Gesellschaft: Auch der Weltbürger hat seine Grenzen

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Alle eins oder jeder für sich allein? Kosmopolitischer Geist und Nationalismus stehen einander so schroff gegenüber wie lang nicht mehr. Ein Streifzug durch die Geschichte beider Konzepte - und der Versuch einer Annäherung.

Sie führten sich auf wie Hunde. Sie lebten im Freien, liefen nackt umher, befriedigten ihre Triebe in aller Öffentlichkeit. Weshalb man sie auch Kyniker nannte, nach dem griechischen Wort für Hund. Mit ihrer Lebensweise stellten diese Hippies unter den antiken Philosophen alle Sitten, Bräuche und Konventionen ihrer eng begrenzten Gesellschaften infrage. Am meisten aber schockierte ihr Wortführer Diogenes seine Mitwelt mit der Verortung seiner Identität: Nein, er sei kein Bürger seines Stadtstaates, auch kein Grieche und doch kein Barbar. Ein „kosmopolites“ sei er – ein Bürger der Welt. Die antike Provokation hallt bis heute nach. Die Idee des Weltbürgertums verlockt und verstört. Mit ein wenig Abstand zu Österreichs Präsidentenwahl zeigt sich: Was die Gemüter erregt hat, läuft auf diese Frontstellung hinaus. Offene Grenzen oder Stacheldraht, globalisierte Verantwortung oder Zusammenrücken im Vertrauten, Bekenntnis zu Europa oder Skepsis gegenüber Brüssel – mit einem Wort: Kosmopolitismus oder Nationalismus.

Die Kyniker waren Außenseiter, die Griechen hielten sie für weltfremd. Doch der Wind der Geschichte drehte sich rasch. „Geh mir aus der Sonne!“, war das Einzige, was der freche Diogenes von Alexander dem Großen erbat und erhoffte. Dabei war es der junge König der Makedonier, der vom Gedanken zur Tat schritt. Als Feldherr schuf er erstmals ein kosmopolitisches Gebilde: ein Großreich, in dem die griechische Sprache und Kultur bis zu Indus und Nil alles lokal Verwurzelte überformte.

Geteilte Werte, gleiches Blut

Stärker noch galt das vom Römischen Imperium. In diesem Vielvölkergemisch machten die Stoiker eine folgenreiche Entdeckung. Sie fanden das Gemeinsame an Freien und Sklaven, Römern und Barbaren: die Vernunftbegabung, Autonomie und Würde, die sie als Kern alles Menschseins ausmachten. So gewann die Idee vom Weltbürger normatives Gewicht. Politisch blieb auch das abendländische Mittelalter, ob unter Kaiser oder Papst, im Bann des Universalen. Was in der Alltagswelt Identität stiftete, waren freilich Familie, Dorfgemeinschaft und Lehensherr.

Erst die Französische Revolution machte den kühnen Versuch, das kleinteilig Verstreute unter ein durchaus künstliches Konstrukt zu bannen: eine französische Nation, die damals nur zur Hälfte Französisch sprach. Aber um Sprache, Kultur oder Volk ging es gar nicht. Es war eine Gemeinschaft der Citoyens, die sich um die Verfassung und den Kodex der Menschenrechte scharte. Ähnlich lief es in Amerika. Bis heute gelten beide Länder als Muster für einen „guten“ Nationalismus. Zugleich entwarf Immanuel Kant, der sein Leben lang nie aus Königsberg hinauskam, das weltumspannende Konzept „Zum ewigen Frieden“. Dafür brauche es keinen – vielleicht unmöglichen – globalen Einheitsstaat. Es müsste sich nur überall die Demokratie durchsetzen. Denn Demokratien teilen dieselben Grundwerte, sie achten den anderen und bekriegen sich deshalb nicht. Ein frommer Wunsch? Nein, ein empirisches Gesetz, wie der Politikwissenschaftler Jack Levy 1988 nachwies: Echte Demokratien führen Kriege gegen autoritäre Regime, aber (zumindest bisher) nie untereinander.

Wir kennen freilich auch den gefährlichen Nationalismus: Blut und Boden, Glauben an den Vorrang des eigenen Volkes, eine historische Sendung. Im Kolonialismus führte er zur Unterdrückung anderer Völker, im Faschismus drängte er zur Ausrottung ganzer Rassen. Damit, so schien es, war der Nationalismus auf Dauer diskreditiert. Es entstanden die Vereinten Nationen, die Europäische Union. Fast alle westlichen Nationen folgten dem französischen Modell: Zu uns gehören darf, wer unsere Werte teilt – die aktuelle Formel für die Integration von Flüchtlingen. Wenn sich aber diese Verfassungswerte überall angleichen: Wozu dann noch Nationen? Nieder mit allen Grenzzäunen?

Demokratie braucht Zugehörigkeit

Zumal die Welt auch ohne Politiker und Philosophen zusammenwächst. Dafür sorgt die Globalisierung. Ob es um Klimawandel, Finanzkrise, Migration, Internet oder Jugendkulturen geht: Wer unsere Gesellschaft verstehen will, für den ist die Nation als Forschungseinheit nicht mehr brauchbar, wie der Soziologe Ulrich Beck nicht müde wurde zu lehren. Und doch ist der Nationalismus wieder auf dem Vormarsch. Es gibt eine linke Gegenreaktion auf die Grenzenlosigkeit, die uns globalisierte Wertschöpfungsketten und Warenströme zumutet. Noch mehr Breitenwirkung hat der Abwehrkampf von rechts: der Rückzug auf eigene Tradition, Kultur, Religion – auf eine Identität, die sich vom Fremden abhebt und abgrenzt. Beide sind im Grunde egoistisch: mehr für die Meinen, weniger für den Rest. Aber existiert die behauptete Identität noch? Gewiss in der Muttersprache, aber die wird oft in mehreren Ländern gesprochen. Was hält sonst noch zusammen? Für Peter Sloterdijk sind es die kollektiv konsumierten Medien: die „ZiB“ als Mutter der Nation. Das führt auf eine wichtige Spur. Geteilte Themen und Diskurse spannen einen Raum des Öffentlichen auf.

Die Demokratie erweitert, in abgestufter Form, das Geflecht an Interaktionen, Bindungen und Verantwortlichkeiten, das wir aus Familie und Beruf kennen. „Ohne ein solches Geflecht“, sagt der Philosoph Julian Nida-Rümelin, „kann Politik nicht funktionieren.“ Dehnt sich aber der Bezugsrahmen zu weit, reißen die Bindungen. Weltbürgertum erfordert beides: universelle Menschenrechte und Demokratie. Eine Aufhebung aller Grenzen, mahnt auch der Kosmopolit Nida-Rümelin, wäre das Ende der Demokratie als ein überschaubares Zusammenleben, das wir auf Basis gemeinsam gesetzter Normen gestalten. Das führt zum pragmatischen Fazit: Auf die Nation als Selbstzweck können wir gern verzichten. Aber wir brauchen wohl den Nationalstaat als Mittel. Damit der Kosmopolitismus, eine der großen Ideen der Menschheit, nicht vor die Hunde geht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2016)

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