Alfred Rosenberg: Hitlers selbst ernannter Ideologe

Berlin, Rosenberg spricht zur Judenfrage vor Diplomaten
Berlin, Rosenberg spricht zur Judenfrage vor Diplomaten(c) Bundesarchiv (o.Ang.)
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Eine neue Biografie über den „Hüter der Idee“ im Dritten Reich. Der Reichsleiter lag im Dauerstreit mit den wirklich mächtigen Paladinen der NSDAP.

Es mag ein Zufall gewesen sein, aber ein bezeichnender: Seine Abschlussarbeit zur Erlangung des akademischen Titels eines Diplomingenieurs war der Entwurf eines – Krematoriums. Alfred Rosenberg, geboren 1893 in Estland, hingerichtet in Nürnberg 1946, war (auf dem Papier) einer der mächtigsten Paladine des NS-Regimes: Intellektueller, selbst ernannter Chefideologe im Dritten Reich, beauftragt mit der Überwachung der geistigen und weltanschaulichen Schulung und mit Erziehungsfragen in der NSDAP.

Er hatte viel Arbeit zu erledigen: Als „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ war sein berüchtigter Einsatzstab mit dem europaweiten Raub von Kunst- und Kulturgütern mehr als ausgelastet. Und zudem zählte er zu den ärgsten Scharfmachern, was die Vernichtung der europäischen Juden betraf. Diese antisemitische Überzeugung war ihm auch beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess nicht auszutreiben, sein Ende am Galgen war folgerichtig.

Verbohrt . . .

Erst 2013 konnten die Tagebücher des NS-Ideologen ausgewertet werden, Volker Koop hat sie in die neueste Biografie dieses rätselhaften Menschen eingearbeitet. Wer sich mit der erschreckenden antisemitischen Verbohrtheit von Hitlers Führungsgarnitur beschäftigt, kommt an Rosenberg nicht vorbei. Intellektuell hielt er sich fast allen Hitler-Kumpanen turmhoch überlegen, er belieferte sie mit dem geistigen Rüstzeug für die geplante Ausrottung des Judentums. Sein mühsam zu lesendes Werk „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ brachte es zu schwindelerregenden Auflagen, rangierte gleich hinter Adolf Hitlers „Mein Kampf“ – und zu den am wenigsten konsumierten schriftstellerischen Hervorbringungen der NS-Ära. Aber Rosenberg hatte noch andere Möglichkeiten zur geistigen Beeinflussung: Über die Einheitszeitung „Völkischer Beobachter“ hatte er als „Hauptschriftleiter“ sein wachsames Auge.

. . . aber ohne Macht

Ein Speichellecker, der nach Lob und Anerkennung des Führers lechzte, umso mehr, als er sich ständig im Abwehrkampf mit den Rivalen um Hitlers Gunst befand. Gleich bei seiner Ernennung zum Reichsminister machte ihm Hitler klar, dass Hermann Göring als Bevollmächtigter für den Vierjahresplan und Heinrich Himmler als Chef der SS Sondervollmachten besaßen, die er nicht anzutasten hatte. Und wie selbstverständlich galt ihm auch „der Doktor“, also Joseph Goebbels, als beharrlicher Widersacher, wenn es um Schrifttum, Film, um Bühne und Musik ging.

So verfasste er Lehrpläne in seiner Eigenschaft als Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP und schwärmte von einer „Hohen Schule“, die er nach dem Krieg zur NS-Akademie ausbauen wollte. Da war ihm der Reichsführer-SS, Himmler, mit seinen Ordensburgen aber schon weit voraus.

Sein zunächst sehr gutes Verhältnis zum „Führer“ verdankte der damals dreißigjährige Alfred Rosenberg der Teilnahme am gescheiterten Hitlerputsch zu München 1923. Seitdem konnte er sich zu dem Kreis der „Alten Kämpfer“ zählen. In seinem Tagebuch sonnte er sich in sentimentalen Erinnerungen an die Kampfzeit. Doch im Laufe der Jahre ließ er keinen Kompetenzkonflikt mit den Reichsleitern aus, lebte schließlich nur noch in einer Scheinwelt und im ständigen Clinch mit all den viel mächtigeren NS-Funktionären. Als er sich zuletzt auch noch mit dem gefürchteten Martin Bormann anlegte, war er in der Führungsschicht des Hitler-Reichs völlig isoliert. Am Ende fand er nicht einmal mehr Zugang zum „Führer“.

