Muzicant: „Lebe ich denn am Mond?“

Ariel Muzicant
Ariel Muzicant(c) AP (Ronald Zak)
  • Drucken

Interview. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, über die neue Welle des Antisemitismus und die Schande des FP-Parlamentspräsidenten Martin Graf.

Die Presse: Wie fühlen Sie sich angesichts der über 800 in Gaza getöteten Palästinenser, mindestens die Hälfte davon Zivilisten?

Ariel Muzicant: Schlecht. Jeder Toter ist ein Toter zu viel. Aber gibt es Empathie von der anderen Seite? Wenn ich mir die Demonstrationen der vergangenen Tage anschaue, lautet die Antwort: Leider nein. Ich möchte auf folgende Dissymetrie hinweisen: Auf der einen Seite steht das Bemühen Israels, zivile Opfer zu vermeiden, auf der anderen Seite steht das bewusste Töten durch die Hamas, durch palästinensische Extremisten, durch Araber. Vergangenes Jahr wurde eine Österreicherin - Elizabeth (Lilly) Goren-Friedman - man mit einer Baggerschaufel blindwütig getötet. Das war kein Zufall oder Kollateralschaden. Das Ziel war, Zivilisten zu töten und eine Österreicherin hat es getroffen. Die Hamas hat tausende Raketen auf Zivilisten abgeschossen, da regt sich niemand auf, da gibt es keinen Aufschrei.


Wenn man wie ein zynischer Statistiker des Todes die Opferbilanzen gegenüberstellt, dann sieht man, dass dutzende Israelis, aber hunderte Palästinenser getötet werden.

Muzicant: Eine Erklärung: Die Hamas will offenbar mehr tote Zivilisten. Und die Hamas schießt ihre Raketen auch mit dem Ziel ab, dass Zivilisten getötet werden. Die Hamas ist ein menschenverachtendes Unternehmen, das den Tod von Zivilisten nicht nur in kauf nimmt, sondern sogar heraufprovoziert. Wenn man dann sieht, wie die arabischen Fernsehleute hinter den verletzten Bewohnern Gazas hinterherrennen, um das möglichst dramatisch ins Bild zu setzen, dann hat man den Eindruck, dass die Verletzten von manchen nur als Propagandawaffe gegen Israel gesehen werden. Ich stelle die Gegenfrage: Haben sie in den letzten Jahren Bilder von toten Israelis gesehen, die man derart vor die Kameras zerrt?


Ist Israel nicht selbst an der - nach israelischer Darstellung einseitigen - Berichterstattung schuld, weil die IDF keine westlichen Journalisten in Gaza zulassen?

Muzicant: Sie irren sich. Wenn die Israelis dies zulassen würden, würde es noch mehr Bilder von Verletzten und Toten geben. Das ist es, was gezeigt werden soll, wenn es nach der Hamas geht. Oder denken Sie etwa, dass die Hamas es zulassen würden, dass man ihre Raketenstellungen filmt?


Das heißt, sie billigen diese Art der israelischen Zensur?

Muzicant: Wenn ich auf der einen Seite nicht bereit bin, dass die Toten und Verwundeten auf meiner Seite gezeigt werden, auf der anderen Seite aber eine manipulierende Hamas steht, was wollen Sie dann machen?


Ist das ein Grund zu sagen, die Journalisten sollen von dort nicht berichten?

Muzicant: Das ist ein Grund.


Und finden Sie es korrekt?

Muzicant: Das finde ich nicht. Es ist nicht korrekt, aber es ist leider ein Teil der Auseinandersetzung. Im Gaza-Streifen gibt es überhaupt nichts Korrektes mehr. Dort werden Mitarbeiter der UN-Hilfsorganisation UNWRA, die die Hamas nicht unterstützen, gekündigt und durch Hamas-Loyalisten ersetzt. Die Hamas geht soweit, dass sie 200.000 Liter Treibstoff bekommt und das Kraftwerk dennoch nicht anfahren läßt, und behauptet, dass es keinen Strom gibt. Lebensmittel werden nur an die eigenen Sympathisanten verteilt. Ist all das etwa korrekt?

Ist man als österreichischer Jude eigentlich zur bedingungslosen Solidarität mit Israel verpflichtet?

