Eine Idee des Westens wider das dynastische Wesen

Am Anfang war die Französische Revolution. Die Revolution in Österreich und Ungarn scheiterte. Nach der Restauration folgte die Union Österreich-Ungarn.
Am Anfang war die Französische Revolution. Die Revolution in Österreich und Ungarn scheiterte. Nach der Restauration folgte die Union Österreich-Ungarn.(c) AKG/Picturedesk.com
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Geschichte und Gegenwart: Wie entstand der Nationsbegriff? Wie hat er sich verändert? Und wie wurde Österreich, der Vielvölkerstaat mit dem ambivalenten Verhältnis zu Deutschland, eigentlich zur Nation?

Auch die Nation nimmt ihren Ausgang in jenen beiden Ereignissen, die für die politische Welt des Westens prägend werden sollten: dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und der Französischen Revolution. In den USA lebten Menschen verschiedenster Völker, die nun nicht mehr durch die britische Krone zusammengehalten wurden. An deren Stelle trat 1776 als übergeordnete Instanz die neue amerikanische Nation. „One nation under god“, wie es später heißen sollte.

Die Französische Revolution wiederum war zweifach von der Amerikanischen Revolution beeinflusst. Zum einen ideell, durch Werte wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie. Zum anderen (finanz-)politisch: Die Schulden, die das Königreich Frankreich angehäuft hatte, indem es die Amerikaner in ihrem Unabhängigkeitskampf gegen seinen Erzfeind England unterstützt hatte, waren mitausschlaggebend für den Sturz des französischen Königs, Ludwigs XVI.

Das Erste, was die Revolutionäre aus dem Bürgertum taten, war die Einrichtung einer Nationalversammlung anstatt der Generalstände, die aus erstem Stand (Adel), zweitem Stand (Klerus) und drittem Stand (Bürgertum) bestanden hatten. Frankreich wurde zu einer Staatsnation („?tat-nation“). Zuvor war Frankreich einfach das Land eines bestimmten Herrscherhauses, zuletzt der Bourbonen, gewesen.

Österreich, eine späte Nation

In Österreich lag der Fall ähnlich. Und es sollte noch länger dauern, bis das Land zu einer Nation wurde. Österreich, das war eigentlich das Haus Habsburg. Die Länder der Monarchie, ein Vielvölkerstaat, zusammengehalten durch die Autorität des Herrschers. Die Nationen, das waren die einzelnen Völker, die Ungarn, die Tschechen, die Kroaten, die Ruthenen (Ukrainer), die Wallachen (Rumänen), die Italiener, die Slowenen.
Für die deutschsprachigen Österreicher war die Sache ambivalent. Sie fühlten sich zwar als Österreicher, vor allem sofern sie kaisertreu waren, aber auch als Deutsche, erst recht, wenn sie deutschnational waren. Was dann ab dem Revolutionsjahr 1848 eine größere Rolle spielen sollte.

1848 gingen Liberalismus und Nationalismus als fortschrittliche Kräfte noch Hand in Hand. Das Ziel war der Sturz der absolutistischen Herrscher, Freiheit und Demokratie, am besten in einem großen Deutschland, das auch die deutschsprachigen Teile Österreichs umfassen sollte. Doch daraus wurde nichts, die Revolution scheiterte. In Österreich kam es zur Restauration der Habsburger. Und in Deutschland nur zur kleindeutschen Lösung: einer Einigung der deutschen Länder ohne Österreich. Und von hier aus blickten dann viele sehnsüchtig in das größere Deutschland, von dem sie nun ausgeschlossen waren. Österreich wandte sich daraufhin Ungarn zu. 1867 kam es zur Union, der Staat hieß jetzt Österreich-Ungarn.

Das „spanische“ Österreich

Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler stellte allerdings die – durchaus gewagte – These auf, dass Spanien auf Österreich mehr abgefärbt habe als Deutschland. „Auch Wien ist eine Schöpfung spanischen Geistes.“ Die Habsburger hatten lang auch über Spanien geherrscht, am Wiener Hof wurde das Spanische Hofzeremoniell eingeführt, und der Katholizismus spielte hier eine ähnlich prägende Rolle wie in Spanien. Im Gegensatz zum protestantischen Deutschland.

