Wolfgang Herrndorf: Vom Versuch sterben zu lernen

A Russian-made Lada car drives past as waves break on Havana´s seafront boulevard ´El Malecon´
A Russian-made Lada car drives past as waves break on Havana´s seafront boulevard ´El Malecon´(c) REUTERS (Desmond Boylan / Reuters)
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"Bilder deiner großen Liebe" ist Wolfgang Herrndorfs letzter, unvollendeter Roman. Im Zentrum steht Isa, das Mädchen aus dem Jugendroman "Tschick".

"Und ein Mädchen in unserem Alter war auch da, ganz verdreckt“. Mit diesem Satz taucht die Figur Isa in Wolfgang Herrndorfs Bestseller „Tschick“ auf. Als Leser wünscht man sich das wilde, schlaue und obdachlose Mädchen bald wieder weg. Zu brüchig ist das Gleichgewicht zwischen den beiden Hauptfiguren, den Buben Maik und Tschick, die in einem alten Lada nach der Walachei suchen. Der Autor hat das vielleicht ähnlich gesehen. Aber er hielt an der Figur fest, auch nachdem sie aus dem Rückspiegel verschwunden ist – und widmete ihr sein letztes großes Projekt.

Wolfgang Herrndorf: ''Bilder deiner großen Liebe''
Wolfgang Herrndorf: ''Bilder deiner großen Liebe''(c) Rowohlt

Nachdem im Februar 2010 ein bösartiger Hirntumor bei Herrndorf festgestellt wurde, schrieb er im Eiltempo „Tschick“ und den Krimi „Sand“. „Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive angefangen. Mach ich aber nicht. Mach ich nicht“, notierte Herrndorf am 19. Juni 2011 in seinem Blog „Arbeit und Struktur“, der posthum in Buchform erschien. Er hat es doch getan. „Bilder deiner großen Liebe“ blieb ein „unvollendeter Roman“, wie es auf dem Umschlag heißt.
Die 14-jährige Isa bricht darin aus einer psychiatrischen Anstalt aus und wandert wie in einem Fiebertraum und barfuß durch das Land. Sie wolle zu ihrer Halbschwester nach Prag, heißt es in „Tschick“. In „Bilder deiner großen Liebe“ ist ihr Ziel weniger klar. Zwar kommt die Begegnung mit den beiden Romanhelden vor, aber nur als eine unter vielen Episoden. Isas Trip führt meist weitab von der Road durch Wald und Wiesen, manchmal gar durch Fensterscheiben. In der längsten zusammenhängenden Episode springt sie auf ein Schiff namens Daniela, dessen Kapitän ein Bankräuber sein mag – oder auch nicht. Denn Isa ist eine unverlässliche Erzählerin, bei der sich Wirklichkeit, Fantasie und Wahn vermischen. Ihre Route folgt keiner Logik und auch keinem Zeitschema, ist ganz Gegenwart und Zeitschleife.

In jeder ihrer Begegnungen lauert der Tod. Weniger als Gefahr für das Leben des Mädchens, auch wenn ihre Mitfahrt in einem Lkw durchaus Ängste auslöst und man sich fragen muss: Wer ist hier das Schwein? Der Fahrer oder das Tier, das er transportiert?
Isas Geschichte ist untrennbar verbunden mit der Geschichte des Autors. Überall glaubt man ihn zu entdecken. In dem Kanal, den Isa entlangfährt, in der Pistole, die sie im Wald findet, in den Gedanken, die sich im Kreise drehen. Und die immer wieder zur Vergänglichkeit führen, mit der sie sich abzufinden versucht. „Ich sehe Menschen, die Schiffe und Züge bauen und damit herumfahren, und frage mich, wozu. Sterben werden sie doch“, heißt es an einer Stelle. Einmal trifft sie ihren Schöpfer sogar: Auf einem Friedhof begegnet sie einem Mann in einer grünen Jacke, in der – das legt das Nachwort nahe – Herrndorf selbst steckt.

Wolfgang Herrndorf
Wolfgang Herrndorf(c) APA/DPA (Patrick Seeger)

Als der krebskranke Autor am 26. August 2013 starb, hatte er 95 Seiten des Manuskripts hinterlassen. „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen“, ließ er in seinem Testament verfügen. Er entschied sich wieder anders. Zwar hatte er sich einen Co-Autor gewünscht, doch diese Rolle konnte und wollte niemand ausfüllen. Seine zwei langjährigen Weggefährten Marcus Gärtner und Kathrin Passig stellten die Fassung des Romans zusammen, die nun erschien. Sie wollten vorhandene Lücken nicht verbergen und jeden „Germanistenscheiß“ vermeiden, wie die beiden im umfangreichen Nachwort erklären. Auch auf Glättungen haben sie verzichtet, der Roman ist voller Brüche und Ungereimtheiten, ob in der Jahreszeit oder in der Figur eines redegewandten „taubstummen“ Kindes.

Herrndorfs radikalste Heldin

Durch diese Brüche wirkt Herrndorfs Heldin noch radikaler. Wie Isa der Verstand entgleitet, ist traurig, sogar schön. Nie bemitleidenswert. „Im einen Moment denkt man, man hat es. Dann denkt man wieder, man hat es nicht. Und wenn man diesen Gedanken zu Ende denken will, dreht er sich unendlich im Kreis, und wenn man aus dieser unendlichen Schleife nicht mehr rauskommt, ist man wieder verrückt.“

Den Titel hat der Autor selbst bestimmt. Man fragt sich natürlich: Wessen große Liebe ist gemeint? Die Antwort liegt nahe. Isa lässt sich als letzte Weggefährtin des Autors begreifen. Eine magische Verrückte, der schon auf der zweiten Seite das Unmögliche gelingt: Sie hält mit ihrem Fingernagel die Sonne auf. „Und da wandert sie nicht mehr weiter, und die Zeit steht still.“ So einfach geht das also.

Wolfgang Herrndorf: "Bilder deiner großen Liebe", 144 Seiten, circa 17,50 Euro, Rowohlt Berlin

Zur Person

Wolfgang Herrndorf, geboren 1965 in Hamburg, studierter Maler, veröffentlichte 2007 ein erfundenes Interview mit einem Kosmonauten – dem Motiv des unzuverlässigen Erzählers blieb er treu, wenn auch nicht in seinem höchst erfolgreichen Jugendroman „Tschick“. Für „Sand“ erhielt er 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse. Nachdem 2010 ein Hirntumor festgestellt wurde, begann er den Blog „Arbeit und Struktur“. Über „Bilder deiner großen Liebe“ schrieb er: „Passig liest die ersten zwei Kapitel von ,Isa‘ laut vor. Die habe ich noch nie gehört, die anderen auch nicht. Gut finden die's. Ich schreie und schreie und heule und tobe, und dann ist es vorbei.“ Am 26. August 2013 nahm er sich in Berlin das Leben.

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