Wie Belgien am Konferenztisch gezeugt wurde

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Belgien, einst "Österreichische Niederlande", wurde 1830 unabhängig. Doch die Einigkeit, mit der Flamen und Wallonen gegen die Bevormundung gekämpft hatten, hielt nicht lange.

Als sich der Szenarist René Goscinny und der Zeichner Albert Uderzo im Jahr 1977 daran machten, ein neues Abenteuer von Asterix und Obelix zu konzipieren, hatten sie ihre berühmten Schöpfungen bereits durch die halbe Weltgeschichte der Antike geschickt – von Rom bis nach Germanien, von Ägypten bis nach England, von Griechenland bis nach Spanien. Ein kleiner Flecken in unmittelbarer Nachbarschaft des unbezwungenen gallischen Dorfes war bis dahin stets ausgelassen worden: Belgien. Dabei hatte Julius Cäsar selbst in seinen Kriegstagebüchern „De Bello Gallico“ davon berichtet, dass unter den Stämmen Galliens die Belgier die tapfersten seien. Und so erwiesen die französischen Comics-Helden mit mehrjähriger Verspätung ihren Nachbarn im Norden die Ehre – und waren über ihren Kampfesmut derart erstaunt, dass Obelix während des gesamten Aufenthaltes kein einziges Mal auf die Idee kam, die Belgier für verrückt zu erklären. Ils sont fous, ces belges? Im Gegenteil.

Die von Goscinny und Uderzo gepriesene Widerborstigkeit war das Produkt jahrhundertelanger Fremdherrschaft und zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen. Der Startschuss für die Staatswerdung Belgiens fiel im 16. Jahrhundert, als sich die niederländischen Provinzen gegen die Oberhoheit der spanischen Habsburger auflehnten und 1648 die Unabhängigkeit erlangten – mit Ausnahme des heutigen Belgiens und Luxemburgs, die als Spanische bzw. Österreichische Niederlande habsburgisch blieben. 1795 zog das revolutionäre Frankreich den Schlussstrich unter die Herrschaft der Habsburger, 20 Jahre später war auch die französische Vorherrschaft über Belgien Geschichte – und die 1815 in Wien versammelten Kongressteilnehmer standen vor der Herausforderung, die Region neu zu ordnen, ohne dabei einen zukünftigen Kriegsgrund zu produzieren. Die Lösung, auf die man sich schlussendlich einigte, war die Vereinigung mit den benachbarten Niederländern – und sie hatte vor allem aus der britischen Perspektive den angenehmen Nebeneffekt, dass das um die Österreichischen Niederlande, das Fürstbistum Lüttich und Luxemburg aufgewertete Königreich Niederlande als Puffer zwischen Frankreich und dem erstarkenden Deutschland fungierte.

Im Windschatten Frankreichs. Doch der Wiener Kongress hatte seine Rechnung ohne die Belgier gemacht. Denn im Gegensatz zu ihren neuen Landsleuten im Norden waren sie – bzw. die belgischen Eliten – überwiegend katholisch und frankofon und nicht calvinistisch und flämischsprachig. Die Herrschaft König Wilhelms I. von Oranien-Nassau dauerte gerade einmal 15 Jahre. In dieser Zeit brachte der Monarch mit seiner undurchdachten Politik der sprachlich-kulturellen Gleichschaltung weite Teile der Bevölkerung gegen sich auf – und legte einen Grundstein für den Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, der Belgien fortan prägen sollte.

Im Spätsommer 1830, im Windschatten der Julirevolution in Frankreich, brachen in mehreren Städten Unruhen aus. Ursprünglich war es den protestierenden Bürgern lediglich um Zugeständnisse hinsichtlich der Verwaltung gegangen, doch nachdem Wilhelm keine Anstalten machte, über Einführung der Pressefreiheit und staatliche Neuorganisation zu verhandeln, flammte der Konflikt wieder auf. Aus den Gefechten mit der niederländischen Armee gingen die irregulären belgischen Truppen siegreich hervor – und Wilhelm blieb keine andere Wahl, als die Unabhängigkeit Belgiens zu akzeptieren, die bei einem internationalen Kongress in London paraphiert wurde. Ein Versuch, die abtrünnigen Untertanen 1831 mit Waffengewalt zurückzuholen, wurde mit tatkräftiger Unterstützung Frankreichs vereitelt.