Als „Hüter der Idee“ bekämpfte er folgerichtig auch die Amtskirche. Aber sein Hauptinteresse galt der Judenfrage. Kein Zweifel: Durch sein Wüten gegen das Judentum machte er es den Schergen des Systems leicht. Er war ein Schreibtischtäter. Ein gefährlicher.

Hoffärtig . . .

„Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete war vom ersten Tag seiner Existenz an arbeitsunfähig und überflüssig“, schreibt Volker Koop, „denn sobald sich Rosenberg daran machte, das Ministeramt zu versehen, musste er zwangsläufig den Verantwortungsbereich anderer beschneiden, was diese sich natürlich nicht gefallen ließen.“ Dazu kam, dass er jeden seiner Nebenbuhler spüren ließ, wie gering er dessen Niveau einschätzte.

Beim Nürnberger Prozess suchte der Theoretiker Rosenberg die Schuld bei den anderen Mitangeklagten. Konzentrationslager habe er nie gesehen. Was sogar stimmte, weil er sich stets weigerte, solche zu besichtigen. Er gab zu, „sehr starke Worte“ über die Juden gebraucht und etwas von der Vernichtung gesagt zu haben, aber dies sei doch nicht wörtlich zu nehmen gewesen.

Im Dezember 1945 interviewte ihn der US-Psychiater Gustave M. Gilbert in der Zelle. Rosenberg machte einen verwirrten Eindruck: „Natürlich, es ist schrecklich, unbegreiflich, die ganze Geschichte. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es eine solche Wendung nehmen würde. Ich weiß es nicht. Schrecklich! – Bei einem solchen Ausmaß muss Hitler die Befehle gegeben haben, oder Himmler tat es mit Hitlers Zustimmung.“

Und, nach Minuten des Schweigens, weiter: „Ich glaube, ich wurde einfach mitgerissen. Wir dachten am Anfang nicht daran, jemanden zu töten. Das kann ich Ihnen versichern! Ich trat immer für eine friedliche Lösung ein. Ich hielt vor 10.000 Leuten eine Rede, die dann gedruckt und in großen Mengen verteilt wurde, in der ich für eine friedliche Lösung eintrat. Die Juden sollten lediglich aus ihren einflussreichen Positionen heraus, das war alles. Anstatt 90 Prozent Juden unter den Ärzten in Berlin zu haben, wollten wir sie auf 30 Prozent oder so ähnlich beschränken, was dann auch noch eine großzügige Zahl gewesen wäre. Ich hatte keine Ahnung, dass es zu solch grauenvollen Dingen wie Massenmord führen würde. Wir wollten nur das Judenproblem friedlich lösen. Wir ließen sogar 50.000 jüdische Intellektuelle über die Grenze gehen. So, wie ich Lebensraum für Deutschland wollte, fand ich auch, die Juden sollten ihren eigenen Lebensraum haben – außerhalb Deutschlands.“

. . . uneinsichtig

In seinem Schlusswort vor der Urteilsverkündung kämpfte der unbeirrte Antisemit ums Überleben: „Der Gedanke an eine physische Vernichtung von Slawen und Juden, also der eigentliche Völkermord, ist mir nie in den Sinn gekommen, geschweige denn, dass ich ihn irgendwie propagiert habe. Ich war der Anschauung, dass die vorhandene Judenfrage gelöst werden müsse durch Schaffung eines Minderheitenrechtes, Auswanderung oder Ansiedlung der Juden in einem nationalen Territorium in einem jahrzehntelangen Zeitraum.“

Doch die Dokumente, die Alfred Rosenberg in einer erstaunlichen Zahl hinterließ, zeigten eine ganz andere Sachlage. Mit neun weiteren Verurteilten wurde er am 16. Oktober 1946 in Nürnberg erhängt. Bis heute steht sein unheilvolles Wirken im Schatten der Verbrechen von Hitler, Himmler, Göring, Goebbels, Eichmann und Konsorten. Dabei war er einer der wichtigsten geistigen Brandstifter.

Nächsten Samstag: Hitlers ständiger Vasall – Der
konservative Opportunist Franz von Papen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2016)

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