Albertina: Dunkle Träume aus Paris

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Albertinsa(c) Photo RMN - Jean-Gilles Berizzi
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Die Albertina zeigt Zeichnungen aus dem Musée d'Orsay: „Das Archiv der Träume“ entführt in ein 19. Jahrhundert, wie wir es bisher kaum je gesehen haben.

Jeder kennt das Musée d'Orsay in Paris. Ursprünglich zur Weltausstellung im Jahr 1900 als Bahnhof gebaut, wurde es 1986 eröffnet und führte zu einem „ästhetischen Mauerfall“, wie es der deutsche Kunsthistoriker Werner Spies formuliert. Erstmals waren Werke des Impressionismus neben zeitgleicher Salonkunst zu sehen, auch der Symbolismus wurde nicht ausgespart, selbst religiöse Sujets tauchten wieder auf.

Dass das Museum auch über eine gewaltige Sammlung von Zeichnungen aus dieser Zeit, von 1848 bis 1914, verfügt, war bisher kaum bekannt, denn das Konvolut von 67.000 Papierarbeiten lagert im Louvre. Letztes Jahr wurde entschieden, einen ersten Einblick zu gewähren. Für die Auswahl lud das Museum den in Paris lebenden Werner Spies ein – und bot zugleich einem einzigen, internationalen Haus die Übernahme an: der Albertina. Obwohl das Programm für heuer schon fix gewesen sei, habe er sofort zugesagt, sagt Direktor Klaus Albrecht Schröder – „bevor die Ausstellung nach Madrid, New York oder Berlin kommt“. Mit minimalen Änderungen (wenige Werke konnten nicht reisen, dafür ist Eigenes aus der Sammlung hinzugefügt) ist das „Archiv der Träume“ jetzt also in Wien zu sehen. Es entführt uns in ein 19. Jahrhundert, wie wir es bisher kaum gesehen haben.

Melancholie und grinsende Masken

67.000 Werke – wie konnte Spies da ohne Vorgaben eine Auswahl treffen? „Es war ein Dschungel“, erzählt Spies, doch bald fiel ihm auf: In den strengen Reihen des Archivs lagerten Mengen von Träumen. Bilder voller Lust, aber auch Verdrossenheit, Einsamkeit und Verlorenheit. Hier entdeckte Spies, wie sehr die Kunst des 19. Jahrhunderts nicht nur eine Zeit des Lichts und Jubels war, sondern auch voller düsterer Stimmungen. Viele Blätter „gehen auf traumartige Szenen ein, privilegieren Melancholie und Entfremdung. Friedhöfe, Skelette, Totenschädel, grinsende Masken, Vanitas-Bilder tauchen wiederholt auf.“

Gerade in den Zeichnungen leisteten sich die Künstler aber auch eine Freiheit des Ausdrucks, ein Spiel mit Fragmenten und formale Experimente, die sie als akademische Maler in ihren Bildern nicht realisieren konnten. Berühmte Meister wie Edgar Degas, Paul Cézanne, Georges Seurat kombiniert die Schau mit wunderbaren Zeichnungen weniger berühmter Franzosen jener Zeit.

Den Auftakt bilden kuriose Architekturzeichnungen: François Garas baute Zeit seines Lebens kein einziges Gebäude. Er war überzeugt, dass die Zweckmäßigkeit das Schöne verhindere, beließ es bei Entwürfen und widmete seine utopische Tempelanlage der Freiheit der Gedanken und Ideen. Der Architekt Henri Toussaint wollte sogar die Wirklichkeit verdecken und die konstruktiven Elemente der Architektur großflächig verkleiden: Zukunftsorientierter Technologieglaube trifft auf rückwärts gerichtete Poetisierung der Wirklichkeit und Sehnsucht nach dem Idyll, Salon und Avantgarde – damit sind die Pole der Ausstellung bestimmt.

Danach folgen faszinierende Selbstporträts, wie jenes von Charles Baudelaire: experimentell, düster, mit inwendigem Blick. Gustav Courbet, Léon Spilliaert, Achille Laugé, mit Lovis Corinth auch einer der wenigen Nichtfranzosen – hier kommen die Künstler selbst in den Blick, bevor dann der Weg in die Realität führt. 1848 löste Jean-François Millets Bild „Der Kornschütter“ auf dem Pariser Salon einen Skandal aus, republikanisch Gesinnte liebten es, bürgerliche Kreise verabscheuten es. Auch in seinen Zeichnungen zeigt er die bäuerliche Arbeitswelt, die er mit aller Härte in Szene setzt, wenn etwa die „Ährenleserinnen“ dieselbe Form annahmen wie die Heuhaufen.

Der Tod im Körper der Femme fatale

Auch Giovanni Segantini ist Realist, der die Welt des Alltags festhält, ohne Pathos, ohne Urteil, und es doch mit dem starken Schwarz-Weiß-Kontrast wie in „Am Ende des Tagwerks“ schafft, die Grenze zwischen Tag und Traum aufzuheben. Ob in den literaturbezogenen Werken oder symbolistischen Zeichnungen, immer wieder begegnen wir dem Übergang vom Licht zum Schatten. Auch die Frauenakte spiegeln diese Grundstimmung wider, wenn Carlos Schwabe den Tod im Körper der Femme fatale findet, andere wie Edward Burne-Jones dem bedrohlichen Vamp die Zerbrechlichkeit und Schutzlosigkeit einer Femme fragile entgegenstellen. Eine Entdeckung ist Félicien Rops, der mit seinen bissigen Illustrationen die katholische Kirche attackierte und die verklemmte Sexualmoral des 19. Jahrhunderts mit seinen drastischen Zeichnungen erschütterte.

Aber der Kurator belässt es nicht bei diesem Blick zurück auf ein unterschätztes Jahrhundert. Für den Katalog wollte er eine „Resonanz aus unserer Zeit“ zeigen und lud 100 Künstler zu Kommentaren zu den Bildern ein. Jeder antwortete! Anselm Kiefer, Imi Knoebel, Erwin Wurm, aber auch die Filmer David Lynch und Wim Wenders, die Literaten Peter Handke und Paul Auster machen den Katalog zu einem einzigartigen Zeitzeugnis.

„Das Archiv der Träume aus dem Musée d'Orsay“ mit Bildern u. a. von Degas, Cézanne, Seurat: bis 3. Mai.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2015)

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