Karl Renners vergeblicher Kampf um Südtirol

Der weißbärtige Bundespräsident Renner in der ersten Reihe, daneben der neue Regierungschef Leopold Figl 1946.
Der weißbärtige Bundespräsident Renner in der ersten Reihe, daneben der neue Regierungschef Leopold Figl 1946.(c) APA/Österr. Nationalbibliothek
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Der Bundespräsident richtete vor siebzig Jahren an Stalin eine Denkschrift: Gebt uns bitte Südtirol zurück!

Mit einer „kurzen“ Denkschrift wendet sich der neue Bundespräsident Karl Renner am 6. Februar 1946 an den sowjetischen Machthaber Josef Stalin. Er versucht, so wie die österreichische Bundesregierung, Südtirol zurückzugewinnen, das im Vertrag von St. Germain 1919 abgetrennt und Italien zugeschlagen wurde. Renner führt alle Argumente für eine Revision dieses damaligen Friedensvertrags an. Doch die besseren Karten hatte letztlich Italien.

Renners Brief (gekürzt): „Hochverehrter Herr Generalissimus, Genosse Stalin!
Verzeihen Sie, dass ich in dieser meiner Anrede die alles überragende Persönlichkeit und den größten Staatsmann unserer Zeit mit der vertraulichen Bezeichnung Genosse verbinde, die an die gemeinsamen Wurzeln der Weltanschauung anknüpft, die mich Ihnen näher bringt.“

„Das eigentliche Land Tirol“

Renner erinnert, dass er seinerzeit in St. Germain die Abtrennung Südtirols unterschreiben musste. „[. . .] Die Republik hat seit ihrer Konstituierung die in St. Germain erledigten Grenzfragen als res judicata behandelt – mit einer einzigen Ausnahme: Diese betrifft das deutschsprachige Südtirol, d. i. historisch und geographisch das eigentliche Land Tirol.

Das historische Tirol ist 1919 durch die Brennergrenze in drei Teile zerschnitten worden: gerade jener Teil, in dem die Stammburg Tirol liegt, [. . .] wo Tirols Nationalheld Andreas Hofer geboren und zuhause war, wurde an Italien gegeben, obwohl er sesshafte italienische Bewohner in beachtlicher Zahl kaum beherbergte. Jener Landesteil des einstmals habsburgischen Besitzes, der südlich der Salurner Klause liegt, war allzeit ebenso eindeutig italienisch, wie der Teil nördlich dieser Klause eindeutig deutschsprachig und seit Jahrhunderten österreichisch. Diese Sprachgrenze hat seit der Karolingerzeit sich nicht verschoben. [. . .]

Zum Trost die Brennergrenze

Nach den ursprünglichen Dispositionen der meisten in Paris 1919 tagenden Alliierten Mächte sollte das umstrittene Gebiet nördlich der Klause bei Österreich bleiben. Im letzten Augenblick änderten sich diese Dispositionen zu ungunsten Österreichs. [. . .] Im Hinweis auf die von Italien in Kleinasien und Syrien gebrachten militärischen Opfer und in Übereinstimmung mit der historischen Ambition Italiens auf die Aufrechterhaltung seiner vielhundertjährigen Position im Mittelmeer, beanspruchte es das türkische Cilicien. Die Mächte haben diesen Anspruch nach langen und erbitterten Verhandlungen im letzten Augenblick endgültig verweigert, dafür aber Italien zum Troste und zur Begütigung seiner öffentlichen Meinung die Brennergrenze zugesprochen, einen Landerwerb, der an Wert nicht den Bruchteil des geforderten vorderasiatischen Interessengebietes und kein Äquivalent dafür bot, jedoch dank einer vieljährigen Agitation im ganzen Volke ein rein moralisches Gewicht besaß. Die Errungenschaft des Brenners sollte den Unterhändlern ihre Stellung im römischen Parlamente erleichtern. Die Gabe war umsonst: Trotz dem Brenner entzündete sich an der Enttäuschung der italienische Faschismus.

Militärisch sinnlos

Als Präsident der österreichischen Friedensdelegation hatte ich in St. Germain Gelegenheit, diesen für uns tragischen Verlauf der Verhandlungen zu verfolgen und musste mir traurigen Herzens eingestehen, dass Italien als Mitsieger aus unserem Besitze entschädigt wurde und dass Österreich als Mitbesiegter in dem vierjährigen Kriege gegen die einmal getroffene Entscheidung mit Erfolg anzukämpfen keine Aussicht hatte.

Die damalige militärische und politische Lage besteht jedoch heute nicht, sie hat sich eher umgekehrt: Italien war dieses Mal ein kriegführendes, den Alliierten feindliches Land – Österreichs Volk ohne Staat ist selbst ein Opfer der Annexion, die Republik kein kriegführender Staat und Österreich eine befreite Nation. Es besteht der Grund der damaligen Begünstigung eines Verbündeten diesmal nicht – Italien war nicht Verbündeter der Alliierten, sondern Feind.

[. . .] Die Salurner Grenze ist in der Defensive ebenso sicher wie die Brennergrenze und sie ist von Italien aus leichter zu verteidigen als die Brennergrenze. Dies nicht nur aus militärischen, sondern vor allem aus Bevölkerungsgründen: Sie liegt in einem fremdsprachigen, annektierten, in einem aus nationalem Widerstreben den Italienern nicht gewogenen Landstrich.

