200. Geburtstag

Der Aufstand des rechtschaffenen Bürgers

Der eigenwillige Mann aus Concord, Massachusetts: Henry David Thoreau.
Der eigenwillige Mann aus Concord, Massachusetts: Henry David Thoreau. (c) Science Source Picturedesk
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Alle paar Jahrzehnte werden sie wiederentdeckt, derzeit von der Anti-Trump-Bewegung: Henry David Thoreau und der „zivile Ungehorsam“.

Professor Henry Pollack, Sozialwissenschaftler an der Universität Chicago, hätte sich bis vor Kurzem nicht vorstellen können, auf seine alten Tage noch hinter Gittern zu landen. Doch nun, teilte er in der Zeitschrift „The Nation“ mit, habe sich das geändert: Seit der jüngsten Präsidentschaftswahl in den USA sei es für ihn zum ersten Mal denkbar, wegen zivilen Ungehorsams eingesperrt zu werden. Pollack schreibt das in seinem Essay „Thinking about Committing Civil Disobedience in the Age of Trump“ und beruft sich dabei auf einen der großen nationalen Helden des amerikanischen Geisteslebens, Henry David Thoreau, der 1849 schrieb: „Was ist die Regierung anderes als eine Tradition, dazu noch eine recht junge, die danach strebt, sich selbst ohne Machteinbuße der Nachwelt zu erhalten, die dabei aber in jedem Augenblick mehr von ihrer Glaubwürdigkeit verliert.“

Das klingt sehr anarchistisch. Doch was der Schriftsteller, Philosoph, Waldhüttenbewohner und Sonderling da im 19. Jahrhundert von sich gegeben hat, sein Aufruf zum zivilen Ungehorsam, wird immer wieder begeistert rezipiert, von Mahatma Gandhi bis zu Martin Luther King, von der gegenkulturellen Jugendbewegung der 60er bis zu Stéphane Hessels „Empört euch!“ und den Anti-Trump-Eiferern von heute. Dabei findet sich bei Thoreau keine ausgearbeitete politische Theorie wie bei den marxistischen und anarchistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts, sondern eine aus sturer Kompromisslosigkeit geborene Haltung zu seiner Welt, eine stoische Haltung und ein vorgelebtes Aussteigerleben, das den politischen Alltag verachtet und sich den gesellschaftlichen Zwängen entzieht.

Kleiner Klaps für die Schüler

Thoreau (1817–1862) war ein Alternativer, ein Unzeitgemäßer, im Denken, Schreiben und Leben, und als solcher in seinem Jahrhundert nicht allein. Die starke Strömung des amerikanischen Transzendentalismus war ein loses Etikett für eine Gruppe von Antirationalisten, die ein naturzugewandtes und selbstverantwortliches Leben führen wollten. Seinen Eigensinn, der ihn in seinem Heimatort Concord in Massachusetts zum Sonderling machte, zeigte Thoreau schon früh, als er noch als Lehrer arbeitete. Man machte ihm den Vorwurf, zu wenig zur Prügelstrafe zu greifen. So ließ er sechs Schüler vortreten, gab jedem einen kleinen Klaps mit dem Lineal und kündigte den Job.

Dann kam der Tag, an dem es ihm nicht mehr möglich war, sich in das üble Treiben der Regierung nicht mehr einzumischen, es war der 23. Juli 1846. Thoreau war in seiner Heimatstadt auf dem Weg zum Schuster, als er vom Konstabler des Orts aufgefordert wurde, seine schon seit Längerem fällige Steuerschuld zu zahlen. Thoreau weigerte sich und wurde auf unsanfte Art daran erinnert, dass ein Staat auch dann existiert, wenn er von seinem Bürger ignoriert wird: Er verbrachte eine Nacht in der Gefängniszelle. Der Grund seiner Steuerverweigerung: die moralische Verachtung für einen Staat, der gerade Krieg gegen Mexiko führte und die Sklaverei unterstützte. Sein Irrtum: „Ich hatte törichterweise geglaubt, ich könnte hier in Ruhe leben und einfach meinen eigenen Angelegenheiten nachgehen.“

