Annus mirabilis 1989: Fall des eisernen Vorhangs

AP (John Gap)
  • Drucken

Die „Brot-und Freiheit-Bewegung“ brachte den Kommunismus zum Sturz.

Die Zeiten- und Herrschaftswende kommt mit ganz unterschiedlichen Geräuschen daher. An der ungarisch-österreichischen Grenze war es damals, im Sommer 1989, ein Klacken: Das Klacken, wenn eine Drahtschere Stacheldraht durchtrennt. Der ungarische und der österreichische Außenminister, Gyula Horn und Alois Mock, hatten sich da an die Arbeit gemacht. In Berlin war es ein Hämmern. Am 9. November kauerten sie nächtens oben auf der Mauer, die die Stadt seit Anfang der sechziger Jahre in zwei Teile gespalten hatte, und schlugen mit Maurerhämmern auf den Stahlbeton ein. In Prag, zwei Wochen später, war es ein Klingeln. Zehntausende versammelten sich jeden Abend auf dem Wenzelsplatz im Zentrum der Stadt, hielten ihre Schlüsselbünde in die Höhe und begannen sie zu schütteln – die Totenglöckchen der Massen für die kommunistischen Machthaber. In Rumänien aber hallten Schüsse. Während es den kommunistischen Genossen in allen anderen Staaten des einstigen Ostblocks klar geworden war, dass ihre Zeit abgelaufen war, klammerte sich der der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu geradezu verzweifelt an die Macht. Im Dezember schwemmte auch ihn eine Revolte hinweg. Ende des Jahres 1989 wurde er in einem düsteren Hinterhof von einem Exekutionskommando hingerichtet.

KP-Herrschaft begann improvisiert

Über vier Jahrzehnte hatten kommunistische Regime Ost- und Mittelosteuropa beherrscht, ehe es 1989 zum Kollaps kam. Durch den Kontinent zog sich ein Eiserner Vorhang, den zu überwinden Menschen aus dem Osten ihr Leben riskierten. Wachtürme, Stacheldraht, Minenfelder, bewaffnete Patrouillen mit scharfen Hunden – so zeigten die „Volksdemokratien“, dass sie mit dem freien Europa im Westen nichts zu tun haben wollten. Der Ostteil Österreichs ragte wie eine Art Halbinsel der Freiheit und Demokratie hinein in die kommunistische Staatenwelt der Knechtschaft und Diktatur.

Der Kommunismus war 1944/1945 mit der Roten Armee nach Mittelosteuropa gekommen, die die geschlagenen Nazi-Truppen durch den halben Kontinent bis nach Berlin jagte. Historiker sind sich nicht sicher, ob Moskau von Anfang an den Plan hatte, in den befreiten Staaten ein kommunistisches System nach sowjetischem Vorbild einzuführen. Vieles wirkte bei der Installierung der KP-Herrschaft improvisiert. Aber mit den Soldaten waren aus der Sowjetunion politische Berater und Geheimdienstler gekommen, die letztlich das Sagen in Moskaus neuen Satellitenstaaten hatten.

Wahr ist auch: Als die Erinnerung an die nationalsozialistische Terrorherrschaft in Mittelosteuropa noch sehr frisch war, wurde der Kommunismus mit seinen Versprechungen von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit wohl von einer Mehrheit der dortigen Völker tatsächlich als das richtige alternative Herrschafts- und Gesellschaftsmodell empfunden. Nicht nur Arbeiter- und Beamtenschaft machten mit, gerade auch führende Intellektuelle stellten sich teilweise begeistert in den Dienst des „Aufbaus des Sozialismus“. Später wollten viele von ihnen diese Zeit am liebsten totschweigen.

Zwar brachte die kommunistische Herrschaft keine soziale Gleichheit, sehr wohl aber Gleichmacherei. Und eine gewisse soziale Grundversorgung. Dafür wurden Talente, Kreativität, Bedürfnisse des Einzelnen eingeebnet. Wirtschaftliche Privatinitiative war auf ein paar Quadratmeter Garten rund um die Datscha beschränkt – der Staat plante alles, ruinierte alles. So senkte sich mit Andauern der Bonzokratie – die kommunistischen Funktionäre lebten im Gegensatz zur eingeebneten „Basis“ vielfach in Saus und Braus – ein Grauschleier über die Osthälfte des Kontinents. Grau waren Städte und Dörfer, grau der Alltag, grau die Masse. Das Rot der kommunistischen Spruchbänder mit Parolen etwa über die „leuchtende Zukunft des Sozialismus“ war oft der einzige Farbtupfer in dieser grauen Welt.