Muzicant: Grundsätzlich sind wir nicht die Botschaft des Staates Israel sondern die Vertreter der österreichischen Juden. Ich bin der einstimmig gewählte Präsident, der in seiner Meinungsäußerung darauf zu achten hat, dass er die Mehrheit der Mitglieder der Kultusgemeinde vertritt. Es ist nicht so, dass alle österreichischen Juden in dieser Frage einer Meinung sind. Es gibt auch Leute wie John Bunzl, der grundsätzlich immer die palästinensische Seite vertritt. Ich vertrete eine Solidarität mit dem israelischen Volk und ich vertrete eine Solidarität mit den Menschen dort. Aber ich vertrete nicht immer und vor allem nicht kritiklos eine Solidarität mit der jeweiligen israelischen Regierung. Aber wenn man - wie ich - in Sderot war und die Situation erlebt hat, selbst bei einem Raketen-Alarm in den Keller laufen musste, dann sieht man etwas klarer. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn Mitglieder meiner Gemeinde unter diesem Terror leben müssten.

Daher bin ich mit denen solidarisch, die sagen, es ist die Pflicht eines Staates, das Leben und die Existenz der Menschen, die in Israel leben,zu schützen. Und noch etwas: Egal wo wir Juden leben - in New York, in Venezuela oder in Wien - haben in unserer Geschichte immer wieder Pogrome und Verbrechen gegen unser Volk kennengelernt. Aufgrund der 3000-jährigen Verfolgung leben wir immer mit dem Hintergedanken: Wohin fliehen wir im Falle des Falles? Das ist etwas, was tief in unserem Bewusstsein sitzt. Es wird von Tag zu Tag einfacher: Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagt, „wir beginnen langsam die Koffer auszupacken". Aber das ist ein Prozess. Dabei ist Israel eine geistige Heimat, eine spirituelle Heimat, aber auch eine Zufluchtsstätte, wo man immer noch hin kann, wenn - Gott behüte - wieder etwas passiert. Daher ist die Solidarität mit der Bevölkerung Israels sehr groß.


Aber gibt es nicht auch Juden, die meinen, ich habe mit Israel nicht viel zu tun, ich bin Amerikaner, Brite, Österreicher?

Muzicant: Natürlich gibt es die. Ein Großteil des jüdischen Volkes ist mit dem Land emotionell verbunden.


Reichen die Bemühungen um einen Dialog - zumindest in Österreich - aus?

Muzicant: Ich bin sicherlich ein Mann des Dialogs. Meine Kritik an Anas Schakfeh (Oberhaupt der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich) äußere ich so, dass ich sage, ich hoffe, er hat es nicht so gemeint, wie er es im Standard gesagt hat (Anm. Shakfeh: „Antisemitismus kennen wir im Mittleren Osten überhaupt nicht. Er ist ein Produkt des europäischen Denkens."). Bin ich etwa geisteskrank? Lebe ich am Mond? Ich muss 15 Prozent des Jahresbudgets der Gemeinde dafür ausgeben, meine Mitglieder vor möglichen terroristischen Angriffen aus islamistischen Kreisen zu schützen.


Ich anerkenne das Leid des palästinensischen Volkes, ich akzeptiere aber nicht das Narrativ, die Juden hätten sie vertrieben und seien schuld am Leid der Palästinenser. Die Palästinenser verdrängen, dass 750.000 Juden aus den arabischen Ländern flüchten mussten. Der Krieg um ein und dasselbe Stückchen Erde hat dazu geführt, dass Millionen Menschen zum Teil auch mit Gewalt vertrieben wurden und weggelaufen sind. Die Palästinenser erzählen vom Massaker von Deir Yasin von 1948, vergessen aber, dass in Hebron bis 1929 eine große Gemeinde gelebt hat, die vom arabischen Mob massakriert wurde. Da ist etwas auf beiden Seiten passiert.


Wenn wir etwas in die Gegenwart blenden: Zuerst lehnte die palästinensische Seite den Dialog ab, dann gab es den Oslo-Friedensprozess, dann hat man Verträge unterschrieben, die dann die Hamas nicht akzeptiert hat. Jetzt sagt eine israelische Führung, welchen Sinn hat das? Denn man hört immer wieder die Argumente, wenn ein Moslem mit einem Ungläubigen einen Vertrag abschließt, dann ist dieser Vertrag nur so lange gültig, bis ich stark genug bin, mir auch noch den Rest zu holen. So denken die Araber: Auf unsere europäische Wertegesellschaft kann man das nicht übertragen. Die sogenannte Hudna - der Waffenstillstand - dient nur dazu, aufzurüsten und in den nächsten Krieg zu ziehen.