Der Essay über den „Zivilen Ungehorsam“, zu dem er durch diese kurze Inhaftierung inspiriert wurde, machte Furore als politisch-moralischer Individualaufstand eines aufrechten Bürgers. „Sein Aufsatz ist geheiligt durch dieses Leiden“, schrieb Mahatma Gandhi. Nun ja. Einige Fakten blieben unbeachtet: Thoreau hatte seine Steuern schon lang vor dem Mexiko-Krieg nicht bezahlt. Es handelte sich um eine Bagatellsteuer von einem Dollar pro Jahr, das ignorierten damals viele Bürger. Und im Gefängnis von Concord ging es offenbar gemütlich zu, der Konstabler, ein leutseliger Mann, wollte Thoreau offenbar nur eine kleine Lektion erteilen. Aus Wut schrieb Thoreau den Text wohl auch nicht: Der an Fakten wenig interessierte Essay erschien erst zwei Jahre später. Da gibt es also einige Legenden, zum Beispiel den Besuch des Dichters Ralph Waldo Emerson im Gefängnis, der gesagt haben soll: „Mein Gott, Henry, warum bist du denn hier?“ Darauf Thoreau, ebenso vorwurfsvoll: „Und du, Waldo, warum bist du nicht hier?“

Untauglich für die politische Praxis

Der Vorwurf an Thoreau, der den Begriff „ziviler Ungehorsam“ selbst gar nicht verwendet hat, blieb nicht aus: Strategieloses und individualistisches moralisches Handeln wie das seine führe nur zur Selbstausschaltung, der moralischen Erneuerung der Gesellschaft werde dadurch nicht gedient. Im Unterschied zu den Abolitionisten, die damals agitatorisch gegen die Sklaverei ankämpften, wählte Thoreau einen ganz anderen Weg, er stilisierte, ja machte sich zum Mythos eines idealen, nach ethischen Grundsätzen handelnden Staatsbürgers, der die Mitbürger durch sein Vorbild aus der dumpfen Gehorsamkeitsroutine herauslösen wollte. Doch die Sklavengesetze waren legal korrekt zustande gekommen. Also blieb ihm nur der Weg, die Legitimität des ganzen Systems, die amerikanische Demokratie, infrage zu stellen. Das ging nur, indem er sie in den Gegensatz zum Naturrecht stellte: „Derjenige, welcher nach dem höchsten Gesetz lebt, steht in gewissem Sinne über dem Gesetz.“

Der Staat, der ein Sklavensystem unterhielt, galt für ihn als Gefahr für die Wahrung der moralischen Integrität. Daher war der Bürger von der Gehorsamspflicht entbunden. Das Problem war, dass Thoreau den Weg der demokratischen Reform missachtete und stattdessen als idealistischer Einzelkämpfer auftrat, der sich nur auf sein Gewissen berief. Was, wenn jemand mit der Berufung auf sein Gewissen Missbrauch betrieb? Eine Mehrheit „moralisch reiner“, letztlich unpolitischer Individuen gefährdet die Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft insgesamt. Mahatma Gandhi und Martin Luther King entwickelten so zusätzlich das Kriterium der Leidensbereitschaft, weil sie die Gefahr des Missbrauchs in der Verachtung der Rechtssatzung zugunsten einer höheren Gerechtigkeit erkannten.

Thoreaus Essay bleibt trotz der vielen logischen Ungereimtheiten ein rhetorisch gelungenes Meisterwerk, das das moralische Empfinden seiner Zeitgenossen direkt angesprochen hat. Doch vielleicht hat der rührselige Roman „Onkel Toms Hütte“ mehr zur Abschaffung der Sklaverei beigetragen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2017)

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