Gemeinsam in der Baracke

Kümmerten sich im Konzentrationslager umeinander: Daniel Chanoch, 84 (l.), und der gebürtige Wiener Shaul (Paul) Schpilman, 85.
Kümmerten sich im Konzentrationslager umeinander: Daniel Chanoch, 84 (l.), und der gebürtige Wiener Shaul (Paul) Schpilman, 85.Clemens Fabry
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Daniel Chanoch und Shaul Schpilman waren Teil der "131 Buben", die im Konzentrationslager Auschwitz als Gruppe zusammenhielten. Sie haben überlebt.

Daniel Chanoch ist ein aufgeweckter Mann. Er ist 84 Jahre alt, und man sieht deutlich, dass er immer noch Freude an seinem Leben hat. Er grüßt charmant und zieht dabei sein kleines schwarzes Fischerkäppchen. Das ist das vielleicht Erstaunlichste bei der Begegnung mit ihm. Nach allem, was er in seiner frühen Jugend, zwischen seinem achten und seinem zwölften Lebensjahr erlebt hat, könnte man annehmen, er sei ein gebrochener Mensch. Über vier Jahre hat er während des Zweiten Weltkriegs in insgesamt sechs Konzentrationslagern verbracht. Das letzte, das Außenlager Gunskirchen in Oberösterreich, sei das schrecklichste gewesen, erzählt er.

Er war einer von 131 Buben, die im Spätsommer 1944 vom Konzentrationslager Landsberg in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht wurden. Die Gruppe trat mutig einen gemeinsamen, organisierten Einzug ins Vernichtungslager an und ließ sich bei der Selektion nicht auseinandertreiben, was die Waffen-SS zu ihrem Erstaunen akzeptierte. Der organisierte Zusammenhalt rettete ihnen das Leben. Dennoch wurden zwei Drittel der Gruppe im Lauf der Inhaftierung im Lager ermordet. Daniel Chanoch und sein Freund Shaul (Paul) Schpilman waren unter den rund 40 Überlebenden der „131 Buben“, die am 5. Mai 1945 im Außenlager Gunskirchen von den Amerikanern befreit wurden. Die beiden sind zwei von sieben Zeitzeugen, die die vergangene Woche auf Einladung des Mauthausen-Komitees in Wien verbracht haben. Beim Fest der Freude auf dem Heldenplatz am 8. Mai hat Chanoch gemeinsam mit seiner zwölfjährigen Enkelin Anna eine Rede gehalten und betont, wie wichtig Solidarität im Leben ist; heute, Sonntag, werden beide bei der Gedenk- und Befreiungsfeier in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen anwesend sein und sprechen.

Der gebürtige Litauer Chanoch und der um einen Kopf kleinere, gebürtige Wiener Schpilman teilen nicht nur eine ähnliche Kindheit im Lager, bis heute kreuzen sich ihre Wege in ihrer neuen Heimat, Israel. Beide kamen nach Kriegsende in das damalige Palästina. Schpilman absolvierte mit knapp 17Jahren den Militärdienst in Israel, Chanoch ging zum Studium in die USA, kehrte zurück nach Israel und baute sein eigenes Lebensmittelunternehmen auf. Schpilman wurde Krankenpfleger, lebt heute in Tel Aviv. Beide haben geheiratet und Kinder bekommen – aber mit dem, was sie in den Konzentrationslagern erlebt haben, gehen sie doch völlig konträr um. Der eine, Chanoch, erzählt viel und sogar gern von dieser Zeit, auch seine Kinder und seine Frau wissen alles darüber. Schpilman allerdings hat mit seinen Kindern (er und seine zweite Frau haben sieben, darunter zwei gemeinsame) nie darüber geredet.


Eine Nacht zurück in Auschwitz. Daniel Chanoch ist der geborene Schauspieler. „Ich erzähle gern Geschichten und ich rede gern mit Menschen.“ Seine Frau, die bereits in Palästina geboren wurde, sei zwar schon ein bisschen müde von seinen KZ-Erzählungen, „aber ich kann nicht aufhören, mich damit auseinanderzusetzen“. Vor einigen Jahren hat er sich einen großen Wunsch erfüllt: Er wollte mit seiner Tochter und seinem Sohn eine Nacht in „seiner“ Baracke in Auschwitz verbringen. Daraus entstand 2008 die Dokumentation „Pizza in Auschwitz“ (von Moshe Zimerman). Seine Tochter ertrug diesen Ausflug nur schwer. In einer emotionalen Szene wirft sie ihrem Vater vor, er suhle sich in den schrecklichen Erinnerungen, er könne das Erlebte nicht wiederherstellen, sie wolle nach Hause, halte das nicht aus. Er sagt darauf nur: „Ich bin glücklich hier.“ Das ist für viele Menschen, ob Zeitzeugen wie er oder Nachgeborene, schwer zu verstehen.

