Verschwörungstheorien: 9/11 und die "ganze Wahrheit"

Ständig neue Gerüchte rund um den New Yorker Terror. New York 11.9.2001
Ständig neue Gerüchte rund um den New Yorker Terror. New York 11.9.2001(c) REUTERS (Sean Adair)
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Jahre nach dem New Yorker Terroranschlag blühen die Verschwörungstheorien mehr denn je. Über den alltäglichen Irrsinn im Internet.

Alle, die bereits einige, sagen wir fünf Lebensjahrzehnte hinter sich haben, haben eines gemeinsam: Es gab kein Jahrzehnt, in dem sie, beginnend von der Ermordung John F. Kennedys, nicht von einer Welle von Verschwörungstheorien und wahnhaften Welterklärungsmodellen je nach Empfängnisbereitschaft gequält oder fasziniert wurden. Ständig war jemand auf der Suche nach der „geheimen Botschaft“ oder dem „geheimen Wissen“, hatte man es erlangt, gehörte man zum Kreis der Eingeweihten, die den Durchblick hatten. Pink Floyd machten sich in einem Song des Albums „The Wall“ über die Mode, bestimmte Popsongs rückwärts zu hören, um geheime Nachrichten zu empfangen, lustig: Spielt man im Song „Empty Spaces“ ein unverständliches Gebrabbel rückwärts, so hört man: „Congratulations. You have just discovered the secret message.“

Ein Tod mit vielen Zweifeln John F. Kennedy in Dallas 22.11.1963
Ein Tod mit vielen Zweifeln John F. Kennedy in Dallas 22.11.1963(c) STR New / Reuters

Doch Verschwörungstheoretiker spielen nicht herum, sie meinen es ernst: Jede Verschwörungstheorie ist eine „Erzählung darüber, dass die ‚Wahrheit‘ verborgen ist, dass also ein bedeutsames Geheimwissen existiert, das von einer verschwörerischen Macht unterdrückt wird.“ (John Seidler, siehe Buchhinweis). Wenn die Thesen von der Unterwanderung des Weltgeschehens durch die Bilderberg-Konferenz, den israelischen Geheimdienst Mossad, die Freimaurer, CIA, US-Ostküste usw. wenigstens als postmoderner Ulk oder Produkt ironischer Weltsicht gedacht gewesen wären, hätte man diese kommunikative Marotte als unterkomplexe Antwort auf eine komplexe Welt interpretieren und hinnehmen können. Doch je mehr sie auf exzessive Fantastik verzichteten und ein Mäntelchen der Rationalität überzogen, desto mehr wurden sie fester Bestandteil des Meinungsspektrums und als alternative Wissensform in unserer Kultur verbucht. Schließlich sei jedes Wissen eine empirisch-soziale Konstruktion.

9/11 und der konspirative Wahn

Jetzt stecken wir bereits eine Strecke weit im 21. Jahrhundert und wenn jemand im vorigen Jahrhundert gedacht hat, dass der konspirative Wahn sich irgendwann einmal von selbst erledigen würde, hat nicht mit der Entwicklung des Internet gerechnet, eines Mediums, das nicht mehr hierarchisch gegliedert ist, nicht mehr lokal operiert und nicht mehr mit klar definierten Wahrheitskriterien operiert. Mit so einem Distributionsmedium funktionieren Verschwörungstheorien ungleich besser als zu Zeiten von JFK. Das populärste Beispiel dafür wurde der Terroranschlag vom 11. September 2001, eine „9/11 truth-movement“ wuchs sich aus zu einer Art sozialer Bewegung, die die offizielle Version der Ereignisse im „9/11-Commission Report“ anzweifelt. Gibt man bei Google „9/11 conspiracies“ ein, erlebt man seine blauen Wunder.

Die Verschwörungstheorien scheinen schon in dem Moment das Licht der Welt erblickt zu haben, als die Trümmer der Zwillingstürme in Manhattan noch rauchten. In der islamischen Welt fantasierte jeder von einem jüdischen Komplott, antiamerikanisch gesinnte Europäer sprachen davon, dass die US-Administration den Anschlag selbst durchgeführt oder in Auftrag gegeben habe und wenn nicht, dann den Schaden zumindest redlich verdient habe. Eine Umfrage 2010 ergab, dass mehr als drei Viertel der Deutschen den USA zutrauten, nicht die ganze Wahrheit publiziert zu haben. Schlimm wüteten die Verschwörungstheorien auch im Land des mörderischen Anschlags selbst: In den USA glaubt nach einer im Vorjahr erschienenen Studie die Hälfte der Bevölkerung nicht an die offizielle Version der Regierung.

Den Krieg legitimieren

Die Motivation der neokonservativen Kreise in der Regierung von George W. Bush, den Anschlag anzuzetteln, somit 3000 Bürger zu töten und New Yorks Finanzzentrum dem Erdboden gleichzumachen, liegt nach Ansicht der Verbreiter des Verschwörungsunsinns auf der Hand: Es galt, den Krieg gegen die Taliban in Afghanistan und gegen das Saddam-Hussein-Regime im Irak stimmungsmäßig vorzubereiten und zu legitimieren. Als praktischer Nebeneffekt konnte die Macht der Geheimdienste im Inneren gestärkt und damit der institutionalisierte Überwachungsstaat etabliert werden.

