Sommer macht Liebe

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Goethe kannte ihre Tragik, Tucholsky ihre Leichtigkeit: Die Sommerliebe gehorcht anderen Gesetzen als Romantik im Alltag. Österreichs Singles erfreuen sich vor allem an ihrer Vergänglichkeit.

Wäre er noch am Leben, er hätte diesen Artikel gehasst: Goethes junger Werther, der ausgerechnet in den Sommermonaten des Jahres 1771 an seiner tragischen Liebe zu „Lotte“ zerschellen musste, war kein Typ, der viel vom heutigen Konzept der Sommerliebe gehalten hätte. Zu viel unverfängliche Leichtigkeit, zu wenig Leiden und überhaupt zu wenig aufrichtig romantische Schwermut. Aber sein Erfinder wusste, warum er all die Tragik trotzdem in der lichten Jahreszeit inszenierte – genauso wie Kurt Tucholsky, der die „Prinzessin“ und ihren Begleiter nicht umsonst im Sommer auf Skandinavienreise und Richtung Schloss Gripsholm schickte. Nichts schreit schließlich mehr nach Romantik als laue Sommernächte.

Oder? Was genau ist eigentlich der Reiz am sommerlichen Schmachten? Gut, alle sind ein bisschen nackter (Sommermode), schlanker (Bikinifigur oder zumindest der Wunsch danach), entspannter (Sommerloch) und abenteuerlustiger (Cluburlaub) als während der kalten Wintermonate – dafür aber auch verschwitzter, von Gelsen zerstochen und dauernd auf Urlaub. Wie soll man da eine Basis für dauerhafte Zweisamkeit schaffen?

Gar nicht – und genau das ist der Punkt. Zumindest, wenn man Österreichs Singlefrauen glaubt: Die wollen sich im Urlaub jedenfalls nicht zu sehr mit der tatsächlichen Lebensrealität ihres Badehosenlovers konfrontieren. Nur 27Prozent könnten sich laut einer aktuellen Umfrage der Partnervermittlungsagentur Parship vorstellen (bei Männern sind es immerhin 33Prozent), ihre Urlaubsbekanntschaft in Richtung Langzeitbeziehung auszudehnen – die restlichen 73Prozent erfreuen sich schlicht an der Vergänglichkeit ihrer amourösen Aktivitäten. Zudem sind vor allem Männer im Urlaub eher bereit, sich auf etwas einzulassen, behaupten zumindest die Experten bei Parship. Klar – hunderte Kilometer entfernt von den Mühen des Alltags lassen sich so manche Realitäten wunderbar ignorieren oder zumindest verschönern. Die Sommerliebe – der schönste Fake der Welt.

Es war 1994, im Jahr, als Mariah Carey den Hit „Without You“ hatte. Ich weiß das, weil die Mademoiselle, auf deren ausziehbarer Couch ich die Nächte meiner ersten Sprachferien in Brest verbrachte, das Lied liebte. Genauso wie sie aufgewärmten Kaffee liebte, den sie zweimal pro Woche vorkochte.

Womit sich das Gute an diesem Urlaub rasch auf den Punkt bringen lässt: auf M. Punkt. M. war Japaner, wunderschön und dabei, sich in der Sprachschule auf ein Studentenleben in Frankreich vorzubereiten. Er hatte nur zwei Fehler. Erstens: Er war sehr höflich. Was hieß, dass eine kostbare erste Woche verstrich, in der M. bezaubernd lächelte, mir Türen aufhielt, Bücher trug, aber weiter nichts unternahm. Und auch artig blieb, als – Zufall in Woche zwei – wir einander in der Stadt begegneten. M. lud mich auf einen Kaffee (diesmal frisch gebrüht) ein und offenbarte bei der Gelegenheit Fehler Nummer zwei. Er sprach kein Englisch. Nur Französisch, und das so schlecht wie ich.

Was uns nicht abhielt zu reden: über den Zweiten Weltkrieg, japanischen Schuldrill und Nikotinkonsum. Fünf Stunden lang, bar jeder Grammatik. Das war anstrengend und verwirrend (ich glaube bis jetzt, er raucht, seit er zwei Jahre alt war), aber ich war bereit zu investieren. Und zu warten. Woche drei kam und M. lächelte, hielt Türen auf und brachte mir japanische Schriftzeichen bei. Als es Zeit war, Sayonara zu sagen, machte M. ein ernstes Gesicht. Es täte ihm leid, meinte er, dass wir in der kurzen Zeit nie die Gelegenheit gehabt hätten, uns näher kennenzulernen. Ich hätte M. gern eine runtergehauen, stattdessen schüttelten wir Hände, ich erwiderte seine Verbeugung und war fortan für Männer mit allzu guten Manieren verdorben. uw

Es war Malta, und die Diskotheken hatten Namen wie „Axis“ oder „Tempel“. Malta bot auch noch Mittelmeer und Englisch als Verkehrssprache. Gibraltar auch, aber dort sind die Affen.

