„Lore“: Die NS-Ära aus Jugendperspektive

Lore NSaera Jugendperspektive Die Kinder eines SS-Offiziers auf verwirrender Wanderschaft direkt nach Kriegsende: Nele Trebs als kleine Schwester der Titelheldin von „Lore“.
Lore NSaera Jugendperspektive Die Kinder eines SS-Offiziers auf verwirrender Wanderschaft direkt nach Kriegsende: Nele Trebs als kleine Schwester der Titelheldin von „Lore“.(c) Polyfilm
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Die Australierin Cate Shortland schildert in „Lore“ ein Frühlingserwachen in deutschen Kriegsruinen. Wolfram Paulus setzt in „Blutsbrüder teilen alles“ auf Jugendbuchübermut.

Der Vater ist zurückgekehrt, doch seine Teenagertochter Hannelore hat kaum Zeit, sich zu freuen. Mama packt die Koffer, Papa verbrennt Papiere im Garten, am Abend erschießt er den Hund. Die Familie zieht in ein anderes Quartier, kaum ist der Vater verschwunden, folgt ihm die Mutter: „Wenn ich nicht selber gehe, holen sie mich“, sagt sie noch. Dann werden die Kinder von den Nachbarn vertrieben. Hannelore, mit 15 Jahren die Älteste, will ihre vier jüngeren Geschwister – der Kleinste ist kein Jahr alt – zum Haus der Großmutter führen: eine lange Reise durch den dunklen deutschen Wald, vorbei an Gefahren zurück in den sicheren Schoß der Familie.

„Lore“ heißt der Film der Australierin Cate Shortland, sein Titel verdankt sich dem Rufnamen der jungen Heldin, aber natürlich schwingt das englische Wort für Überlieferung („lore“) mit. Ein dunkles Märchen will Regisseurin Shortland nach einer der drei Geschichten von Rachel Seifferts Historienroman „Die dunkle Kammer“ visuell ausgestalten. „Er kommt aber noch?“, hat Lore anfangs die Mutter gefragt, und nicht wie erwartet den Vater gemeint, sondern den „Endsieg“. Die blonde, blauäugige Lore, Tochter eines SS-Offiziers, hat die NS-Ideologie völlig in sich aufgenommen. Die neuen Erfahrungen bei der Wanderschaft direkt nach Kriegsende verwirren sie: Es ist eine Geschichte der Konfusion und eines Erwachens.

Allerdings eher ein Erwachen der Sinne, ein Frühlingserwachen: Zwischen Kriegsruinen und wieder erblühender Natur erlebt Lore einen Rausch der Eindrücke, der zum Gestaltungsprinzip des Films wird. Großaufnahmen, die zu nahe wirken, absichtliche Unschärfen und Zeitlupe sowie üppiger Streichereinsatz auf der Tonspur produzieren ein fiebriges Dauerfeuer von Sinnlichkeit, das in seinem Übermaß auch etwas selbstauslöschend wirkt. Vielleicht nicht unbeabsichtigt: In dem mit jüdischen Papieren herumziehenden Teenager Thomas (Kai Malina) finden Lore und ihre Geschwister einen Gefährten. Lore verabscheut ihn eigentlich aufgrund ihrer Indoktrination und fühlt sich doch stark von ihm angezogen.

Wie vom Fieber angesteckt

Solche Gefühle von Unsicherheit prägen den Film, aber Shortland macht bei allem Kunstwillen zu viele Zugeständnisse, an Elem Klimows erschütternden Antikriegsfilm „Komm und sieh“ kann sie nicht anschließen.
Der Bildsensualismus wird öfters mit gestelzten Dialogen zu Schuld und Sühne unterbrochen, manches gemäß einer Handlungslogik zugespitzt, die Shortland eigentlich gar nicht bedienen will. Anderes versinnbildlicht sie zu simpel oder, vielleicht vom Fieber angesteckt, zu oft: Die Gleichgültigkeit der Natur strapaziert sie wieder und wieder, bis zum prosaischen Detail des Anblicks einer Leiche, auf deren Haut eine Legion von Ameisen marschiert.

Vor acht Jahren verhalf Shortland mit ihrem Debüt „Somersault“ ihrer Darstellerin Abbie Cornish zum Durchbruch, auch in ihrem Zweitling „Lore“ zeigt sie ein Händchen für Schauspielerführung, indem sie vieles nur über Blicke und Gesten ausdrücken lässt – insbesondere Newcomerin Saskia Rosendahl legt in der Titelrolle eine vielversprechende Talentprobe ab. Sonst schießt Shortland allerdings über ihr Ziel hinaus, die digitale Übersättigung der Farben – grüner als grün – kann man als emblematisch verstehen: Das Zuviel an Ambition hat ihrer Ko-Produktion immerhin gerade beim Deutschen Filmpreis die Bronzene Lola eingetragen. Der drittbeste Film des Jahres für eine deutsche Branche, die sich mit ihren Geschichtsfilmen über die NS-Zeit noch immer schwertut: „Lore“ ist mit all seinen Kompromissen vielleicht einfach das Maximum, das in diesem Umfeld durchsetzbar ist.

Die ungewöhnliche Perspektive Shortlands teilt der neue Film des Österreichers Wolfram Paulus nicht, auch wenn er ebenfalls Jugendliche ins Zentrum rückt: „Blutsbrüder teilen alles“ erzählt von zwei Lausbuben (Johannes Nussbaum und Lorenz Willkomm), die im Zuge der Kinderlandverschickung 1944 bei einem Vorzeigechor landen. Dort sorgen die zwei kleinen Möchtegern-Stuka-Piloten und Schwarzmarktschlaumeier für reichlich Unruhe, während sie sich auch noch beide in eine örtliche Animierdame verlieben, die sie auch zu teilen gedenken. Dass einer der beiden Blutsbrüder – ohne es zu wissen – jüdischer Herkunft ist, sorgt für ungeahnte Gefahren, die freilich mit derselben übermütigen Haltung angegangen werden wie der Rest des Films, der sich bis in Klischees und Wendungen ganz einer Jugendbuchästhetik verschreibt, deren Umsetzung an Fernsehen von früher erinnert: Wo in „Lore“ das heutige Arthouse-Kino an seine Grenzen stößt, sucht Paulus sein Glück in einer komischen Zeitreise.

Auf einen Blick

„Lore“ von der Australierin Cate Shortland basiert auf einer der drei Geschichten des Buchs „Die dunkle Kammer“ von Rachel Seiffert und ist eben in den österreichischen Kinos angelaufen. „Blutsbrüder teilen alles“ von Wolfram Paulus läuft derzeit österreichweit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2013)

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