Für Sloterdijk ist Jesus ein Bastard

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In seinem neuen Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ geht der Ästhetik-Professor mit der Moderne ins Gericht. Er verteidigt das Erbe vor zu viel Freiheit.

Was haben Jesus, ein gewissenhafter Henker aus einer Geschichte Honoré de Balzacs, Lenin und die Dadaisten in Zürich, König Lear, Napoleon oder die Pompadour gemein? All diese legendären, fiktionalen und historischen Figuren dienen Peter Sloterdijk als Zeugen für seine These, dass neuerdings in der Geschichte der Menschheit, die in der Steinzeit über zehntausende Jahre so konstant ihr Erbe wahren konnte, alles den Bach runtergeht. In „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (Suhrkamp) breitet der Ex-Fernseh-Philosoph auf 489 Seiten ein zivilisationskritisches Manifest aus, das die Irrwege der Moderne bedauert, indem es sie liebevoll illustriert.

Dieser wortreiche, elegante Groß-Essay erinnert fern an das versponnen Provokante von Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“, mit der er 1983 weit über die Geisteswissenschaften hinaus berühmt wurde. Es fällt jedoch noch schwerer, den Gedankengang dieses neuen Buches zusammenzufassen, das breites Wissen verarbeitet. Wie Don Quijote hat sich Sloterdijk exzessiver Lektüre hingegeben. Da wird schon mal ein Weltbild verrückt. Da macht sich einer auf, um im Feld der Kulturgeschichte originelle Abenteuer zu erleben und dabei vor allem gegen die Windmühlen des Fortschritts zu reiten.

Skeptische Leser könnten ihm wie Sancho Pansa mühsam folgen und irritiert fragen, ob dieser Autor, der Friedrich Nietzsche offenbar besonders schätzt, auch bereits eine philosophische Spätphase erreicht hat, in der das Fragment dominiert. Mehrfach wird ein Satz des tollen Menschen aus der Aphorismensammlung „Die fröhliche Wissenschaft“ zitiert: „Stürzen wir nicht fortwährend?“, fragt verzweifelt ein Gottsucher, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündet, der aus dem Gefühl der Abwesenheit den Vorwurf erhebt, wir alle hätten Gott getötet. Sloterdijk wirft sich mit Leidenschaft auf jene, die individuelle Freiheit über alles stellen, während doch Traditionsbewusste wissen, wie wichtig das Bewahren des Erbes sei.

„Nach uns die Sintflut!“

Kinder sind undankbar. Ein Satz der Pompadour genügt, um diese Aufsteigerin zu entlarven, die sich als einzige ihres Jahrhunderts total verwirklicht habe, indem sie sich Ludwig XV. schnappte. „Nach uns die Sintflut!“, soll sie 1757 bei einem Fest gesagt haben, als sie von einer Niederlage Frankreichs erfuhr. Wir wissen nicht genau, was die Mätresse damit ausdrücken wollte. In diesem Buch aber dient der Satz als Erklärung aller Umstürze, die noch folgen. Das scheint doch ein wenig an den Haaren einer Perücke herbeigezogen zu sein. Sloterdijk spitzt zu. Sankt Augustinus? Eine Erbsünde der Kirche. Heinrich VIII.? Ein adipöser Womanizer und justizmörderischer Paranaoiker. Fürs Bonmot opfert der Ästhetik-Professor alle und schont keinen. Die Pietà, die dem „kleinfamiliären Dreieck“ aus Jesus, Maria und Josef den Rest gibt, wird zur „laptop-Szene im Absoluten“ – was immer das bedeutet.

Paradoxerweise stellt sich Jesus in einem zentralen Abschnitt als wesentlicher Verursacher neuzeitlicher Kalamitäten heraus: Der „Bastard Gottes“ untergräbt auf Erden die patriarchale Ordnung, er anerkennt nur den Vater im Himmel, dem er nachfolgt. Sloterdijk zitiert in diesem Essay über die „Jesus-Zäsur“ einen verstörenden Satz aus dem Lukasevangelium: „So jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sein Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“

Die abschließende „große Freisetzung“ führt Bastardisierungen an, die das Zeitalter prägten: Franz von Assisi, Leonardo da Vinci, Papst Alexander VI., Elizabeth I. etc. – alles illegitime „Kinder des Abgrunds“? Sloterdijk bedauert zutiefst die zunehmende Aufhebung der genealogischen Differenzen.

Katastrophen: Malewitsch, Duchamp

Ach wie stabil war doch das frühe Mittelalter, als noch jeder wusste, wo sein angestammter Platz war! Selbst das Schöne unterliegt seither dem Neuen: „Namen wie Malewitsch und Duchamp markieren die evolutionäre ,Katastrophe‘ des Kunstsystems im 20. Jahrhundert.“ Man kann dieses Buch als reaktionäres lesen, das den „aufklaffenden Abgrund zwischen den Generationen“ fürchtet. Durch die in der Neuzeit manifeste Individualisierung komme dieser „Hiatus“ besonders stark zur Geltung. Sloterdijk sieht ihn allenthalben. Lauter Bastarde! Sein Kampf erfolgt aber lustvoll unter Einsatz aller Register der Sprache, so originell in den Assoziationen und reich an Metaphern, dass man getrost aufgeben kann, individuellen Sinn im Text zu suchen. Am besten lauscht man dieser Schnurren-Kollektion wohl in Ergebenheit.

Vielleicht ist der tolle Mann ja kraft seines Amtes als Rektor in Karlsruhe genealogisch dazu befugt, Wahrheiten zu verbreiten. An seiner Hochschule für Gestaltung könnte jedoch demnächst ein Patriarchat enden: Die nächste Amtszeit beginnt laut Ausschreibung am 1. Juli 2015: „Die Besoldung erfolgt nach Besoldungsgruppe W 3 mit Funktionszulage. Die HfG Karlsruhe strebt eine Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen an. Deshalb freuen wir uns über Bewerbungen qualifizierter Frauen.“ Die Frist dazu: 30. 9. 2014. Nach uns die Pompadour!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2014)

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