Viele Sprachferienflüchtlinge aus England kamen wegen des Strands, die Franzosen vielleicht auch nur, weil es nicht England war. Adrienne Ribes war dunkelhaarig, klug und hatte einen witzigen Akzent, wenn sie englisch sprach. Genau wie alle Franzosen, aber das war mir mit 16 nicht so bewusst. Adrienne sprach gerne über Politik und Literatur, ihr Vater war Chefredakteur eines französischen Politikmagazins und eigentlich, sagte sie mir, mochte sie lieber Surfertypen. Danke für die Ausnahme.

Der Abschied nach zwei Wochen französischem Akzent Lauschen war schaurig-schön. Wir versprachen uns ein Wiedersehen und glaubten natürlich nicht daran. Monate später das Ungewöhnliche: Sie kam nach Wien, quartierte sich in meinem Ex-Kinderzimmer ein, ich zeigte ihr die Stadt, die Bars, die Boutiquen, die Clubs, die Freunde, die ich für cool hielt – wie man damals sagte. Über Politik und Literatur sprach ich nicht. Surfen konnte ich immer noch nicht. Danach hörte ich nichts mehr. Viel später ein Kettenbrief mit ihrem Absender, ich solle mich der Free-Tibet-Bewegung anschließen. Da war ich noch immer bei der Free-Party-Bewegung.

Google zwanzig Jahre später, Adrienne Ribes hat ein Buch über Modeboutiquen in Paris geschrieben, ihre Facebook-Friends schauen aus, als würden sie jede gute Bar, jeden Club und jeden coolen Freund dort kennen. Ich bin bei der „Presse“, rede zu viel über Politik und auch ein wenig über Literatur. Eine Friends-Anfrage auf Facebook, ob sie die aus Malta sei, beantwortete sie knapp: „Yes, Rainer, I'm the good one.“ no

Die Liaison mit Edward aus Kapstadt begann mit einem Stift – schon als er mich am ersten Schultag in der Oberstufe einer internationalen Schule in Wien um einen solchen bat, war ich schwer interessiert. Sein nobles British English und der samtige Blick gaben mir den Rest. Warum aus uns eine Sommerliebe wurde? Wegen Kaisa – jener finnischen Kollegin, die neben ihrem rotblonden Edelschopf auch eine unglaubliche Zielstrebigkeit in Liebesdingen aus dem Norden mitbrachte. Da konnte ich nicht mithalten. Edward und Kaisa waren das Paar des Jahres (mich fröstelte, wenn sie mich mit ihren eisigen Augen wissend ansah), ich wurde Klassensprecherin und quälte meine Lehrer. Den Gedanken, dass Finninnen in ihren Wäldern die Jagd auf Männer üben, wurde ich nie los. Vielleicht war ich deshalb noch immer nicht in Helsinki.

Drei Jahre später schrie der Blick vom Maturareisequartier auf einem Hügel in Barcelona nach Abenteuer. Edward muss auf Kapstadts Hügeln ähnlich gefühlt haben – er weilte auf „Auszeit“ in London und pflegte die Gartenanlagen der Upperclass. Ein E-Mail später lud er mich ein, noch in Barcelona buchte ich den Flug. Mit geradezu finnischer Zielstrebigkeit.

Wenige Tage später auf dem Bahnhof hielt mein Herzmuskel locker mit den DJs der Londoner Clubszene mit. Mit Edward neben mir und dem ersten Pint Bier beruhigten sich meine Eingeweide. Wir redeten uns die Lippen heiß und schlugen uns in den für Betrunkene viel zu schnell startenden Bussen die Schultern blau – spätestens auf seiner Dachterrasse wusste ich: Blicke über sommerliche Großstädte verheißen Abenteuer.

