NS-"Euthanasie": "Aber nicht wahr, wir dürfen weinen?"

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Der aktuelle Film "Nebel im August" erzählt die Geschichte des von den Nazis ermordeten Jugendlichen Ernst Lossa. Sein Schicksal teilten etwa 200.000 Menschen, die von Medizinern als "lebensunwert" bewertet wurden.

„Es wird wieder mehr gestorben werden müssen“, schrieb der deutsche Psychiater Hermann Simon 1931 mit Verweis auf die Kosten von Menschen „im Krankenhaus, in der Irrenanstalt, im Krüppelheim, im Zuchthaus, im Altersheim“. Nur wenige Jahre später erfüllte sich sein Wunsch. Etwa 200.000 Menschen ermordete das NS-Regime im Rahmen des sogenannten Euthanasie-Programms. Von einem „guten Tod“ im Wortsinn des Begriffs „Euthanasie“ konnte keine Rede sein, dennoch kamen viele der Täter nach dem Krieg mit der Rechtfertigung, sie hätten aus Barmherzigkeit Schwerkranke von ihrem Leiden erlöst, durch.

Die ideologischen Grundlagen für die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ werden schon Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. Der Anthropologe Francis Galton führte 1883 den Begriff „Eugenik“ ein und bezeichnete Armenfürsorge und Medizin als Hindernisse für die natürliche Auslese. 1905 wird in Deutschland die Gesellschaft für Rassenhygiene gegründet. Wenige Monate nach der Machtergreifung Adolf Hitlers schreibt das „Erbermächtigungsgesetz“ die Sterilisierung von Menschen mit angeborenen Erkrankungen und Behinderungen wie Blindheit oder „Schwachsinn“ sowie von schweren Alkoholikern vor. 400.000 Menschen werden in den darauffolgenden Jahren zwangssterilisiert. Von da zur Tötung „lebensunwerten Lebens“ ist es nicht mehr weit. Schon vor dem Beginn des eigentlichen „Euthanasie“-Programms gehen die Sterberaten in vielen Anstalten in die Höhe, weil die Verpflegung für nicht arbeitsfähige Patienten verringert wird.

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Etwa Ende Oktober 1939 unterzeichnet Hitler eine „Ermächtigung“, mit der er seinen Begleitarzt Karl Brandt und NSDAP-Reichsleiter Philipp Bouhler beauftragt, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“.

Hitler sah Anstalts-Patienten als „nutzlose Esser“

Nach dem Krieg werden Täter behaupten, die verzweifelte Bitte eines Angehörigen hätte den Anstoß für das Programm gegeben. Bis heute hält sich die Legende vom „Kind Knauer“ oder Kind K.“ – der Vater eines schwerst körperlich und geistig behinderten Kindes habe Hitler um den Gnadentod für dieses gebeten und den eigentlich gegen Euthanasie eingestellten „Führer“ überzeugt. Wie der Journalist Ernst Klee in seinem Standardwerk zum Thema, „'Euthanasie' im Dritten Reich“ darlegt, dürfte es sich aber bei dem Fall um eine Erfindung im Nürnberger Ärzteprozess Angeklagter gehandelt haben. Und selbst wenn es ein derartiges Bittgesuch doch gegeben hat: Viktor Brack, Oberdienstleiter der Kanzlei des Führers und leitender Planer des Krankenmordes, ließ keinen Zweifel an den Motiven Hitlers: „Letzten Ende bezweckte Hitler mit der Einleitung des Euthanasie-Programms in Deutschland jene Leute auszumerzen, die in Irrenhäusern und ähnlichen Anstalten verwahrt und für das Reich von keinem irgendwelchen Nutzen mehr waren. Diese Leute wurden als nutzlose Esser angesehen (…)“.

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Entsprechend sind auch die Meldebögen ausgelegt, die in Folge der „Ermächtigung“ an alle Anstalten des Reichs geschickt werden. Jeder Patient ist mit Name, „Rasse“ und Diagnose zu erfassen, inklusive Angaben dazu, ob er einer Beschäftigung nachgeht und ob er regelmäßig Besuch erhält – die Planung des Massenmords an Kranken beginnt.

