Am Ende waren die Grabhügel auf beiden Seiten gleich groß

First World War Wagon loads of German dead being removed Verdun France 1916 Mono Book Illustration
First World War Wagon loads of German dead being removed Verdun France 1916 Mono Book Illustrationimago/United Archives
  • Drucken

Aufopferung, Heldentum, nationales Epos – das 20. Jahrhundert hat rund um die Schlacht von Verdun viele Mythen in die Welt gesetzt.

Angreifer und Verteidiger von Verdun, der kleinen, von der Maas durchschnittenen Stadt im nördlichen lothringischen Bauernland, konnten sich gut im Fundus der geschichtlichen Mythen bedienen. Man konnte zurückgreifen auf das Jahr 843, den berühmten Vertrag von Verdun, durch den das Karolingerreich dreigeteilt wurde: Aus der westlichen Hälfte entstand später Frankreich, aus der östlichen Deutschland, und in der Mitte lag das Reich des Königs Lothar, Lothringen, das im Lauf der Geschichte immer wieder zur umstrittenen Beute der beiden benachbarten Reiche wurde und daher selten zur Ruhe kam. Kriege benötigen oft solche scheinheiligen Tarnargumente aus der Mottenkiste der Geschichte, in diesem Fall waren es die Besitzansprüche des Deutschen Reiches. Großspurig nannte daher der deutsche General Erich von Falkenhayn seinen Angriff vom Februar 1916, bei dem sich ausschließlich Franzosen und Deutsche auf einer Fläche von wenigen Quadratkilometern regelrecht ineinander verkrallten. Operation Gericht.

Militärisch gesehen war Verdun interessant, gleichsam ein Portal für eine Frankreich-Invasion, man konnte sich den Weg über Belgien sparen. Daher stand an dieser Stelle seit 1792 eine Festung, 1916 war hier der nördliche Eckpunkt des lothringischen Festungsgürtels mit 43 Forts. Die deutsche Armee hatte 1916 bereits Erfahrungen mit ihren Krupp-Haubitzen gesammelt, die selbst Festungen, die als uneinnehmbar gegolten hatten, wegbliesen. Seither war klar: Die Idee der Forts war veraltet, die Artillerie überlegen, der Festungsgürtel von Verdun mit dem Betonkoloss von Douaumont als Mittelpunkt daher leicht zu zertrümmern, Verdun einnehmbar.

Doch wozu? Ob über der Zitadelle von Verdun die Trikolore oder die Reichsflagge wehte, konnte nicht kriegsentscheidend sein. Jetzt stößt man auf die nächste Legende, die berüchtigte Weihnachtsdenkschrift des Generalstabschefs Falkenhayn, die er dem deutschen Kaiser angeblich zu Weihnachten 1915 überreichte, wo das Ziel einer Verdun-Schlacht skizziert worden sein soll: Nicht um einen Durchbruch oder einen Sieg an dieser Front gehe es, sondern um ein „Ausbluten“ der französischen Armee. Frankreich würde diesen symbolträchtigen Ort nie und nimmer kampflos aufgeben und Massen von Truppen hierher verlegen, Schritt für Schritt würde sich die französische Armee hier ausbluten und andere Fronten entblößen. Gaben die Franzosen auf, verloren sie Verdun, hielten sie durch, verloren sie ihr Heer. Diese „Blutpumpen“-Theorie, die Abscheu hervorgerufen und einen Wust an historischen Büchern gefüllt hat, ist nach jüngsten Forschungen substanzlos: Falkenhayns Weihnachtsdenkschrift, sie war im Original ohnehin nie einsehbar gewesen, hat es mit Gewissheit nie gegeben. Der monströs-zynische Plan: ein Fake.

Sakraler Dienst.
Das Trommelfeuer beginnt am 21. Februar 1916, im Lauf der Offensive verschießt die deutsche Armee über eine Million Tonnen Stahl auf französische Stellungen. Noch nie hat es auf so engem Raum eine solche Konzentration an Feuerkraft gegeben. Französische Einheiten geraten angesichts der neuen deutschen Flammenwerfer in Panik, die äußeren Schützengräben der überraschten Franzosen bröckeln, Fort Douaumont wird erobert, nach wenigen Tagen sind die Geländegewinne erreicht, die auch in den nächsten zehn Monaten nicht mehr übertroffen werden können. Denn Frankreich gibt die Stadt nicht auf und wirft Mannschaften nach Verdun, stilisiert die Verteidigung an der Maas zum „sakralen Dienst“ einer Nation. Eine Überhöhung der Bedeutung von Verdun, die zu der Einstellung geführt hat: Geben wir Verdun auf, geben wir ganz Frankreich auf.