Meine Erinnerungen verschwimmen zwischen Sonnenuntergängen an einem Fluss, dessen Namen mir egal war, Edwards grauenhaftem Curry und zu vielen giftgrünen Cocktails. Beim Abschied wollte ich mich mit Superkleber an ihn kleben – Trost fand ich im Gedanken an Harry Potter, der Hogwarts nur verlässt, um zurückzukehren. Das tat ich auch. Im Winter, nach einer Million SMS und Sehnsucht mit der Wucht eines Phantomschmerzes.

Es war kalt geworden, und wir wussten um unser Ablaufdatum: Edward ging nach Kapstadt, ich zog für acht Monate nach Island. Selten tauschen wir uns heute noch aus, einmal ist er mir auf dem Cover eines Modemagazins begegnet – ich glaube, er ist als Model und Barkeeper glücklich geworden. maki

In Nizza brennt die Sonne im Juli so unerbittlich, dass man nicht mehr weiß, wo der Strand endet und das Meer beginnt. Dann ist alles ein einziges Flirren, zwischen den Sonnenschirmen und Strandkörben und russischen Emigranten und englischen Fräulein und all dem Kitsch, der die Côte d'Azur verschandelt. Ein Flirren wie in dem Song „How Soon Is Now?“ von The Smiths, in dem Johnny Marrs Gitarre einen Akkord lang wabert, um sich vor jeder Strophe plötzlich zu erheben, schmerzhaft schön und rein.

Genauso rein und schmerzhaft schön stand sie plötzlich vor mir. Oder hatte sie schon die ganze Zeit neben mir gelegen, während wir Vokabeln stuckten und den Subjonctif und das Passé simple? Ich weiß nicht mehr, wie ich sie kennenlernte, im Sommer 98 während der Sprachferien. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich ihr gestand, mich in sie verknallt zu haben. Und ob wir uns erstmals in den Wellen küssten, halb ertrinkend, oder am Strand, ganz verglühend, das habe ich auch vergessen. Aber dass sie das schönste Mädchen an dieser Küste war von Ligurien über Ventimiglia und das unmögliche Monaco hinaus bis nach Antibes und Narbonne und an die katalanischen Strände, das vergesse ich nie.

Ans Französischlernen war fortan kaum mehr zu denken, weil jeder meiner Gedanken diesem tollen Mädchen aus Königswinter bei Bonn hinterherlief, sich in ihren grünen Augen verfing, die mich in die Knie zwangen mit der Klugheit der Hochbegabten, die zwei Klassen übersprungen hatte und schon als Teenager exakteste Karrierepläne hegte, die auch ein Studium an der WU in Wien umfasst hätten, wenn nicht... –

Ja, was ist dann eigentlich passiert? Nichts. Nichts Besonderes. Oder zu wenig. Vielleicht ist alles zu leicht gegangen. Es hätte klappen können; mit ein bisschen Geduld, ein bisschen Demut, ein bisschen Einfühlungsvermögen. Sie fuhr zurück an den Rhein, ich in mein viertes Semester am Juridicum. Es folgten lange Telefonate, der eine oder andere Besuch und nach und nach ein stilles Verblassen. Dabei hatten wir sogar ein Lied, unser Lied. „Golden Brown“. The Stranglers.

Einmal noch haben wir uns getroffen, vor sieben Jahren, in Heidelberg. Sie in Mannheim an der Uni, ich für ein Seminar am Planck-Institut. Wir blickten von der Schlossruine hinunter zum Neckar und dann vom Neckar hinauf einander in die Augen. Aber das Flirren, das Flirren war weg. go

Meine erste Sommerliebe war auch meine letzte. Aber der Reihe nach: Ich gerade 16. Er Maturant. Und Schlagzeuger, reicher, verwöhnter Schulhofschönling. Unerreichbar, eigentlich. Wäre da nicht die „Schulrevue“ gewesen: ein Theaterabend im großen Festsaal, ich und eine Klassenkollegin in Netzstrümpfen auf der Bühne. „Cabaret“ – das perfekte Programm, um so viele Zuseher aus der Burschenklasse zur Vorführung zu locken wie nie zuvor. Und ihn sogar vor unsere Garderobe.

Der Sommer konnte kommen – Tagträume vom gemeinsamen Schwimmen im Badesee, Küssen im Bootshaus und Anlehnen beim Lagerfeuer. Er war es, das wusste ich. Dass ich vor den Augen der Freundinnen – und Feindinnen – vom Schulschwarm im Auto herumkutschiert werden würde, das war nur ein netter Nebeneffekt. Oder besser, wäre einer gewesen. Denn auf einmal meldete er sich nicht mehr. Hob nicht ab. Kein Erbarmen.