Trotz diesen Maßregeln, die das tausendjährige Land in drei Stücke Nord-, Süd- und Osttirol zerrissen, hat Deutschsüdtirol seinen völkischen und sprachlichen Charakter behauptet. Der nördlich des Brenner gelegene Teil aber war zum lebensunfähigen Torso geworden: Er ist kein Land (Canton), kein staatlich handbares Gebilde mehr, sondern eine blosse West-Ostpassage, ein Flusstal, das im Norden von der Kalkalpen-, im Süden von der Uralpenkette begrenzt, im Norden von Deutschland, im Süden von Italien eingesehen und artilleristisch beherrscht ist. Die Landkarte zeigt, dass das sonst arrondierte Hauptgebiet der Republik Österreich infolge dieser Passage sich nach Westen in einem schmalen Streifen fortsetzt, der mit Vorarlberg abschließt: Ein Flusstal, eine Chaussee, eine Bahnlinie – das ist alles, was von Tirol übrig geblieben ist, was Österreich mit der Schweiz und Westeuropa über den Arlberg verbindet!
Und die Brennergrenze schneidet den dritten Teil des alten Landes Tirol, das sogenannte Osttirol ganz ab, denn es führt keine Bahnverbindung mehr von Innsbruck nach dem Osttiroler Vorort Lienz, außer auf dem langen Umweg über Salzburg und Kärnten.

[. . .] Es war und ist diese territoriale Gestaltung, welche ein abgeschnürtes, von Südtirol getrenntes und mit Osttirol nicht mehr verbundenes Nordtirol verkehrsmässig und wirtschaftlich zu dem umklammernden Deutschland hindrängen muss, Nordtirol sowohl als auch das durch den Arlberg gleichsam nur mit einem Faden mit Wien verbundene Vorarlberg. In diesem Umstand liegt ein wesentlicher Punkt des Anschlussproblems, der offenbar von Vielen übersehen wird. Denn viele haben nur Wien und den Osten Österreichs vor Augen – das Problem aber wird immer wieder vom Westen Österreichs aufgerollt. Es liegt im Interesse ganz Europas, dass diese Wunde seiner territorialen Ordnung geschlossen wird.

„Eine militärische Gebotenheit“

Für Europa ist diese einzige, zwischen Deutschland und Italien gelegene, gegen Nord und Süd gesicherte Querverbindung zwischen Westen und Osten, von London und Paris über Wien nach Budapest und Osteuropa, unerlässliche Notwendigkeit und sie zu sichern eine verkehrsgeographische, ja eine militärische Gebotenheit. Das schmale Band des heutigen Nordtirol bietet diese Sicherheit nicht, denn es ist mit Leichtigkeit durchschnitten. Diesen Weg dem Westen zu versperren, eine direkte Grenze zwischen dem Reich und Italien herzustellen, war vom ersten Tage an im Kriegsplan der beiden faschistischen Imperatoren gelegen und war mit einer der wichtigsten Beweggründe Hitlers zur Annexion Österreichs.

Renners strategische Überlegungen

Vereinigt man dagegen Nord- und Südtirol, so entsteht nicht nur eine breite Landbrücke, sondern ein bequemer Parallelweg im Süden des Brenner, der Weg von Südungarn und Jugoslavien durch das Drautal über Villach, über das Toblacherfeld nach Bozen und Meran, ein Weg, der ohne das Dazwischenkommen der beiden Weltkriege schon längst durch einen Bahnbau über den Ofenpass in die Ostschweiz und so nach Zürich fortgesetzt wäre und die kürzeste Route nach Jugoslavien und den Balkan bildete, ohne Italien und Deutschland zu berühren. Beide Wege wären durch die gewaltige Bergfeste der Zentralalpen leicht verteidigt. Die Erfahrungen des zweiten Weltkrieges erhärten die Bedeutung dieser Sicherung sowie der Verdoppelung der West-Ostverbindung quer durch Mitteleuropa auf einem Gebiete, das dem beherrschenden Einfluss der zwei faschistisch-imperialistischen Großmächte Mitteleuropas wirksam entrückt wäre.

[. . .] Die Friedensverhandlungen von St. Germain habe ich mit der schmerzlichen Gewissheit verlassen, dass dort schwere Fehler geschahen – sie sind Europa, ja der Welt zum Verhängnis geworden. Ich möchte ein Vierteljahrhundert später nicht einen zweiten Friedensschluss erleben, der diese Fehler wiederholt und steigert.

RENNER
Ehemaliger Vorsitzender der Österr. Friedensdelegation in St. Germain, Präsident der Republik Österreich

„LOS VON ROM“

Anschluss? Autonomie? 155.000 Unterschriften sammelte die Südtiroler Volkspartei 1946 für eine Wiedervereinigung Tirols. Doch die Position Österreichs gegenüber Italien bei den Friedensverhandlungen 1946 in Paris war schwach.

Gruber/De-Gasperi. Die beiden Außenminister schlossen einen Vertrag, der Südtirol autonome Grundrechte sicherte. Österreich wurde als Schutzmacht der Südtiroler anerkannt.

Das Paket. 1957 erreichte die Bewegung „Los von Rom“ ihren Höhepunkt. 1960 brachte Außenminister Kreisky das Problem vor die UN-Vollversammlung, 361 Sprengstoffanschläge führten schließlich zu Verhandlungen, die 1972 mit dem Zweiten Autonomiestatut beendet wurden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

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