Der Coup, der den Zerfall der Sowjetunion beschleunigte

RUSSIA GORBACHEV YELTSIN OBIT
RUSSIA GORBACHEV YELTSIN OBITAPA
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Vor 25 Jahren wollten die Moskauer Putschisten die Sowjetunion bewahren, doch sie erreichten das Gegenteil. Die Tage im August 1991 machten aus Jelzin einen Demokratieführer, schwächten Gorbatschow und führten zur Abwicklung der UdSSR bis Jahresende.

Die Sowjetbürger erwachten am 19. August nicht mit den üblichen Morgennachrichten. Nach der gewohnten Begrüßung der Genossen verlasen die Nachrichtensprecher ein dürres Kommuniqué, das unruhige Zeiten ankündigte. In dem Papier war die Rede, dass der Präsident der Sowjetunion aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr länger seine Amtsgeschäfte ausführen könne. Aufgrund der bedrohlichen Situation sei ein sechsmonatiger Ausnahmezustand ausgerufen worden. Ein gewisses Staatskomitee für den Ausnahmezustand versprach, die Lage im Land wieder zu beruhigen.

Beruhigend klang das alles für viele Sowjetbürger nicht – und auch nicht für die Westmächte, die ebenso aus dem Fernsehen von den Vorgängen in Moskau erfuhren. George Bush senior, damals in Walker's Point, seinem Domizil in Maine, wurde von seinem Sicherheitsberater Brent Scrowcroft geweckt, wie Serhii Plokhy in seinem wie ein Thriller geschriebenen Buch „The Last Empire“ über die letzten Tage der Sowjetunion schildert. Wie die Amerikaner hatte auch der britische Premierminister John Major keine Warnungen vom Geheimdienst erhalten: Sie erfuhren von den dramatischen Entwicklungen in Moskau durch CNN.

In Moskau wussten die Fernsehzuschauer zu diesem Zeitpunkt bereits, woher der Wind wehte. In einer Erklärung des Staatskomitees wurde die Begründung für den Putsch mitgeliefert. Die von Gorbatschow seit Mitte der 1980er eingeführte Öffnung des Landes und die Wirtschaftsreformen – bekannt unter den Begriffen Glasnost und Perestrojka – seien „in eine Sackgasse“ geraten. „Die Staatsmacht hat auf allen Ebenen das Vertrauen der Gesellschaft verloren“, hieß es. Das Land sei unregierbar geworden und extremistische Kräfte wollten die Sowjetunion zerstören. Die Hardliner wollten die Union um jeden Preis bewahren.

Ablehnung der Reformpolitik. Schon seit Längerem war in konservativen Parteikreisen, im Sicherheitsapparat und in der Armee die Unzufriedenheit mit Gorbatschows Politik gewachsen. Eine Gruppe um KGB-Vorsitzenden Wladimir Krjutschkow, General Valentin Warennikow, Verteidigungsminister Dmitrij Jasow, Premier Walentin Pawlow und Innenminister Boris Pugo drängte zur Tat. Vizepräsident Gennadij Janajew, der an Gorbatschows Stelle rücken sollte, wurde zum öffentlichen Gesicht der Truppe. Die Verschwörer standen unter Zeitdruck: Gorbatschow wollte am 20. August mit den Republikspräsidenten den Vertrag über die erneuerte Union unterzeichnen. Zwar sträubten sich die drei baltischen Staaten dagegen, die restlichen zwölf Republiken – und damit auch neben Russland die Schwergewichte Ukraine, Weißrussland und Kasachstan – sollten dem neuen Bund allerdings angehören.

Der Zeitpunkt schien gekommen, nachdem Gorbatschow in den Sommerurlaub aufgebrochen war. Mit Ehefrau Raissa, Tochter Irina, ihrem Ehemann und den beiden Enkelkindern urlaubte er auf der Präsidenten-Datscha am Kap Foros auf der Krim östlich von Jalta. Die Datscha war erst 1988 gebaut worden, den Gorbatschows gefiel es dort ausnehmend gut. Doch jetzt wurde sie dem Präsidenten zum Gefängnis. Tags zuvor, am 18. August, hatte eine Abordnung der Putschisten ihn unter Hausarrest gesetzt. Ein versteckt gehaltenes Kofferradio blieb für mehrere Tage Gorbatschows einzige Verbindung zur Außenwelt.