Den gemeinsamen Italien-Urlaub, ja, den gab es. Allerdings nur mit den Eltern. Statt knisternder Zweisamkeit nur ein Kloß im Hals – und schmerzhafte Aufarbeitung der eigenen Teenagernaivität. Und das mitten in Rom, mitten im August. Ob das meine Affinität zur Sommerliebe für immer begraben hat? Vermutlich, denn seitdem habe ich mich nie wieder im Sommer verliebt. Dafür gehe ich den Ernst der Liebe erstaunlich oft an, wenn es wieder kalt wird. Kuscheln und so. Liza Minnelli hatte schon recht – „what good is sitting alone in your room?“. Trotzdem: Im Sommer läuft bei mir nichts mehr. Zumindest nichts Ernstes. ls

Kein Spaziergang am Strand, kein verheulter Abschied auf dem Bahnhof. Gar kein Abschied eigentlich. Wir hatten nicht mal einen Song. Todd, meine Großstadtferienliebe, 1998 in Chicago, und ich. Sein Nachname? Längst vergessen.

Ich war 19, drei Wochen in den USA, mit einer Freundin. Die Ausweise hatten wir gefälscht, uns 21 Jahre alt gemacht, um uns ins US-Nachtleben stürzen zu können. In irgendeiner Bar, irgendwo in Chicago, sprachen uns Mike und Todd an. Todd war groß, blaue Augen, handsome. Sein erster Satz: „Hi, I'm Todd. I'm a professional baseball player.“ Mir war klar: ein Aufrissschmäh. Ich spielte mit. Todd bestellte Wodka-Orange. Viel Wodka, wenig Orange. Ich war schnell betrunken, irgendwann standen wir umarmt im Lokal. Wir haben uns noch zwei-, dreimal gesehen. Immer in Bars, immer lief auf TV-Geräten Basket- oder Baseball, immer waren Mike und meine Freundin mit. Romantisch? Weniger. Aufregend? Sehr. Er müsse heute früher gehen, sagte er an einem Abend, weil sein Team, die Cincinnati Reds, morgen gegen die Chicago Cubs spielen würde. Er habe mir Tickets hinterlegt. Eine letzte Verarschung zum Abschied, dachte ich. Ein flüchtiger letzter Kuss. See you tomorrow! Na klar...

Ich war dann doch dort. Die Tickets auch. Aber Todd sah ich nur aus der Ferne – auf der Ersatzbank, auf dem Feld war er nie. Aber er hatte nicht gelogen. Nicht in dem Fall. Zurück in Graz suchte ich im Internet nach ihm, damals wusste ich seinen Nachnamen noch. Fand einen kurzen Lebenslauf. Verheiratet. Ich überlegte, ihm trotzdem zu schreiben. Dann ließ ich es. Eine Ferienliebe ist eine Ferienliebe ist eine Ferienliebe. Der schreibt man nachher nicht. Schon gar nicht, wenn sie verheiratet ist. mpm

Soundtrack zur Sommerliebe

Fast jede Ferienliebe hat auch den dazupassenden Soundtrack. Ein Lied, das auch Jahre später noch die Erinnerung an den Urlaub – und die Sommerliebe – weckt.

Kitschballaden sind geradezu prädestiniert dazu, zu derartigen Erinnerungen zu werden. In verliebtem Zustand, ist kaum jemand mehr in der Lage zu erkennen, wie schlecht die Songs sind. Das kann lange nachwirken. In der Redaktion gibt es jemanden, der mit „Nothing's Gonna Change My Love for You“ von Glenn Medeiros aus dem Jahr 1987 noch immer positive Gefühle verbindet. Er will lieber anonym bleiben.

Italienische Schlager à la Eros Ramazzotti stehen stellvertretend für die Tatsache, dass der Soundtrack zum Sommerkitsch eine gewisse Tendenz zur World Music hat – je nach Urlaubsland gibt es regionale, in Musik gepresste Erinnerungen an nächtliche Strandspaziergänge, romantische Bootsausflüge & Co., die auf Knopfdruck abgerufen werden können.

Sommerflirt

33%der Männer können sich vorstellen, dass aus einer Sommerliebe etwas Ernstes wird. Bei Frauen sind es 27 Prozent.

49%der Frauen freuen sich, im Urlaub den einen oder anderen Flirt zu haben. Männer sind nicht ganz so euphorisch – bei ihnen sind es 42 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2009)

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