Jedes der Gerüchte, dass finstere Mächte hinter dem New Yorker Terrorakt stecken könnten, ist inzwischen hundertfach widerlegt. Doch genährt werden sie durch das tragische Faktum, dass die Anschläge ja durchaus zu einer Verkettung einer ganzen Reihe von Ereignissen geführt haben, die zur Destabilisierung der weltpolitischen Situation geführt haben. Man kann davon ausgehen, dass es ohne die Terrorakte von New York nicht zu einer US-Intervention im Irak und in Afghanistan gekommen wäre. Doch die Welt wäre deshalb nicht weniger bedroht, die Probleme der arabischen Welt existieren ja auch ohne die abenteuerliche Interventionspolitik George W. Bushs. Das Hauptproblem, „die Selbstblockade der arabisch-islamischen Welt, hätte es auch dann gegeben, und ebenso hätte es die verzweifelte Suche nach Auswegen aus dieser Selbstblockade gegeben, deren Produkt im weiteren Sinn auch Al Qaida war und immer noch ist.“ (Herfried Münkler in der FAZ vom 9.9.2016).

Spekulationen über eine kontrollierte Sprengung. New York 11.9.2001
Spekulationen über eine kontrollierte Sprengung. New York 11.9.2001(c) REUTERS (Peter Morgan)

Die immer wieder aufgestellte Hauptthese, es habe sich um eine kontrollierte Sprengung der Türme gehandelt, hat zuletzt sogar Eingang gefunden in das renommierte Wissenschaftsmagazin „Europhysics News“ der Europan Physical Society geschafft, dem Dachverband der europäischen Physikgesellschaften. Vier Autoren versuchen in der Ausgabe vom 28. August 2016 nachzuweisen, dass nur eine Sprengung etwa mit Dynamit die Wolkenkratzer zum Einsturz bringen konnte, allein durch die Hitze eines Brandes würden die tragenden Stahlskelette nicht destabilisiert werden. Dass die Herausgeber der Wissenschaftszeitschrift darauf hinwiesen, dass der Artikel auch „Spekulationen“ enthalte, hat die Rezeption des Thesenwerks in den sozialen Netzen nicht beeinträchtigt. Dahingestellt bleibt, warum die Verantwortlichen des Magazins das zweifelhafte Renommee des maßgeblichen Autors, des Physikers Steven Jones, eines Mormonen, der von seiner Universität zwangsbeurlaubt wurde, nicht mit der üblichen wissenschaftlichen Genauigkeit überprüft haben.

Paranoia in der Politik

Amerika kennt diese kollektive Atmosphäre gegenseitiger Unterstellungen und Verdächtigungen schon seit der hysterischen Kommunistenjagd in den 60er Jahren. Damals entwickelte der Soziologe Richard Hofstadter seine Formel vom „paranoid style“, vor dem auch Demokratien wie die USA nicht gefeit seien und der zu tun habe mit existenziellen Krisen, Nichtwissen, einer diffusen Angst, etwa in Zeiten wirtschaftlicher Depression. Mit der Vorstellung, es gebe eine Gruppe von Verschwörern, die geheim einen bösen Plan verfolge, bekommt die persönliche Krise nicht nur einen Verursacher, ein Gesicht, sondern auch eine scheinbar stringente Geschichte. Der Feind produziert nach Hofstadter Krisen, genießt das produzierte Unglück, profitiert davon. „There’s something going on“, irgendetwas stimmt da doch nicht, ist einer der Stehsätze der Verunsicherten, „what the hell is going on“ ist übrigens auch einer der häufigsten Sätze in den Wahlkampfreden von Donald Trump. Er arbeitet mit Andeutungen, die er nicht beweisen kann, mit Halbwahrheiten und versteckten Signalen. Festnageln lässt er sich nicht und die, die er ansprechen will, wissen Bescheid.

15 Jahre nach dem Terroranschlag ist also der Verschwörungs-Hype noch längst nicht abgeflaut. Die Zahl der Artikel und Bücher, die obskure Thesen verbreiten, wächst immer noch an, es gibt genug zu tun für die, die das wiederum zu entkräften suchen. Die Theorie, dass jener Generalverdacht, der sich darin spiegelt, vor allem ein Verdacht gegenüber den Medien ist, wurde von dem Medienwissenschaftler John David Seidler jüngst untersucht. Medien haben eine besondere gesellschaftliche Bedeutung für die Generierung und Verbreitung von Wissen und Meinungen. Die obskuren Ansichten der Verschwörungstheoretiker werden nun durch die Beobachtung der von ihnen verdächtigten Medien entwickelt. Seidler stellte die These auf, dass die verschwörungstheoretische Rede über Medien außerdem „ein bislang vernachlässigter Faktor der Rekrutierung und Mobilisierung sozialer Protestbewegungen sein könnte.“ Als er seine Dissertation im September 2014 abgeschlossen hatte, begannen gerade Dresdner „Spaziergänger“ und andere „besorgte Bürger“ damit, durch die Straßen zu marschieren und „Lügenpresse, halt die Fresse“ zu skandieren. Die Medien-Verschwörungstheorie war dem Internet endgültig entwachsen und auf der Straße gelandet. Glanzvoller kann eine These nicht bestätigt werden.

Buchhinweis

John David Seidler
Die Verschwörung der Massenmedien
Edition Medienwissenschaft
Transcript Verlag 372 Seiten 39,99 Euro

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