Julius Tandler und der „erbgesunde Nachwuchs“

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l Amt für Jugend und Familie, Julius Tandler - Familienzentrum (c) Die Presse - Clemens Fabry
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Der sozialdemokratische Gesundheitsstadtrat Tandler führte im Wien der 1920er Jahre die freiwillige Eheberatung ein. Nicht ohne politische Hintergedanken – und mit durchaus zweifelhaftem Erfolg.

„Gesundheitliche Beratungsstelle für Ehewerber“: So hieß die Einrichtung, und sie befand sich im Wiener Rathaus. Der sozialdemokratische Gesundheitsstadtrat Julius Tandler hatte sie in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts eingerichtet. Es ging ihm um die Bevölkerungsfrage, wie Michaela Lindinger in ihrem Buch ausführt. „Erbgesunder Nachwuchs“ war das Anliegen Tandlers. In der „Arbeiter-Zeitung“ debattierte man, ob nicht jeder Heiratswillige ein ärztliches Attest beibringen sollte, um die Gefahr vererbbarer Krankheiten auszuschließen. So entstanden als Kompromiss 1922 die Eheberatungsstellen unter der Leitung von Karl Kautsky jun. Die Beratung war nicht obligatorisch, aber erfolgreich, allerdings nicht ganz im Sinne der Erfinder: Viele Klienten kamen erst nach der Heirat – wegen Verhütungs- und Abtreibungsfragen.

Tandler wollte die Geburtenrate heben, allerdings im Ausleseverfahren. Nicht das einzelne Individuum sei relevant, sondern es ginge um die Kosten für „lebensunwertes Leben“. Tandler, nach dem die Stadt Wien einen Platz am Alsergrund benannt hat: „Heute vernichten wir vielfach lebenswertes Leben, um lebensunwertes Leben zu erhalten.“ Dabei meinte er Kinder von Alkoholikern und Syphilitikern, die von ihm als „unwertes Leben“ kategorisiert wurden. Dabei dachte er an medizinisch und sozial indizierte Abtreibungen. Es ist bemerkenswert, wie die Sozialdemokratie mit diesen Äußerungen bis heute umgeht. Hier freilich wird die Lebensleistung Tandlers subsumiert. Und die ist ohne Zweifel positiv.

Anlässlich seines 80. Todestags läuft übrigens seit Mittwoch im Döblinger Karl-Marx-Hof eine Sonderausstellung, die dem Arzt, Wissenschaftler und Stadtrat gewidmet ist. Gezeigt werden auch Briefe aus seinem im Josephinum lagernden Nachlass. (Waschsalon 2, Karl-Marx-Hof, Halteraugasse 7, 1190 Wien).

Michaela Lindinger: „Die Hauptstadt des Sex“, Amalthea-Verlag, 221 Seiten, 24,95 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2016)

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