Also sind wir mit folgender Situation konfrontiert: Jedesmal wenn die Hamas oder die al-Aqsa Brigaden eine Anschlag verüben, distanziert sich die Fatah davon. Einen Zentralstaat mit einer zentralen Verwaltung, die diesen Splittergruppen das Handwerk legt, gibt es nicht.


Israel hat das seinige dazu beigetragen, dass es eben diesen starken Palästinenserstaat nicht gibt Oder anders gefragt: Wann hat Israel zuletzt die Position von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas gestärkt?

Muzicant: Die Israelis sind keine Waserln. Sie hätten gegenüber Abbas viel großzügiger sei sollen. Aber wie Abba Eban gesagt hat, die Araber haben nie eine Gelegenheit versäumt, eine Gelegenheit zu versäumen.


Das gilt auch für Israel.

Muzicant: Ja, aber die Israelis haben den UN-Teilungsplan akzeptiert, die Araber nicht. 1968 wäre eine Chance gewesen, etwas zu tun, die hat diesmal Israel versäumt. Premierministerin Golda Meir hat damals den Fehler gemacht, zu fragen: „Palästinenser, welche Palästinenser?" Arafat war 1999 knapp dran: gescheitert ist man daran, dass Arafat das Recht auf Rückkehr aller Palästinenser wollte, er wollte keine Erklärung zur Konfliktbeilegung abgeben, und es gabe keine Einigkeit in Bezug auf Jerusalem. Was macht Arafat dann? Er beginnt die zweite Intifada, weil er glaubt, er kann Israel besser erpressen.


Das palästinensische Narrativ: Sharon hat mit seinem provokativen Besuch am Tempelberg die Intifada provoziert.

Muzicant: Es gibt auf beiden Seiten niemand, der die richtigen Eintscheidungen trifft. Wenn ich ein palästinensischer Politiker bin, der will, dass die Menschen endlich Hoffnung auf Zukunft haben, dann entfache ich keine zweite Intifada.


Sie waren schon in der Westbank?

Muzicant: Ja.


Will man dort leben?

Muzicant: Nein. Ich verstehe auch, dass die Menschen unter diesem Zustand mehr leben wollen. Aber warum gibt es dort keine Politiker, die nicht korrupt sind und zweitens endlich einen Frieden ausverhandeln. Die Palästinenser haben in Verhandlungen immer das verlangt, von dem sie gewußt haben, dass sie es nicht haben können. Da kommt man zum Schluß: Vielleicht wollen sie einfach nicht.


Vladimir Jabotinsky hat den Begriff des „Iron Wall" geprägt. Also: Israel setzt auf militärische Stärke. Hat diese Strategie denn Sinn?

Muzicant: Eine der großen Schwierigkeiten ist, dass die Araber in einer konzilianten Verhandlungsposition Schwäche erkennen. Kompromiss ist für die Araber Schwäche. Das einzige, was funktioniert, ist Härte.


Verkomplizieren nicht die US-Interessen in der Region alles?

Muzicant: Ich denke, im Zentrum der US-Strategie steht die Versorgung mit Erdöl und eine möglichst große Anzahl von Verbündeten in der Region. Wenn den Amerikanern eine Befriedung des Konfliktes gelänge, dann hätten sie die Chance, diese instabilen Regierungen zu stabilisieren. Wenn das nicht gelingt, dann besteht die Gefahr, dass diese den USA befreundeten Regierungen umfallen: Die Muslimbruderschaft ist eine Gefahr für Ägypten, al-Qaida-Elemente sind eine Gefahr für Saudiarabien. Daher haben die USA ein großes Interesse daran, den Konflikt zu entschärfen und zu beenden. Gelingt ihnen das, dann haben sie eine breite Front von Verbündeten, die auch beginnen, miteinander zu reden. Sie haben nur das Problem, dass sie dazu in den vergangenen acht Jahren nicht dazu fähig waren, weil Präsident George W. Bush andere Interessen verfolgte.


Warum spielt die EU eine so untergeordnete Rolle? Europa bezahlt den Großteil der Hilfsgelder für die Palästinenser, Europa ist Israels wichtigster Handelspartner. Dennoch werden die Euorpäer in der Region nicht ernst genommen.

Muzicant: Die Europäer dürfen zahlen, aber das ist es schon. Daran sind die Europäer aber selber schuld. Was funktionieren würde: Nicht mehr zahlen und auch den Israelis ganz klare Signale zu senden. Der spanische Außenminister Miguel Ángel Moratinos und Premier José Luis Rodríguez Zapatero sind, was Israel betrifft, ein rotes Tuch, mit denen will niemand reden. Deutschlands Kanzlerin Merkel oder Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy - die werden ernstgenommen. Auch Tschechien oder Polen sind sehr gut angesehen. Aber mit den Skandinaviern oder den Portgiesen oder Spanien kommen die Israelis nicht zurecht. Nach israelischer Leseart finanzieren die Europäer den Terror mit. Wir wissen nicht, ob nicht Gelder bei der Hamas ankommen.


