Deutschlands Brückenbauer hatte das Ohr der Kanzler

Fritz Stern (* 1926 in Breslau, † 2016 in New York).
Fritz Stern (* 1926 in Breslau, † 2016 in New York). IMAGO
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Fritz Stern hat die Ursprünge des deutschen Totalitarismus erforscht und damit nach 1945 zur Wiederaufnahme der Deutschen in den Kreis der zivilisierten Welt beigetragen.

Selbst Albert Einsteins Rat war zwecklos, der Reiz von Europas Vergangenheit zu verführerisch. Was er denn studieren solle, wollte der 18-jährige Fritz Stern an jenem Tag im April 1944 in Princeton von seinem Familienfreund wissen. „Das ist einfach: Medizin ist eine Wissenschaft, und Geschichte ist keine. Also Medizin.“

An dieser Wegscheide seines Lebens, die Stern sechs Jahrzehnte später in seinen Memoiren „Five Germanys I Have Known“ (2006) nacherzählte, mag der Welt ein guter Arzt vorenthalten worden sein, sie gewann dafür einen bahnbrechenden Historiker. Bekannt wurde der am 2. Februar 1926 im damaligen Breslau und heutigen Wrocław geborene Sohn einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Medizinerfamilie (Taufpate Fritz Haber, später für seine Rolle in der Planung des deutschen Giftgaskriegs verfemt, hatte den Nobelpreis für Chemie, Onkel Otto Stern jenen für Physik erhalten) mit seinem Werk „Bismarck, Bleichröder, and the Building of the German Empire“ (1978). Darin deckte er nach sechzehnjähriger Archivarbeit auf, wie stark die Werdung des jungen Deutschen Reichs nicht nur von der finanziellen, sondern auch von der geheimdienstlichen Hilfe des Juden Gerson Bleichröder abhängig war. Deutsche Historiker hatten bis dahin dessen eminente politische Bedeutung unter den Teppich gekehrt – und das, obwohl Bismarck sich dafür einsetzte, ihn als ersten nicht konvertierten Juden in den deutschen Erbadel einzuführen. „Bleichröder ist all das, was aus deutscher Geschichtsschreibung ausgelassen wurde“, resümierte Stern.

Kulturpessimismus und Bildungssnobs

Sterns Arbeiten als Professor für Neue Europäische Geschichte an der Columbia drehten sich im Kern um eine Frage: Wie konnte die aufgeklärte Kulturnation der Deutschen binnen nur drei Jahrzehnten zwei Vernichtungskriege entfachen? In seiner Dissertation „The Politics of Cultural Despair“ (1961) fand er eine Antwort. Anhand der Biografien der drei Vordenker einer genuin deutschen Geistesgestalt, Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck, illustrierte Stern, wie deren Hass auf den Liberalismus ihrer verzweifelten Suche nach einer Ersatzreligion in einer zusehends säkularen Welt entsprang: „Tausend Lehrer im republikanischen Deutschland, die in ihrer Jugend Lagarde oder Langbehn gelesen und verehrt hatten, waren für den Triumph des Nationalsozialismus ebenso wichtig wie die angeblichen Millionen von Mark, welche Hitler bei deutschen Tycoons einsammelte.“ Das deutsche Bürgertum habe an einem Bildungssnobismus laboriert, der es ihm erlaubte, „seine größte Errungenschaft, die Kultur, dazu zu verwenden, die größte Schwäche zu vertiefen und zu entschuldigen, nämlich seine Politik“, schrieb er 1957 in „The Political Consequences of the Unpolitical German.“

Stern war darum bemüht, seine alte Heimat, die ihn 1938 als Buben verjagt hatte, in den Westen zurückzuführen. Deutsche Kanzler von Willy Brandt bis Angela Merkel verließen sich auf seinen Rat. Merkel habe ihm, einem sozialdemokratischen Liberalen, imponiert, sagte er 2015 zur „Presse“. „Lieber eine gutmütige Mutti als ein hyperaktiver Franz-Josef Strauß“, wies er die Kritik an Merkels Amtsführung zurück. Die Hoffnung, ein Büchlein über seinen Helden Heinrich Heine zu schreiben, ist nun dahin. Im 91. Lebensjahr ist Fritz Stern in New York verstorben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2016)

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