Ungarn 1956: Wenn der Volkszorn losbricht

Noch wacht der Tyrann über Ungarn, am 23. Oktober 1956 wird seine Statue zertrümmert.
Noch wacht der Tyrann über Ungarn, am 23. Oktober 1956 wird seine Statue zertrümmert.(c) Erich Lessing
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Am 23. Oktober flammt der Kampf gegen die kommunistische Diktatur auf. Die Partei ist sprachlos und muss die Rote Armee um Hilfe bitten – ein Massaker beginnt.

Hannah Arendt sprach von einer „unerwarteten Revolution“. Und tatsächlich traf der ungarische Volksaufstand vom Oktober 1956 gegen die kommunistische Diktatur die Weltöffentlichkeit – und damit auch das kleine Nachbarland Österreich – völlig unvorbereitet. Gewiss, es gärte im Land, die Intellektuellen und Studenten waren unzufrieden – aber mit dieser Explosion der Volkswut gegen die Unterdrücker konnte man nicht rechnen.

Die „Presse“-Serie „Die Welt bis gestern“ hat vor drei Wochen, am 1.Oktober, die explosive Ausgangslage beschrieben: Während Österreich in jener welthistorischen Sternstunde vom 15. Mai 1955 von den ausländischen Besatzungstruppen befreit wurde, bleibt die Rote Armee im Nachbarland in ihren Stellungen. Mit ihrer Hilfe hält sich die kommunistische Partei. Seit Kriegsende hat sie jährlich bis zu 280.000 Menschen verhaftet. Internierung, Gefängnis, Zwangsarbeit stehen auf der Tagesordnung – und das bei einer Bevölkerung von neueinhalb Millionen Menschen.

Auf Befehl aus Moskau ist im Juli der im Volk verhasste Diktator Mátyás Rákosi gestürzt und durch Erno Gero ersetzt worden. Ein äußerst schwaches Zeichen von Entspannung. Den „Reformern“, hauptsächlich Studenten und Intellektuellen, schwebt eine Öffnung, eine Abkoppelung von Moskau vor, wie es in Jugoslawien der KP-Chef Tito geschafft hat. Und man ruft nach Imre Nagy, der nur wenige Jahre als Ministerpräsident agieren durfte, bis ihn die orthodoxe Parteiführung wieder abberufen hatte. Imre Nagy hatte es wenigstens versucht: Weg vom Vorrang für die Schwerindustrie, hingegen mehr Augenmerk auf die Landwirtschaft und die Konsumgüter. Doch seit 1955 gilt Nagy als Unperson. Die KP-Clique hat ihn nicht nur entmachtet, sondern ihn auch aus der Partei ausgeschlossen.

Jetzt, am 23. Oktober 1956, ist es so weit: Die Studenten der Budapester Hochschulen fordern Veränderungen. In maßvoller Form: Demokratischer Pluralismus und nationale Unabhängigkeit – es sind alte Anliegen aus der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848. Die Versammlung an der Budapester Universität dauert die ganze Nacht über, und am Morgen sind die Flugblätter fertig: offene freie Wahlen! Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen! Imre Nagy muss wieder an die Spitze!

Wie reagiert das Militär?

Zwei große Demonstrationszüge formieren sich, beim Petofi-Denkmal jubeln die Passanten, Arbeiter schließen sich den Demonstranten an. In den Kasernen hängen die Soldaten die Nationalfahne ohne das Wappen aus den Fenstern.

Dann ziehen sie zum Parlamentsgebäude. Es sind inzwischen 100.000. Und im Stadtwäldchen passiert zugleich an diesem Nachmittag Ungeheuerliches: Dort ragt seit 1945 ein riesiges Stalindenkmal in den Himmel. Ein paar Mutige bearbeiten den Bronzediktator mit einem Schneidbrenner so lange, bis um 21 Uhr das Symbol der Tyrannei herabstürzt. Nur die zyklopenhaft großen Stiefel bleiben stehen. Die zu Boden gefallene Statue wird von der Menschenmenge in wilder Lust zerschlagen.

Die ersten Toten

Am Abend, das Zentralkomitee der kommunistischen Partei tagt in Permanenz, bewegen sich bereits die ersten sowjetischen Panzer aus ihren Stützpunkten in Richtung Budapest. Vor dem Rundfunkgebäude kommt es zu der ersten Schießerei mit der Polizei, die ersten Toten sind zu beklagen. Niemand hat sie gezählt...