Niemand sah es voraus

Aber warum brach diese Welt 1989 plötzlich zusammen? Versuche, die Dinge zu ändern, hatte es gegeben: 1953 in Ostberlin, 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, 1970 in Polen, 1981 wieder Polen. Jedes Mal wurden die Volksaufstände durch sowjetische Truppen oder landeseigene Sicherheitskräfte niedergewalzt. 1968 schickten sogar alle Warschauer-Pakt-Staaten (außer Rumänien) Soldaten, um den „Prager Frühling“ auszuradieren.

Niemand sah die Wende im Jahr 1989 voraus. Ja, im Nachhinein wussten dann alle, dass die kommunistischen Systeme innerlich schon verfault waren. Sicher ist, dass es das „annus mirabilis“ 1989, wie es der große polnische Historiker und Politiker Bronislaw Geremek im Gespräch mit der „Presse“ einmal beschrieben hat, ohne das Jahr 1985 nicht gegeben hätte. Damals wurde Michail Gorbatschow der neue Generalsekretär der KP der Sowjetunion.

Der damals 54-Jährige ging mit dem ungeheuerlichen Satz ans Werk, das Land brauche „die Demokratie so notwendig wie die Luft zum Atmen“. Er sprach über Perestrojka (Umgestaltung), Glasnost (Offenheit) und über das Gemeinsame Europäische Haus. Und er rief dazu auf, die „weißen Flecken“ in den Geschichtsbüchern zu beseitigen. All das hatte nicht nur auf die 280 Millionen Sowjetbürger mit ihren vielen Völkern Wirkung (Rebellionen im georgischen Tiflis im April 1989, in Aserbaidschan im Jänner 1990, im lettischen Riga und litauischen Vilnius im Jänner 1991), sondern auch in den osteuropäischen Satellitenstaaten. Auch da wurden die Reform-orientierten Genossen ermutigt. Natürlich, auch Druck von außen – etwa die amerikanischen Rüstungsanstrengungen im Weltraum (Ronald Reagans „Star-War-Programm“) oder die Entspannungspolitik, wie sie von westeuropäischen Regierungen forciert wurde – trug dazu bei, dass die kommunistischen Systeme letztlich kollabierten.

Zorn über fehlenden Wohlstand

Vor allem aber war es die „Brot-und-Freiheit-Bewegung“, die den Umbruch bewirkte: „Es ist wichtig zu sehen, dass am Anfang der Zorn über den geringen Wohlstand der Bevölkerung einherging mit Bestrebungen nach einer Demokratisierung und Liberalisierung der kommunistischen Regime“, erläuterte Geremek im „Presse“-Interview. Erst 1989 wagten sich breite Massen in Mitteleuropa wegen des wirtschaftlichen Niedergangs und der Bevormundung durch Partei und Staat auf die Straße. In Ungarn wurde Stacheldraht zerschnitten, in Berlin gehämmert, in Prag das Totenglöcklein mit Schlüsseln geläutet, in Bukarest geschossen. Und in der Nacht auf den heutigen Freitag wurde an Österreichs Nord-, Ost- und Südgrenze vollendet, was Alois Mock und Gyula Horn im Sommer 1989 begonnen hatten: Es gibt keine Grenzkontrollen mehr zu Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien. Ganz Mitteleuropa ist Schengen. Willkommen, hochverehrte Nachbarn.

WELTGESCHICHTE. Die Serie

„Zeitenwenden“: Umbrüchen der Geschichte, ohne die unsere Welt heute völlig anders aussähe, war die zwölfteilige „Presse“-Serie gewidmet, die seit Ende September jeweils am Freitag erschienen ist. Mit dem heutigen Beitrag enden die „Zeitenwenden“, nachzulesen sind sie im Internet unter diepresse.com/weltgeschichte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.