Zum Diktat: Krokodil frisst Mörder

Hieroglyphen und Alphabete
Hieroglyphen und Alphabete(c) ÖNB
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Die Sonderausstellung „Hieroglyphen und Alphabete“ im Papyrusmuseum der ÖNB: 2500 Jahre Unterricht im Alten Ägypten. Ein recht abstrakter Stoff wird spannend erzählt.

Mit welchen Aufgaben hat man vor tausenden Jahren am Nil Schüler gequält? Mit folgendem Problem etwa: „Gegeben ist ein Kreis, dessen Perimeter 30 Schoinia beträgt. Wie viele Aruren hat er?“ Wer derzeit die Ausstellung „Hieroglyphen und Alphabete“ im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek besucht, wird zurück in die Schule geschickt. 75 Objekte aus Papyrus, Pergament, Papier, Ton und Stein illustrieren rund 2500 Jahre Unterricht in Ägypten, vom Neuen Reich bis ins frühe Mittelalter, von der Zeit der Pharaonen über Griechen und Römer zu den Arabern.

In der aktuellen Schau zeige sich speziell, wie wertvoll kostenlose Bildung sei, sagte Generaldirektorin Johanna Rachinger bei der Pressekonferenz vor der Eröffnung der Sonderschau im Zentrum des kleinen Museums. Auf den ersten Blick mag sie abstrakt scheinen, aber Kurator Bernhard Palme hat die Exponate dafür interessant aufbereitet. Im Begleittext werden spannende kulturhistorische Geschichten erzählt. Der Direktor des Papyrusmuseums kann jedes Jahr aufs Neue zu unterschiedlichsten Themen aus dem Vollen schöpfen: 180.000 Objekte gibt es hier. Sie kamen nach einem großen Fund in der Oase Faijum Ende des 19. Jahrhunderts in die heutige Nationalbibliothek – für die größte derartige Sammlung der Welt.

Oben der Profi, unten der Dilettant

Der Beruf des Schreibers galt als hoch angesehen, Unterricht war ein Privileg, ziemlich teuer in vormoderner Gesellschaft. Die Mühen beim Erlernen des Schreibens sind wohl gleich geblieben. So sieht man auf einem circa 1200 Jahre alten koptischen Pergament oben die gestochen scharfe Schrift eines Profis, der auf der Vorderseite den Erzengel Michael preist, auf der Rückseite das Martyrium des Ignatius erzählt – beides in Sahidisch. Unten hat im Dialekt von Faijum ein Schüler geübt. Er malte die Buchstaben verschieden groß, konnte die Zeile nicht halten, machte Fehler, verwischte die Tinte und hat offenbar auf einem bereits entsorgten Buch geschrieben, auf Pergament, das als kostbar galt. Trotz dieser Luxusbedingung galt wohl: welche Tortur! Ein anderer Schüler versuchte sich in Ägypten tausend Jahre zuvor in den Formen einer Konjugation und schrieb nach wenigen Zeilen darunter: „satis“ – genug. Ein mehr als 3000 Jahre altes Blatt ist laut Palme besonders bemerkenswert. Auf dem Papyrus stehen 13 Zeilen Lobpreis auf die Stadt Pi-Ramesse, den Sitz der neuen Hauptstadt von Ramses II., in hieratischer Schrift, die im Alltag parallel zu den Hieroglyphen verwendet wurde. Dass es sich um die Handschrift eines Schülers handelt, kann man aus Korrekturen schließen – das sei ein einmaliger Fund, nicht nur für Wien, so der Direktor.

Schwerpunkte: Koran und Wissenschaft

Zahlreiche Rechtschreibfehler enthält auch ein Diktat aus dem 6./7. Jahrhundert. Für derartige Übungen wurde in der Spätantike offenbar kontinuierlich die spektakuläre Geschichte über einen Vatermörder verwendet. Er flieht vor dem Gesetz in die Wüste, wird von einem Löwen attackiert, klettert auf einen Baum. Dort lauert eine Schlange. Der Mörder wirft sich ins Wasser und wird von einem Krokodil gefressen. Merke: Niemand entkommt. Die Götter bestrafen alle Übeltäter.

Es werden Buchstaben geübt, Silben, Sätze, ganze Passagen an Literatur. En passant begegnet man Zitaten aus den Epen Homers, beliebt waren auch antike Komödien. Auffällig ist die Mehrsprachigkeit Ägyptens. Mit dem Islam dominierte im Unterricht der Koran, aber auch für das rationale Denken waren die neuen Herrscher aufgeschlossen.

Die eingangs erwähnte Flächenberechnung eines Kreises lösten Ägypter übrigens recht unkompliziert, heute würde man dazu Daumen mal Pi sagen: „Multipliziere die 30 Schoinia mit sich selbst, macht 900. Nimm davon ein Zwölftel, macht 75. So viele Aruren hat der Kreis, wie hier unten angegeben ist.“

Bis 8. Jänner 2017 ist die Ausstellung „Hieroglyphen und Alphabete. 2500 Jahre Unterricht im alten Ägypten“ im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek zu sehen: Heldenplatz, Neue Burg, Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr, Juni bis September täglich geöffnet. Das Begleitbuch kostet 24 €.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2016)

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