – ausstarb, suchten die Maoris im Kannibalismus Ersatz; das änderte sich erst, als die Europäer Nutztiere in Neuseeland einführten. Weil sie Reischek mochten, erhoben ihn die Maori zu einem Häuptling mit dem Ehrennamen „Ithaka Reiheke te Kiwi, Rangatira te Auturia“, d.h. Häuptling Reischek, der Schnepfenstrauß, Fürst von Österreich. 1889 kehrte er nach Österreich zurück, 12 Jahre lang hatte seine Ehefrau in unwandelbarer Treue auf ihn gewartet und schenkte ihm jetzt einen Sohn. Reischek arbeitete in Linz als Kustos und Präparator am Museum Francisco-Carolinum, seine umfangreichen Sammlungen enthalten u.a. 8000 Fische und Reptilien, 3000 Vögel, 2500 Pflanzen und 1200 Ethnographica. Sie befinden sich heute im Naturhistorischen Museum bzw. im Museum für Völkerkunde in Wien. Reischeks Bedeutung als Ethnologe wurde erst nach seinem Tod erkannt. Sein 1892 geborener Sohn Andreas wurde Journalist und half mit, die österreichische Ravag aufzubauen, später war er Programmdirektor des Landesstudios Oberösterreich. Er hielt zahlreiche Vorträge über die Forschungstätigkeit seines Vaters. 1924 erschienen die gesammelten Berichte unter dem Titel „Sterbende Welt. Zwölf Jahre Forscherleben auf Neuseeland. Nachlass von Andreas Reischek.“

"Schlimmer als die Deutschen sind die Ratten"

Ungeziefer ist die größte Plage in den Schützengräben.

Neue Freie Presse 1.12.1915

Unter diesem Titel sendet ein französischer Soldat dem Pariser „Journal“ einen verzweifelten Bericht über die furchtbare Plage, die die Ratten für die französischen Soldaten in den Schützengräben bedeuten. „Alles ist mit Ratten überschwemmt“, heißt es in dem Briefe: „Laufgräben, Verbindungswege, Felder, Buschwerk. Die Unterstände wimmeln von diesen ekelhaften Tieren, die wie die deutschen Bataillone die dort befindlichen Soldaten angreifen. Die ganze Westfront ist mit ihnen angefüllt. Der Hunger macht sie rasend und dadurch für die schlafenden Soldaten geradezu gefährlich. Sie schonen nichts, selbst die Päckchen mit Verbandzeug schleppen sie fort. Die sogenannten ‚kleinen Rationen‘ wie Zucker, Salz, Kaffee und dergleichen sind den Mannschaften schon längst weggenommen worden, weil sie auf die Ratten eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben, und die übrigen Lebensmittel werden in Kisten und starkem Eichenholz verschlossen gehalten. Da aber auch diese der Gier der Ratten keinen genügenden Widerstand leisteten, so hat man sich jetzt dazu entschlossen, die Kisten an Eisendrähten einen Meter über dem Boden aufzuhängen, aber auch dieses Mittel hilft nicht viel. Denn die Ratten haben klettern gelernt, sie laufen an den Wänden empor oder beißen sich durch die Holzdecken und lassen sich dann auf die Kisten mit Lebensmitteln niederfallen. Das Niederdrückende bei dieser Plage ist, dass alle Abwehrmittel versagen. Gegen die Deutschen haben wir ‚unseren Joffre‘, aber gegen die Ratten haben wir nur gelehrte Untersuchungen und papierene Rezepte. Bei ‚Friedensratten‘ mögen die chemischen Zusammensetzungen wohl von Nutzen sein, aber die Kriegsratten, die so groß sind wie die Kaninchen, lachen über die Mittel, mit denen man sie vertilgen will.“

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