Später sollten dann auch der spanische Franco-Faschismus und der österreichische Dollfuß-Faschismus mehr miteinander gemein haben als mit dem deutschen Nationalsozialismus. Dass die spanische Fußballnationalmannschaft ausgerechnet in Wien den ersten großen Erfolg ihrer Geschichte, den Gewinn der Europameisterschaft 2008, gefeiert hat, wird aber wohl Zufall gewesen sein.

Eine wirkliche Nation, gemäß dem Begriff, wie wir ihn heute verstehen, wurde Österreich erst 1918. Durch die äußeren Umstände war dies jedoch auch negativ behaftet: Österreich war nach dem Ersten Weltkrieg ein Rumpf ohne Glieder, mit einem für das kleine Land viel zu großen Kopf, nämlich Wien. Das Land erschien wirtschaftlich kaum lebensfähig. Das gesamte politische Establishment einschließlich der Sozialdemokraten wünschte den Anschluss an Deutschland. Doch die Siegermächte untersagten das. Selbst den von den Österreichern sich selbst gegebenen Namen Deutschösterreich verboten sie, Republik Österreich sollte das geschrumpfte Gebilde fortan heißen.

Das Ende der Habsburger-Monarchie war nicht nur der Niederlage im Ersten Weltkrieg geschuldet. Das Fundament war schon davor zerbröckelt – durch den immer stärker werdenden Nationalismus. Jedes Volk wollte seinen eigenen Staat, raus aus dem „Völkerkerker“ der Habsburger – nun war der Weg frei. Mit positiven und negativen Folgen.

Der Historiker Herbert Herzmann widmet sich in seinem Buch „Nationale Identität“ dieser Zwiespältigkeit: „Die Idee der Nation hatte die Menschen nicht nur von den dynastischen Ketten befreit, sondern auch von den Fesseln der Volkszugehörigkeit, den letzten archaischen Resten des Tribalismus. Die Vermischung des als Blutsgemeinschaft verstandenen Volkes mit der Idee der Nation machte diesen Fortschritt zunichte.“

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Republik Österreich dann eine auch von seinen eigenen Bürgern anerkannte Nation werden. Auch wenn das von deutschnationaler Seite mitunter bezweifelt wurde, man erinnere sich an Jörg Haiders Sager von Österreich als „ideologischer Missgeburt“.

Größte Erfolgsgeschichte der Geschichte

Der demokratische Nationalstaat in Europa nach 1945 war zur größten Erfolgsgeschichte in der Geschichte des Kontinents geworden. Die mittlerweile gefestigten nationalstaatlichen Demokratien konnten es sich nun auch leisten, Rechte an eine übergeordnete Institution abzutreten: die Europäische Union.

Und bis zum ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schien es, als würden die Nationalstaaten eines Tages in einem Vereinten Europa aufgehen. Doch dann kam die Wirtschaftskrise. Und mit ihr die Eurokrise. Auf einmal war von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten die Rede, den nördlichen Ländern, die einen härteren Euro haben könnten, und den südlichen mit einem weicheren. In Deutschland wurde etwa als Reaktion darauf die AfD gegründet – eigentlich als Wirtschaftspartei, angeführt von Professoren, die mit der Währungspolitik der EU und der deutschen Regierung nicht einverstanden waren.

Und dann kam die Flüchtlingskrise. Die EU und ihre Institutionen waren wie gelähmt. Die Nationalstaaten nahmen selbst das Heft in die Hand. Mit Österreich und Ungarn als Vorreitern. Ungarn nahm die Wiedererrichtung der Grenzen vorweg. Österreich setzte dann die Schließung der Balkanroute durch, auf der die Flüchtlinge gekommen waren. Und bei vielen Bürgern blieb der Eindruck zurück: Wenn es ernst wird, kann man sich nur auf den Nationalstaat verlassen. Dass die EU unter Führung Angela Merkels dann noch ein Kooperationsabkommen mit der Türkei zustande brachte, konnte diesen Eindruck nicht wirklich verwischen.

Der antinationalstaatliche IS

Stand Oktober 2016 lässt sich also sagen: Der Nationalstaat hat noch nicht ausgedient. Und angesichts des größten Ungeheuers der Gegenwart, des Islamischen Staats, der wie die alten Reiche antinationalstaatlich ausgerichtet ist, könnte er sogar etwas von seiner früheren progressiven Bedeutung wiedergewonnen haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2016)

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