Die Wunden der Völker

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Die Wunden der VölkerREUTERS
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Königgrätz 1866. Eine demütigende Niederlage kann ein Volk in Verzweiflung stürzen und tiefe Wunden hinterlassen. Das zeigte sich auch nach dem 11. September 2001. Über das „kollektive Trauma“ in der Geschichte.

Dieser Krieg hätte nicht demütigender ausfallen können. Die Niederlage bei Königgrätz am 3. Juli 1866 löste in Österreich tiefe Bestürzung aus, in einem Dutzend von Schlachten waren sämtliche Korps der österreichischen Armee von den Preußen hinweggefegt worden. Im Kaiserhaus herrschte Panik und Endzeitstimmung, die Zeitungskommentare waren verheerend: Die Großmachtstellung Österreichs sei vernichtet, durch den brutalen Ausschluss Österreichs aus Deutschland sei das Land ein „vom Leib abgeschnittenes Glied“ und wie die Türkei vom inneren Zerfall bedroht. Die allgemeine Meinung war: „Österreich kann nur bestehen, wenn es festen Fuß in Deutschland behält. Ist es aus Deutschland hinausgeworfen, so wird es sich selbst auflösen.“ Die denkbar schlimmste Perspektive für den Vielvölkerstaat. Was war der Kaiserstaat noch wert, wenn sich die Deutschen in einem Reich einigten und Millionen deutschsprachige Österreicher glatt hinauswarfen? Die Bürger weigerten sich in den nächsten Wochen, Kaiser Franz Joseph auf der Straße zu grüßen. Die Forderung nach Abdankung zugunsten seines Bruders Maximilian wurde erhoben, ansonsten eisiges Schweigen bei Auftritten des Kaisers.

Königgrätz wurde zum Trauma, so wurde der Boden des Deutschnationalismus, die Ideologie der Wiedervereinigung, aus der Hitler hervorging, gedüngt. Die Wiedergutmachung von Königgrätz erfolgte, als Hitler, deutscher Reichskanzler, in Potsdam dem preußischen General Hindenburg die Hand reichte. Wenige Jahre danach wurde der „Ausschluss“ Österreichs aus dem Deutschen Reich durch den „Anschluss“ wiedergutgemacht. In Hitlers Ideologie des völkisch-rassistischen Über-Nationalismus wurde Österreichertum und Preußentum gleichermaßen unwichtig. Historiker haben später das Bonmot geprägt, Hitler sei die Rache Österreichs für die Niederlage von Königgrätz.

"Kollektives Trauma" spätestens seit 9/11 wieder im Gespräch

Auch in der Gegenwart ist spätestens seit den Terrorangriffen auf das New Yorker World Trade Center vom 11. September 2001 der Begriff des „kollektiven Traumas“ wieder im Gespräch. 2016 erinnert sich die Welt an die Kulturrevolution in China vor 50 Jahren, an die blutige Verfolgung der Armenier durch die Türkei 1915, an Srebrenica anlässlich der Urteilsfindung im Kriegsverbrecherprozess gegen Serbenführer Vojislav Seselj, an Hiroshima durch den Besuch des amerikanischen Präsidenten in Japan. Kollektive Traumata, deren Opfer zum Teil noch leben oder von ihrer Elterngeneration geprägt wurden. „Allein in meiner Familie haben wir 17 Familienmitglieder verloren zu den Zeiten der Kulturrevolution und der politischen Bewegungen. Sie wurden erschlagen, erschossen, es gab teilweise überhaupt keinen Grund, oder ein Grund wurde erfunden. Es ist wirklich schrecklich.“ (Die chinesische Schriftstellerin Emily WU über die Kulturrevolution). „Die sind ja von Haus zu Haus gegangen, und plötzlich kamen viele serbische Soldaten rein, und die haben dann angefangen, uns zu schlagen, viele sind liquidiert, heute weiß man noch nichts von denen. (Eine bosnische Augenzeugin).“

Immer geht es in der Diskussion um Gewaltereignisse, Krieg, Genozid, Attentate, Verfolgung von Minderheiten, Vertreibung, die die Welt erschütterten oder in ein staatlich-gesellschaftliches Gefüge tiefe Wunden schlugen. Königgrätz ist ein Paradigma dafür, dass eine ganze Gesellschaft durch ein einschneidendes Ereignis wie eine verlorene Schlacht so in seinen Wurzeln erschüttert werden kann, dass die geschichtliche Entwicklung in der Folge anders verlaufen wäre und dass Jahrzehnte danach die schlecht verheilten Narben wieder aufbrechen können. Das gilt für den Bürgerkrieg beim Zerfall Jugoslawiens genauso wie für den Genozid in Ruanda, vom Holocaust bis zur Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, bis hin zu Einzelaktionen wie die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy.