Mehr als eine Million Soldaten standen sich bis Dezember 1916, denn so lang dauerte diese längste Schlacht des Ersten Weltkriegs, auf engstem Raum gegenüber. Das heißt, dass das Geschehen nicht nur durch den Einsatz moderner Kriegstechnologie, wie Flugzeuge, Gasgranaten, massives Geschützfeuer, Maschinengewehre und Flammenwerfer bestimmt wurde, sondern sich mit archaischen Elementen des Kriegs vermengte, dem Kampf Mann gegen Mann. Rückzug in sichere Positionen war den Soldaten untersagt, so duckten sie sich in die verschlammten Bombentrichter, bedroht vom „Stahlgewitter“ der einschlagenden Granaten, die mit ihren messerscharfen Splittern, den Schrapnells, einen Körper aufschneiden konnten. Die Infanteristen rückten immer nur hundert Meter vor, um dann wieder hundert Meter zurückzuweichen, wenn sie noch lebten. Auf diesem engen Raum wussten sie nicht: Waren sie jetzt im Angriff oder verteidigten sie?

Warum wählte man immer wieder den Weg der nächsten sinnlosen Offensive, obwohl überhaupt kein nennenswerter Terraingewinn erzielt wurde? Der Ursprung der Westfront liegt, man kann es nur mit den Worten von Jörg Friedrich in seinem Buch „14/18“ sagen, in der „billigenden Inkaufnahme der Vernichtungsidee“. Und: Ohne die Bereitschaft zur Selbstaufopferung ist diese Art von Krieg nicht führbar. Gab es die Sorge vor Meuterei? Es wurde großzügig Schnaps ausgeteilt, bevor die Soldaten in Lastwagen zur Front gekarrt wurden. Als sie, dort angekommen, die staubigen Planen zurückschlugen und die verkohlten Stumpen, die einmal Bäume waren, sahen, den süßlichen Leichengestank rochen und beim Graben der Stellungen mit ihren Spaten auf die verwesenden Glieder ihrer Vorgänger stießen, brauchte es nicht den Zynismus der Vorgesetzten, um festzustellen: Sie waren hergebracht worden, um zu sterben.

700.000 waren es am Ende der Schlacht, die ihr Leben verloren hatten. Am Ende waren als Ergebnis der Blutraserei die Grabhügel gleich groß: Die Menschen waren gestorben für einen Bodengewinn von praktisch null. Schon im März war den Deutschen der Sinn ihres Unternehmens abhandengekommen, man hätte eigentlich den Fehlschlag zugeben müssen. Der Kriegsplan war gescheitert, doch bis Dezember wurde seine Unerreichbarkeit nicht zugestanden, da blutete man lieber aus Prestigegründen die eigenen Leute aus.

Schlachtfelder bieten der Fantasie Stoff zur Mythenbildung, die Orte erhalten legendären Symbolcharakter. „Reklamefahrten zur Hölle“ nannte 1921 ein empörter Karl Kraus eine Zeitungsanzeige, mit der für Schlachtfeldrundfahrten nach Verdun geworben wurde. Frankreich hat Verdun gepflegt und aufgeladen als den Ort der Verteidigung des genuin Eigenen und Rettung des Vaterlands durch heroischen Einsatz aus eigenen Kräften. In Deutschland wurde es der Ort des sinnlosen Sterbens. Inzwischen ist Verdun, wo es zu keinerlei Entscheidung für den Kriegsverlauf kam, auf allen Seiten Sinnbild für sinnloses Blutvergießen und einzigartige Grausamkeit geworden. Das Schlachthaus der Welt.

JAHRESTAGE

1916Die Schlacht von Verdun, eine der bedeutendsten Schlachten des Ersten Weltkriegs, dauerte vom 21. Februar bis 19. Dezember 1916 und kostete nach Schätzungen 360.000 Franzosen und 335.000 Deutsche das Leben.

1984Eine der großen Versöhnungsgesten der Geschichte: Helmut Kohl und François Mitterrand reichen einander bei den Gräbern von Verdun am 22. September 1984 die Hände.

2016Angela Merkel und François Hollande werden am 29. Mai 2016 der Schlacht von Verdun gedenken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.