Sykes-Picot-Abkommen: Der Frieden, der Krieg brachte

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Vor 100 Jahren wurde das Sykes-Picot-Abkommen besiegelt, das den gesamten Nahen Osten bis heute in eine Konfliktzone verwandelt hat. Historiker stufen den Pakt als verheerend ein.

Kairo. Die Szene ging als Videoclip um die Welt. Die syrischen und irakischen Grenzsoldaten waren über alle Berge; mit einem Bulldozer schoben die Jihadisten des Islamischen Staats (IS) mitten in der Wüste Kontrollposten und Sandbarrieren beiseite, bejubelt von ihren Waffenkameraden. „Wir zerschmettern Sykes-Picot“, twitterten die Extremisten. „Dies ist nicht die einzige Grenze, die wir niederreißen, andere werden folgen.“

Die vor hundert Jahren von den damaligen Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich geschaffenen Realitäten existieren für diese Gotteskrieger nicht mehr. An ihre Stelle wollen sie ein panislamisches Kalifat setzen, errichtet aus den Ostregionen Syriens und den Westregionen des Irak. „Unser Vormarsch wird nicht stoppen, bis wir den letzten Nagel in den Sarg der Sykes-Picot-Verschwörung geschlagen haben“, polterte der selbst ernannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi bei seinem bisher einzigen öffentlichen Auftritt im Juli 2014 in der Al-Nuri-Moschee von Mossul.

Nicht nur für diese Extremisten, auch im kollektiven Bewusstsein der 300 Millionen Araber ist Sykes-Picot ein Verrat, der bis heute präsent ist. Das dubiose Geheimabkommen vom 16. Mai 1916 machte alle Hoffnungen auf Unabhängigkeit und einen eigenen Staat zunichte. Und es hat die Ursachen für die endlosen Konflikte geschaffen, die die Region bis heute plagen und mittlerweile an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht haben. „Ein Frieden, der jeden Frieden beendete“, resümierte der US-Historiker David Fromkin in seinem Standardwerk über die Entstehung des modernen Nahen Ostens.

Quer durch Stammesgebiete

Damals, kurz vor Weihnachten 1915, eilte der junge britische Abgeordnete Mark Sykes in die Downing Street 10. Unter dem Arm hatte er eine Landkarte und ein dreiseitiges Manuskript. Vor dem Kriegskabinett sollte der 36-Jährige seine Ideen darlegen, wie die europäischen Mächte England und Frankreich nach einer Niederlage des Osmanischen Reichs die arabische Welt unter sich aufteilen könnten. „Ich würde eine Linie ziehen vom E von Acre bis zum letzten K von Kirkuk“, plädierte der forsche Baron vor den versammelten Ministern. Diese zeigten sich beeindruckt und gaben grünes Licht.

Sykes schnurgerade „Linie im Sand“, wie sie der britische Historiker James Barr 2011 in seinem Buch über die Schicksalsjahre nach dem Ersten Weltkrieg nannte, teilte die Region in eine französische und eine britische Machtsphäre – ungeachtet der Wünsche der Bevölkerung, ungeachtet aller ethnischen und konfessionellen Grenzen, quer durch zahlreiche Stammesgebiete. Das riesige neue Kolonialgebiet aus der Konkursmasse des Osmanischen Reichs mit seinen 20 Millionen Menschen erstreckte sich von Beirut bis an den Persischen Golf, von Ostanatolien bis zum Sinai. „Selbst unter den Maßstäben der Zeit war es ein schamlos eigennütziger Pakt“, urteilte Barr über diesen imperialen Coup.

Denn das Komplott zwischen London und Paris stand im Widerspruch zu älteren Zusagen, die die britische Führung im Juli 1915 König Hussein ibn Ali, dem letzten haschemitischen Herrscher über Mekka, und seinen Söhnen Ali, Faisal und Abdullah gegeben hatte. Um den Potentaten auf der arabischen Halbinsel zum Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen, versprach ihm der britische Hochkommissar in Ägypten ein unabhängiges arabisches Großreich. Die Araber erfüllten ihren Teil der Abmachung. Militärisch beraten wurden ihre Reiterhorden vom britischen Archäologen und Agenten Thomas Edward Lawrence, der später unter dem Namen Lawrence von Arabien berühmt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg erschien Husseins Sohn Faisal auf der Friedenskonferenz von Versailles, um die Forderungen einzutreiben – vergeblich. Die Araber mussten ihre Hoffnungen auf Unabhängigkeit vorerst begraben.

Historische Unglücksbilanz

Die Konturen der post-osmanischen Ordnung haben sich als erstaunlich robust erwiesen, genauso wie die Konflikte, die diese willkürliche Nachkriegsregelung geschaffen habe, urteilt Oxford-Historiker Eugene L. Rogan in seinem kürzlich erschienenen Buch über den Fall des Osmanischen Reichs. Keine Gruppe von Staaten hat in den zurückliegenden Jahrzehnten so viele Kriege, Bürgerkriege, Umstürze und Terroranschläge erlebt wie die orientalischen Geschöpfe Englands und Frankreichs.

Sykes-Picot war der Beginn, auch wenn bei der historischen Unglücksbilanz des Nahen Ostens vieles zusammenkommt: Das Versagen der arabischen Eliten, die Rolle des politischen Islam und des Militärs, die Entdeckung des Erdöls, der Dauerkonflikt um die Gründung Israels sowie die fortwährenden Eingriffe Europas, der Vereinigten Staaten und Russlands.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2016)

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