Die Tötungen beginnen mit der „Euthanasie“ von Kindern, von denen „keine Arbeitseinsatzfähigkeit“ erwartet wird und mit Massakern in polnischen Krankenanstalten. Derweil bereitet man im „Altreich“ die erste Vergasungsanstalt auf Schloss Grafeneck vor. Ab 1940 werden aus dem ganzen Reich körperlich und geistig Behinderte, Alte, Epileptiker oder sonst für „lebensunwert“ gehaltene Patienten nach Grafeneck transportiert und gleich nach der Ankunft mit Kohlenstoffmonoxid vergast. Das Todesurteil sprechen medizinische Gutachter, die auf den Meldebögen, ohne den Patienten gesehen zu haben, ein „+“ für das Leben oder ein „-“ für den Tod eintragen.

Grafeneck
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Organisiert wird der Massenmord von der Kanzlei des Führers der NSDAP (KdF), offiziell tritt eine Scheingesellschaft unter dem Namen Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, geleitet von Gerhard Bohne, auf. Die Verwaltung ist größtenteils in der Berliner Tiergartenstraße 4 untergebracht – T4 lautet daher der Kurzname der Aktion.

70.000 Tötungen nimmt die Organisation als vorläufige Berechnungsgrundlage an. Eine der dafür eingerichteten weiteren Vergasungsanstalten ist Schloss Hartheim bei Linz. „Nirgends leben die Anwohner näher am Mordgeschehen“, schreibt Klee dazu. Jeweils kurz nach dem Eintreffen der teilweise zweimal täglichen Transporte strömen aus dem Kamin des Schlosses riesige Rauchwolken und legen einen penetranten Gestank über den kleinen Ort.

Aber auch abseits der Tötungsanstalten bekommt die Öffentlichkeit bald Wind von den Morden. „Die Fürsorgeämter und andere nicht zur Geheimhaltung verpflichtete Behörden bekommen Todesnachrichten so häufig, daß jede Geheimhaltung längst durchbrochen ist“, schreibt der Psychiater Wilhelm Weskott im Juli 1940.  Pannen behindern die Täuschung ebenfalls: So erhält manche Familie zwei Sterbeurkunden mit zwei verschiedenen Sterbedaten, oder bei einem längst Blinddarmoperierten wird Blinddarmentzündung als Todesursache angegeben. Misstrauen erregt auch, dass die angeblich an einer natürlich Todesursache Verstorbenen stets „aus seuchenpolizeilichen Erwägungen“ sofort eingeäschert worden seien, wie es in den „Trostbriefen“ an die Angehörigen heißt. Einige wagen es, ihren Verdacht gegenüber Anstalten oder Behörden zu äußern. "Herr Doktor schauen Sie muß ich nicht jetzt doppelt den Schmerz tragen da mir die Leute sagen direkt ins Gesicht nun haben Ihrs halt vergiftet so zu sagen beseitigt", schreibt eine Mutter an den Leiter der "Wiener städtischen Jugendfürsorgeanstalt 'Am Spiegelgrund'".

Film


Der Film „Nebel im August“, derzeit im Kino, zeigt das Schicksal des Jugendlichen Ernst Lossa, der als 14-Jähriger Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee ermordet wurde. >>mehr dazu

"Dann hätte ich meine Dienstwohnung aufgeben müssen..."

Kaum Kritik kommt von den Medizinern. Zwar versuchen einige Anstaltsleiter, die T4-Transportlisten für ihre Einrichtungen zu ändern – in der Regel geht es ihnen aber darum, für die Anstalt nützliche Arbeitskräfte zu behalten und durch andere Kranke auszutauschen. Josef Schicker, Direktor der niederösterreichischen Anstalt Gugging, begründet seine Kooperation so: „Ich habe auch den Gedanken erwogen, ob ich nicht aus der Anstalt scheiden soll, gab ihn aber deshalb wieder auf, weil ich dann meine Dienstwohnung hätte aufgeben müssen und ich in der Zeit einen Transport meiner Möbel nach Oberösterreich nicht hätte durchführen können.“ Zur Mitarbeit an T4 gezwungen wurde niemand.

