Als die Weltvernunft noch Perücke trug

Portrait of Gottfried Wilhelm Leibnitz
Portrait of Gottfried Wilhelm Leibnitz(c) Science Photo Library / picturedesk
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Vor 300 Jahren starb Gottfried Wilhelm Leibniz, der letzte Universalgelehrte. Seine Mathematik ist bis heute unverzichtbar. Seine wunderliche Philosophie verdient, neu gedacht zu werden – schon ihrer Haltung wegen.

Morgens, wenn ich noch im Bett liege, kommen mir in einer einzigen Stunde oft so viel Gedanken, dass ich manchmal den ganzen Tag damit zubringe, sie aufzuschreiben.“ Wer so viel denkt, kann sich leicht verirren. Gottfried Wilhelm Leibniz aber verbrachte sein ganzes erfülltes Leben damit, noch einmal alles zusammenzudenken. In einem frohgemuten Kraftakt fügte er den Kosmos in seinem Kopf zu einem harmonischen System der Vernunft: Physik und Religion, Zahlen und Seele. Deutschland feiert in diesen Tagen seinen „klügsten Kopf“, wie das Magazin „Cicero“ schrieb. Heute vor 300 Jahren starb der letzte Universalgelehrte der Geistesgeschichte.

Was von ihm bleibt? Eher müsste man fragen, wo in der Welt des Wissens der Beamte mit der barocken Perücke keine Spuren hinterlassen hat. Als Mittelschüler traktieren uns Mathematiklehrer mit seinen Differenzialen und Integralen. Musste aber sein: Könnten wir nicht damit Kurven und Bewegungen berechnen, müssten wir auf Maschinen, Elektronik und einen Gutteil der heutigen Naturwissenschaft verzichten. Gern verzichtet hätte die Scientific Community auf den wohl hässlichsten Prioritätenstreit ihrer Geschichte: ob denn nun Leibniz oder doch Newton die Infinitesimalrechnung erfunden habe. Heute wissen wir: Sie kamen ziemlich zeitgleich darauf. Aber Leibniz hat seine Entdeckung als Erster publiziert, seine Notation hat sich durchgesetzt. Dass die Engländer sie aus Trotz verweigerten, manövriere ihre Mathematiker jahrzehntelang aufs Abstellgleis.

Computer, Logik – und das Unbewusste

Schüler sollten über das emsige Genie nicht fluchen, sondern ihm danken: für die erste mechanische Rechenmaschine, die auch multiplizieren und dividieren konnte. Zwar schaffte es zu Lebzeiten kein Feinmechaniker, sie fehlerfrei zu bauen (das gelang erst 1990). Aber die Absicht zählt: „Knechtische Rechenarbeiten“, befand Leibniz, seien des Menschen „unwürdig“. Ein impliziter Forschungsauftrag, der uns zum Taschenrechner führte. Doch damit nicht genug. Ohne Gott ist nichts, postulierte Leibniz, setzte für den Schöpfer die Eins und das Nichts die Null – und entwickelte so das binäre Zahlensystem, die Grundlage für die Computertechnik. In seinem Seelenmodell entwickelte er, lang vor Freud, ein Konzept des Unbewussten. Wären seine Überlegungen zu einer formalen Zeichensprache und dem Kalkül ihrer Schlussregeln schon zu Lebzeiten publik geworden: Die Revolution der Logik im 19. Jahrhundert, ja auch die aktuelle der künstlichen Intelligenz hätten schon viel früher starten können. Aber der rastlose Rationalist nahm sich eben selten Zeit, seine Gedanken in Bücher zu fassen. Lieber hielt er sich kurz. Als einer der Ersten publizierte er Aufsätze in wissenschaftlichen Magazinen. Und dann die Briefe: Auch in seiner höchst korrespondierfreudigen Epoche ragte die Schreibwut des Allrounders hervor. Mit 1100 Adressaten aus 16 Ländern tauschte er sich aus, bis nach China reichte seine Post.