In den USA konnte sich George Bush zunächst zu nicht zu mehr als einer vorsichtigen Verurteilung durchringen. Er sprach von Vorgängen „außerhalb der Verfassung“ in Moskau. Natürlich unterstützte er Gorbatschows Kurs. Was aber, wenn sich die Putschisten doch durchsetzten?


Jelzin entkommt im Auto. Zur Schlüsselfigur der nächsten drei Tage wurde ein anderer Politiker: der russische Präsident Boris Jelzin, der in seiner Residenz am Rande Moskaus vom Putschversuch erfuhr. Anders als Gorbatschow wurde Jelzin nicht festgesetzt. Zwar umrundete eine Spezialeinheit seinen Compound, als er im Auto mit schusssicherer Weste in Richtung Zentrum ausfuhr, stoppte jedoch ihn niemand. Die Putschisten hielten eine sofortige Verhaftung Jelzins für kontraproduktiv. Sie ließen Panzer auf Moskaus Straßen auffahren und hofften, mit ihm kooperieren zu können. Sie täuschten sich.

Vor dem Weißen Haus, dem damaligen Ministerrat, erklomm Jelzin einen Panzer. Flankiert von dem russischen Premier Iwan Silajew und dem Parlamentsvorsitzenden Ruslan Chasbulatow rief er die Menschen um Unterstützung auf. Bei einer Kundgebung vor dem Weißen Haus nahmen 100.000 Menschen teil und jubelten Jelzin zu. Tagsüber herrschte in den Straßen Moskaus eine fast gelöste Atmosphäre: Moskauer brachten den jungen Rekruten Essen und Süßes, fragten sie, was ihre Aufgabe sei. Der öffentliche Protest und die Demoralisierung der Armee schwächte die Putschisten. Neben der Stimme das Volkes spielte ein anderer Faktor eine Rolle: Auch die Medien waren nicht unter vollständiger Kontrolle der Putschisten. In die Abendnachrichten gelangten Berichte über die Vorgänge vor dem Weißen Haus, zuvor hatte sich Vizepräsident Janajew auf einer Pressekonferenz blamiert.


Das Ende der Union. Entscheidend war schließlich, dass das Komitee selbst in der Frage der Gewaltanwendung gespalten war. Auch Teile der Armee wollten nicht zum Sturm auf das Weiße Haus ansetzen. Bei Schusswechseln in den Abendstunden des 20. August kamen dennoch drei Menschen um. Eine westliche TV-Dokumentation nannte die versuchte Machtergreifung „einen sehr sowjetischen Putsch“: Nichts habe funktioniert. Planung und Durchführung waren dilettantisch. Am 21. August gab das Komitee auf. Als Gorbatschow einen Tag später nach Moskau zurückkehrte, hatte sich die politische Lage dramatisch geändert. Von einer Erneuerung des Unionsvertrags war keine Rede mehr. Unter dem Eindruck des Staatsstreichs erklärte das ukrainische Parlament am 24. August die Unabhängigkeit des Landes. Die Zentrifugalkräfte, die die Putschisten aufhalten wollten, waren erst recht in Gang gesetzt.

Jelzin hatte sich durch den Putsch als demokratischer Anführer etabliert und griff nach der Macht, Gorbatschow, Präsident einer zerfallenden Union und kommunistischer Parteichef, war deutlich geschwächt. Bis Jahresende wurde die Sowjetunion liquidiert. Den Präsidentenposten, den Gorbatschow innegehabt hatte, gab es nicht mehr.

Das Buch

Serhii Plokhy
„The Last Empire: The Final Days Of The Soviet Union“
Basic Books, New York, 2015.
489 Seiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2016)

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