Amselfeld als "sakraler Ort“

Große traumatische Ereignisse haben es auch an sich, dass sie nicht vergessen werden, etwa im Gedächtnis der Opfer verhaftet bleiben, die Diskussionen, ob es sich bei der Ermordung der Armenier vor hundert Jahren in der Türkei um einen „Genozid“ handelt oder nicht, zeugen davon. Es kann Generationen dauern, bis das Gewaltereignis bewältigt ist, bis dahin lebt die Gesellschaft in einer prekären Pseudonormalität, die aber etwa an Jahrestagen wieder aufgebrochen wird. Die Reaktivierung eines solchen Traumas hat 1914 die Geschichte Europas bestimmt. 1389, verlor das alte serbische Königreich in der Schlacht am Amselfeld (im heutigen Kosovo) die Herrschaft über sein Reich an die osmanischen Feinde. Die Erinnerung an diese Niederlage ließ die Serben über Jahrhunderte nicht mehr los, sie beschworen an den Jahrestagen (es war der 28. Juni, der Tag des Heiligen Veit, der Vidovdan), nie mehr wieder so eine Niederlage zulassen zu wollen und identifizierten sich mit ihren Vorfahren vor hunderten Jahren.

Das Amselfeld wurde zum „sakralen Ort“, die Erinnerung daran zum gemeinsamen ethnischen Merkmal aller Serben, ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass es im Mittelalter die heute verwendeten Kategorien von Nationen gar nicht gegeben hat und die Kriege oft von bezahlten Söldnern geführt wurden. Es war 1914, ein 28. Juni, an dem ein bosnischer Serbe den österreich-ungarischen Thronfolger erschoss, es kam in der Folge zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Und es war die berüchtigte „Amselfeld-Rede“ des serbischen Politikers Slobodan Milosevic am 600. Jahrestag der Schlacht 1989, die den Zerfall Jugoslawiens in einem blutigen Bürgerkrieg einleitete. 1914 wie 1989 sahen sich die Serben durch eine feindliche Macht in ihrer Freiheit bedroht, 600 Jahre lang trugen sie das Trauma der Niederlage mit sich.

Obwohl also Ereignisse über eine ganze Generation vergessen zu sein scheinen (in Jugoslawien war dies in der Ära Tito nach außen hin der Fall), ist also ein Mythos wieder reaktivierbar, wird von der älteren Generation bis zu den Enkeln und Urenkeln weitergegeben. Psychologen sprechen von der Erwartung, dass von den nachfolgenden Generationen erwartet wird, dass sie die alten Traumata wieder rückgängig machen oder in ihr Gegenteil verkehren können. Ein Vermächtnis und eine Last für die nachkommenden Generationen. Niederlagen werden so zu nationalen Mythen. Sie müssen aber nicht immer zu offenen Aggressionen führen, die Franzosen erinnern sich an die Unterwerfung der Gallier durch Cäsar, aber sie konstruieren keinen Opfermythos, sondern zeichnen Comics darüber. Die Langzeitwirkungen des 11. September auf die amerikanische Politik aber sind noch gar nicht absehbar, die Perspektive ist durchaus beunruhigend, wenn man die neoimperialistischen Sprüche im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf näher beleuchtet.

Zurück zu Königgrätz. Noch vor einigen Jahrzehnten beurteilten Historiker wie Werner Conze die alte „deutsch-österreichische Frage“ als „geschichtlich überholt, insofern sie großdeutsch-staatlich-national verstanden worden“ sei. Die Wünsche der Vergangenheit seien obsolet geworden, das Vereinigte Europa habe den Konfliktkomplex in sich aufgehoben, der „Nationalismus im veralteten Stil“ sei hinweggefegt. Conze, 1986 gestorben, hätte sich nicht träumen lassen, dass die Rettung der „nationalen Identität“ 2016 im politischen Mainstream europäischer Staaten angekommen ist und der Nationalismus längst nicht mehr als Schmuddelkind gesehen wird und der Rolle des geschmähten Outlaws entwachsen ist.

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Der Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm leuchtet die Hintergründe und den Ablauf der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 aus.

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