Und noch schwerer zu verstehen ist, was er dann sagt: Er spüre bis heute eine gewisse Bewunderung für die SS-Leute. „Ich habe nicht darum gebeten, aber sie ist da.“ So habe er sich von ihnen einen Sinn für Ordnung und Ästhetik abgeschaut. „Sie haben mich beeinflusst, ich war ein junger Bub.“ Trotzdem will er vor allem junge Menschen aufrütteln. Seit Jahren tingelt er mit seiner Geschichte und einer akribisch zusammengestellten Powerpoint-Präsentation durch Schulen und warnt die Jugendlichen vor totalitären Regimes: „Ich überzeuge sie, dass die schlechteste Demokratie besser als jede Diktatur ist. Mein Vortrag ist ein Prophylaktikum gegen jede Form von Faschismus.“ Auch vergangene Woche in Wien hat er Schulklassen besucht und war wieder begeistert, wie viele gute Fragen die Kinder stellten.

In Auschwitz und Gunskirchen haben Chanoch und Schpilman den Leichen die Kleidung und ihr letztes Hab und Gut abgenommen und die Gegenstände gesammelt. Sie erzählen beide von dem Zusammenhalt unter den jungen Buben, die es ihnen leichter gemacht hat, die Zeit zu überstehen. „Solidarität ist, wenn du Hunger hast und das letzte Stück Brot mit einem Kameraden teilst“, sagt Chanoch. Zur aktuellen Flüchtlingskrise wollen sie nicht viel sagen, aber Chanoch betont: „Es ist wichtig, den Flüchtlingen zu helfen, weil es Gründe hat, warum sie aus ihrem Land fliehen.“


Kindheit in Wien Ottakring. Schpilman war vor elf Jahren das erste Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder in Österreich. Er erzählt in immer noch ganz gutem Deutsch mit einem leichten wienerischen Einschlag davon, dass sein Vater Leutnant im Ersten Weltkrieg war. Seine Familie lebte bis zum Anschluss 1938 in Wien Ottakring, und bis zur Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt im Jahr 1942 wohnten sie in einer kleinen Wohnung am Fleischmarkt im ersten Bezirk, sein Vater arbeitete in der jüdischen Kultusgemeinde. Dabei sei seine Familie nie religiös gewesen. Das hat sich bei ihm nicht mehr geändert. „Ich glaube nicht an einen Gott nach allem, was ich im Holocaust erlebt habe. Wenn einer einen Gott hatte, dann Hitler. Wie konnte dieser Mann denn sonst trotz mehrerer Attentatsversuche gegen ihn so lang am Leben bleiben?“

Daniel Chanoch sagt, die Solidarität und Unterstützung unter den Burschen im Lager sei sehr wichtig gewesen. Was ihn aber überleben ließ, sei sein Optimismus gewesen. „Und der Gedanke, dass ich noch genug Zeit zum Sterben habe.“ Auch bei größtem Hunger habe er außerdem gewusst, „dass es Dinge gibt, die du nicht essen solltest, weil sie dich töten können“.

Gedenkfeier Mauthausen

Am Sonntag, findet in der KZ-Gedenkstätte in Mauthausen eine Gedenk- und Befreiungsfeier statt: Kundgebungen bei den nationalen Denkmälern (ab 8.30 Uhr), Begrüßung und Gedenkreden (10–11.30 Uhr).

Das Mauthausen-Komitee wurde 1997 vom Österreichischen Gewerkschaftsbund und der Bischofskonferenz der römisch-katholischen Kirche mit dem Bundesverband der Israelitischen Kultusgemeinde in Form eines Vereins als Nachfolgeorganisation der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen gegründet. Der Verein organisiert das ganze Jahr über Veranstaltungen zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus, seit 2013 das jährliche Fest der Freude auf dem Heldenplatz und lädt Zeitzeugen in Schulen etc. ein. Der Schwerpunkt ihrer Zivilcouragetrainings für Schulen, Lehrwerkstätten und Jugendzentren liegt derzeit auf dem Thema „Asyl und Flüchtlinge“.

Daniel Chanoch (*1932 in Kaunas, Litauen) überlebte sechs Konzentrationslager. Er ist Vater von zwei Kindern und lebt heute in Israel.

Shaul (Paul) Schpilman (*1931 in Wien), 1942 verhaftet, 1945 im KZ-Außenlager Gunskirchen befreit. Er ist Vater von sieben Kindern, lebt heute in Tel Aviv.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2016)

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