Noch eine andere Berufsgruppe schaut fast ausnahmslos weg: Obwohl es für die „Euthanasie“ nicht einmal auf dem Papier eine Rechtsgrundlage gibt (Hitlers „Ermächtigung“ wurde auf privatem Briefpapier erfasst und ein entsprechender Gesetzesentwurf bleibt später in der Schublade), ist nur der Fall des Vormundschaftsrichters Lothar Kreyssig dokumentiert, der die Verlegung von Patienten, die seiner Vormundschaft unterstehen, untersagt.

„Wir sterben ja, aber den Hitler holt der Teufel“

Und die Opfer selbst? Auch sie wussten oftmals, was ihnen bevorstand, wie zahlreiche Abschiedsbriefe und Aussagen von Anstaltspersonal belegen. „Wir sterben ja, aber den Hitler holt der Teufel“, ruft eine Patientin, während sie gewaltsam in einen Bus gezerrt wird. In einer Anstalt für „bildungsunfähige schwachsinnige Kinder“ fragt ein Mädchen seine Pflegerin: „Daß wir uns trennen, Tante Hilma, muß wohl sein, aber nicht wahr wir dürfen weinen?“ Und als sie sie kurz vor ihrer Ermordung noch einmal wiedersieht: „Wir haben nur so große Angst, daß es mit uns auch so gemacht wird, wie mit den anderen Kindern. Sie bekommen erst immer Pulver in das Essen, wenn sie dann nicht mehr essen, eine Spritze und dann sind sie tot“.

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Als sich in der Bevölkerung zunehmend Unmut regt und gleichzeitig die Lage auf dem Schlachtfeld immer schwieriger wird, werden die Vergasungen von Kranken im großen Stil eingestellt. Er sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt gegen eine öffentliche Debatte über das Euthanasie-Programm, notiert Propagandaminister Joseph Goebbels im August 1941 in seinem Tagebuch. Das sei in einer kritischen Periode des Krieges „außerordentlich unzweckmäßig“. Ihre „Expertise“ bringen einige T4-Mitarbeiter fortan in Konzentrationslagern ein. In den Vergasungsanstalten erprobte Methoden wie das Anbringen von Duschen in den Gaskammern zur Täuschung der Opfer werden auch bei der Massenvernichtung der Juden angewendet.

Die Ermordung von Kranken geht indes mit unauffälligeren Methoden weiter. Die einen lässt man einfach verhungern, die anderen werden mit Medikamenten wie dem Schlafmittel Luminal „behandelt“, wie es in der NS-Diktion heißt.

Das Ende des Krieges bedeutet für viele Anstaltspatienten noch immer nicht das Ende der Gefahr. Noch 1947 zeigen Aufzeichnungen hohe Sterberaten. Autor Klee zufolge liegt das aber nicht an der mangelhaften Versorgungslage, da viele Anstalten eine eigene Landwirtschaft betrieben hätten. Ein amerikanischer Soldat berichtete, dass drei Monate nach Besatzungsbeginn aufgeflogen sei, dass in einem Landeskrankenhaus ungemindert weiter gemordet wurde. Zwar war der Leiter der Einrichtung als Nationalsozialist festgenommen worden, das restliche Personal habe aber „ungestört das Morden der ihnen Anvertrauten“ fortgesetzt.

Wie schleppend die Aufarbeitung von T4-Verbrechen lief, zeigt exemplarisch der Fall des österreichischen „Spiegelgrund“-Psychiaters Heinrich Gross, von den Kindern der Anstalt „Sense" genannt. Er setzt seine Karriere nach dem Krieg nahtlos fort, wird als psychiatrischer Gutachter beauftragt und forscht an den Hirn-Präparaten ermordeter Kinder. Erst 1998 wird er des Mordes angeklagt und stirbt 2005, ohne dass ein Urteil gefallen ist.

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Ernst Klee

„Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“

Fischer Verlag, 2014

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