Um Mitternacht verwandelt sich die ursprünglich friedliche Demo in bewaffneten Aufstand. Die Befehlshaber der Staatssicherheit sind wie gelähmt. Im Rückblick erinnert vieles an den 9. November 1989 in Berlin. In Budapest freilich fließt Blut. Denn nun hat die Staatsführung die sowjetische Besatzungsmacht um Hilfe gerufen. Inzwischen hatte man den früheren Premierminister Imre Nagy wieder zum Regierungschef gemacht, der versucht eine politische Lösung des Konflikts: Wer seine Waffe abliefert und sich ergibt, werde amnestiert. Doch der Aufstand breitet sich aufs ganze Land aus.

Am 24. und 25. Oktober kommt es wieder zu großen Aufmärschen. Der Hauptteil der Demonstranten sammelt sich bei der Universität und verbrüdert sich mit der Besatzung der dort stationierten Sowjetpanzer. Unglaublich: Drei dieser stählernen Ungetüme setzen sich an die Spitze des Demontrationszuges und schießen, vor dem Parlament angekommen, wie wild auf die dortigen Sowjetpanzer. Das Massaker fordert Hunderte Tote, und damit ist nun der wütende Protest erst so richtig angefacht.

Gero wird entmachtet

Moskau ist zu Recht aufs Höchste alarmiert. Schon tags zuvor war KGB-Chef General Iwan Serow in Budapest eingetroffen. Der Mann hat etwas zu verteidigen – nämlich seinen schlechten Ruf: 1943/44 war er Organisator der erbarmungslosen Massendeportationen von Karatschaiern, Kalmücken, Tschetschenen, Inguschen und Krimtataren. Jetzt kommt der Träger des Ordens „Held der Sowjetunion“ gerade richtig. In seiner Begleitung zwei der ranghöchsten Politbüromitglieder: Michail Suslow, ein Günstling des Kreml-Herrschers Chruschtschow, und Anastas Mikojan. An seinen Händen klebt seit den Vierzigerjahren Blut, viel Blut: In seinem Heimatland, der Sowjetrepublik Armenien, ließ er Tausende seiner Landsleute töten und Zehntausende deportieren. Stalins Wahnsinn machte der einstige Priesterseminarist bedenkenlos mit.

Suslow und Mikojan sind gewohnt, nicht lang zu fackeln. In der Parteizentrale verhandeln sie mit der ungarischen Führung, als eine Granate in dem Raum einschlägt. In aller Hast wird der verhasste Erste Sekretär, Erno Gero, seines Parteiamtes enthoben und János Kádár inthronisiert. Doch die Revolution breitet sich aufs ganze Land aus – meist unblutig, manchmal sehr blutig: Geheimdienstler werden gelyncht, ihre entstellten Leichen auf Bäume geknüpft.

„Es war ein Naturereignis, ohne Zentrum, ohne Konzept und ohne koordinierte Führung“, sagt der Zeitzeuge Paul Lendvai. „Dass die fast 900.000 Mitglieder starke kommunistische Partei nur ein Koloss auf tönernen Füßen war und sozusagen von heute auf morgen verschwand, das bewiesen die Tage vom 23. Oktober bis zum 4. November.“

Die Flüchtlingswelle

So tobt der Furor noch mehrere Tage lang. Es ist ein ungleicher Kampf, auch wenn sich immer mehr Arbeiter Waffen besorgt haben. Parallel dazu setzt der Flüchtlingsstrom in Richtung Burgenland ein. Doch hier gilt es, den „Eisernen Vorhang“, diese Grenzbefestigung aus Laufgräben und Stacheldrahtverhau, an unbewachten Stellen zu überwinden. So gelangt die Brücke von Andau zu weltweiter Bekanntheit. Mit rot-weiß-roten Bändern hatte das Bundesheer die Grenze markiert, um den erschöpften und durchnässten Fliehenden Orientierung zu verschaffen. Was die Burgenländer, das Bundesheer und die Gendarmerie an Hilfsbereitschaft an den Tag legen, das geht um die Welt.

Doch die ist anderweitig beschäftigt: Mit der Suez-Krise. Großbritannien und Frankreich bereiten zusammen mit Israel eine Besetzung des Suezkanals vor. Am 24.Oktober unterzeichnen die drei Staaten ein geheimes Abkommen – die Vorbereitungen hat man auch vor den USA geheimgehalten. Am 29. startet Israel seinen Vormarsch; am 31. Oktober beginnen Großbritannien und Frankreich mit der Bombardierung ägyptischer Flughäfen. Die weltpolitische Lage ist plötzlich hochexplosiv. Selbst ein Atomkrieg ist nicht mehr auszuschließen.

So kämpfen die Widerstandskämpfer in Budapest mutterseelenallein und ohne Hilfe des Westens. Der Rückschlag sollte bald folgen. Mehr darüber am nächsten Samstag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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