Eine Professur strebte der studierte Jurist nie an. Es gab ja so viel zu tun! Nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges sollte ein dauerhafter Friede einkehren. Leibniz wollte Katholiken und Protestanten in der Ökumene versöhnen, er träumte von einem politisch vereinten Europa. Also wurde er Diplomat, Berater der Fürsten. Der Kurfürst von Mainz schickte ihn nach Paris, zu den wachsten Geistern seiner Generation. Der Herzog von Hannover aber zwang seinen Bibliothekar zum fruchtlosen Monsterprojekt einer Geschichte des Welfenhauses – Leibniz schaffte es nur bis zum Jahr 1005.

Aber in den Pausen blieb ja doch Zeit: für bessere Türschlösser, Pläne für ein U-Boot, eine Versicherung für Witwen und Waisen, die Gründung von Akademien (die in Wien blieb nur Plan), eine Endloskette für die Erzförderung und die Erfindung der Matrizen. Was so disparat klingt, hatte alles seinen festen Platz in einem strengen philosophischen System: der Lehre von den Monaden (siehe unten). Für diese Seelenatome, die „keine Fenster“ haben, weil jedes von ihnen die ganze Welt repräsentiert, begeistern sich heute nur noch Fachphilosophen. Zu Unrecht? Es geht um das Leib-Seele-Problem. Leibniz war ein Reduktionist: Er reduzierte das Materielle zum Epiphänomen des Geistigen. Heute machen es Hirnforscher und viele Philosophen umgekehrt – und scheitern ebenso. Es bleibt ein Rest von Rätsel. In die Richtung von Leibniz zu denken, erscheint aber nicht attraktiv, weil Gott dort alles orchestriert, und die Willensfreiheit, um die es doch geht, auf der Strecke bleibt.

Die beste aller möglichen Welten?

Gott trägt bei Leibniz die ganze Last, für alles Leid und Übel in der Welt. Er macht sich zum Pflichtverteidiger: Wie ein Softwareingenieur habe sein Schöpfer alle möglichen Welten durchgerechnet und sich daraus die bestmögliche ausgesucht. Aber das Plädoyer scheitert. Sein Hauptargument: Wir könnten das Schöne und Gute nicht so beglückend erleben, müssten wir nicht den Kontrast dazu erleiden. Aber diese psychologische Ausstattung ist nicht denknotwenig – Gott hätte uns auch anders erschaffen können.

Die „Theodizee“ war in den europäischen Salons hochpopulär. Aber mit dem Erdbeben in Lissabon, als am Allerheiligentag 1755 Zehntausende beim Gebet von einstürzenden Kirchenmauern erschlagen wurden, brach auch dieses Denkgebäude in sich zusammen. Und Voltaire konnte in seinem satirischen Roman „Candide“ herzhaft spotten: über seinen naiven Helden, der die schrecklichsten Dinge erlebt, und dessen gelehrten Lehrer, der ungerührt von der „besten aller möglichen Welten“ faselt. Das Lachen hallt bis heute nach. Und doch macht sich Sehnsucht breit: nach dem Glauben an die Vernunft, der Leibniz angetrieben hat. Ist er noch zeitgemäß? Jedenfalls bräuchten wir dazu, mitten in einer Gegenrevolution des Irrationalen, auch seinen unerschütterlichen Optimismus. Eine hoffnungsfrohe Vernunft: vielleicht der beste aller möglichen Auswege.

LEBEN UND WERK

Gottfried Wilhelm Leibniz wurde 1646 in Leipzig geboren und starb am 14. November 1716 in Hannover. Seine philosophischen Hauptwerke sind die „Monadologie“ und die „Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“, beide von 1714. Am populärsten ist die „Theodizee“ von 1710. Leibniz schrieb auf Französisch, Lateinisch und Deutsch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2016)

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