Sie haben den wachsenden Antisemitismus kritisiert. Doch ist es nicht der Anti-Islamismus, der viel ungenierter verbreitet wird: Wäre ein FPÖ-Plakat wie „Daham statt Islam" auch in der antisemitischen Form möglich?

Muzicant: Sie haben die Kultusgemeinde an vorderster Front gegen die FPÖ erlebt. Und sie werden auch sehen, was ich in den nächsten Tagen gegen die FPÖ noch alles unternehme. Es ist unzulässig und unerträglich und die Art und Weise, wie sich SPÖ und ÖVP in der Sache Graf aus der Verantwortung stehlen, ist inakzeptabel.

Österreichs Geschichte haben die Israelis mit jener Israels untrennbar verbunden. Wien ist die Stadt von Adolf Hitler und Theodor Herzl. Ergibt sich daraus eine besondere Verantwortung dieses Landes für die Region?

Muzicant: Das ist überhaupt keine Frage. Leider verfügt unsere kleine Republik nur über beschränkte Möglichkeiten. Die Österreicher stehen seit Jahrzehnten am Golan, Österreich unterhält zu allen Ländern der Region gute Beziehungen, Österreich versucht zu helfen, aber das Land hat nicht das Gewicht Deutschlands oder Frankreichs. Österreich ist der Genius Loci für viele Dinge, die uns heute beschäftigen. Der frühere Wiener Bürgermeister Lueger - ein Antisemit - und der Gründer der zionistischen Idee - Theodor Herzl - beide waren wohl nur in Wien möglich. Wie wäre das ganze wohl ausgegangen, wenn beide in Bologna oder in Madrid gelebt hätten? Wien war ein Schmelztiegel, der das Fin de Siècle hervorgebracht hat. Dasselbe Land hat aber auch die Schönerers, die Luegers hevorgebracht.


Ich war auf Staatsbesuch mit dem Bundespräsidenten in Israel mit. Ich habe versucht, dort zu kommunizieren, wieviel Positives wir erreicht haben. Das einzige, was die dortigen Journalisten gemacht haben: Sie haben mich zur Schnecke gemacht. Sie haben gesagt, „Herr Muzicant: Wie leben sie in einem Land, wo 28 Prozent Nazis wählen." Ich habe dann versucht, zu erklären, dass nicht jeder, der FPÖ oder BZÖ wählt, dies tut, weil er eine rechtsextreme Einstellung hat, sondern dass es viele, viele Protestwähler gibt. Sagt man mir: „Bist Du denn verrückt geworden? Wie erklärst Du das Begräbnis für diesen Haider?" Also rede ich mir den Mund fusselig, um den Israelis Österreich zu erklären. Dann komme ich zurück und bin mit dieser unappetitlichen Graf-Affäre konfrontiert, wo engste Mitarbeiter des Nationalratspräsidenten bei einem Verlag, der rechtsextreme Literatur vertreibt, Dinge bestellen. Dann frage ich mich: Haben die Israelis vielleicht recht? Ist es nicht eine Schande, dass derartige Leute im österreichischen Parlament sitzen?


Dazu sage ich: Die Wähler der FPÖ sind nicht mein Problem, mein Problem sind die Funktionäre. Bei denen gibt es einen harten Kern von Nazis, von Rechtsextremen. ÖVP und SPÖ wollen sich die Karte der Verhandlungen offen lassen, daher attackiert niemand hart die FPÖ. Mit Ausnahme der Grünen vielleicht. In einem anderen westeuropäischen Land wäre so etwas möglich - nicht in Frankreich, nicht in Deutschland.


Was können sie als Präsident der Kultusgemeinde für den Dialog tun?

Muzicant: Ich kann davon reden, dass jedes tote palästinensische Kind ein totes Kind zu viel ist.

Am Mittwoch, den 14. Jänner können Sie von 12 bis 13 Uhr mit Dan Ashbel, dem israelischen Botschafter in Wien, zum Thema Nahost-Krise diskutieren. Ab Mittwochvormittag können Sie Ihre Fragen unter diepresse.com/chat deponieren.

(Die Presse, Print-Ausgabe, 14.01.2009)


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.