Der Neuankömmling auf dem diplomatischen Parkett Europas hatte keine schlechten Karten: Der Südteil des Landes befand sich mitten in der industriellen Revolution, die liberale Verfassung kam dem aufstrebenden Bürgertum entgegen, und mit Leopold I. von Sachsen-Coburg und Gotha hatte man einen international bestens vernetzten Monarchen an der Staatsspitze. Doch der Aufschwung des industrialisierten Südens hatte eine Kehrseite: Während 1835 zwischen Brüssel und Mechelen eine der ersten Eisenbahnstrecken auf dem Kontinent eingeweiht wurde, kämpften die einstigen Handelsmetropolen im nördlichen Flandern mit Bedeutungsverlust und wirtschaftlichem Niedergang. Verstärkt wurde das Ungleichgewicht dadurch, dass die Einigkeit, mit der Wallonen und Flamen gegen die niederländische Bevormundung kämpften, nicht lange hielt: Die zuvor benachteiligten frankofonen Eliten begannen nun ihrerseits, den flämischsprachigen Teil der Bevölkerung (im heutigen Belgien beträgt das Verhältnis Flamen zu Wallonen in etwa 60:40) zu diskriminieren: Wer studieren und gesellschaftlich vorankommen wollte, hatte keine andere Wahl, als Französisch zu sprechen.

Ein Platz an der Sonne.
Von der ständigen Kriegsgefahr endlich erlöst, machte das Königreich Belgien eine Modernisierung im Eiltempo durch. Unter Leopold II., der 1865 inthronisiert wurde, entwickelte sich das Land zu einem der wichtigsten Industriestandorte Europas – und machte sich auf die Suche nach Kolonien in Übersee. Der König unterstützte Ende der 1870er-Jahre die Expeditionen des britischen Forschers Henry Stanley im zentralafrikanischen Kongobecken, der Einheimischen im Namen Leopolds sukzessive Land abkaufte. Der Prozess kulminierte 1884 in Berlin, wo auf Initiative Otto von Bismarcks die Kongokonferenz veranstaltet wurde: Die Teilnehmer erklärten den Kongo zum Privatbesitz Leopolds, der Monarch sollte die Region an die Gegenwart heranführen. Leopold hatte andere Pläne: Um die Kautschukvorkommen maximal auszubeuten, ließ er in seinem „Kongo-Freistaat“ ein Terrorregime errichten, dass geschätzte acht bis zehn Millionen Menschen das Leben kostete – die Schreckensherrschaft inspirierte den Schriftsteller Joseph Conrad zu seiner Novelle „Herz der Finsternis“. Als sich die Berichte über Gräueltaten im Kongo nicht mehr ignorieren ließen, schritt das belgische Parlament ein und nahm Leopold 1908 sein afrikanisches „Spielzeug“ weg. Der König, auf dem internationalen Parkett inzwischen eine Persona non grata, starb ein Jahr später, Belgien entließ den Kongo erst 1960 in die Unabhängigkeit.

Das Handelsimperium schlägt zurück. Zu diesem Zeitpunkt war Belgien inmitten des Wirtschaftsbooms der Nachkriegsjahre. Um den industriellen Output zu steigern, lud man Gastarbeiter aus Nordafrika ein. Doch mit den Ölpreisschocks der 1970er-Jahre setzte der Niedergang der traditionellen Industrien ein – und der Überlegenheit der frankofonen Wallonie. Der ökonomische Schwerpunkt Belgiens verlagerte sich zurück nach Flandern, wo mittelständische Betriebe, Hightech und Handel boomten – und für die Nachkommen der Gastarbeiter aus Marokko und Tunesien, die in den wallonischen Stahlhütten und Bergwerken ihr Auskommen gefunden hatten, trübten sich die Aussichten auf beruflichen Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe. Dass das Brüsseler Viertel Molenbeek-Saint-Jean dieser Tage als Hort des islamistischen Terrorismus gilt, hat durchaus auch mit Versäumnissen bei der Integration zu tun. Doch wie soll diese gelingen, wenn selbst die innerbelgische Integration von Flamen und Wallonen mehr schlecht als recht funktioniert?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2016)

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