Wiener Festwochen. Alles, was Platz hat: Handkes „Stunde da wir nichts voneinander wussten“, eine Leihgabe des Hamburger Thalia-Theaters, im Theater an der Wien.
Es könnte auch „Sprechfolterung“ heißen, sagte Peter Handke über sein frühes Theaterstück „Kaspar“ (1966). Sein 25 Jahre später entstandenes Stück „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ könnte auch „Sprachlosigkeitsfolterung“ heißen: Es erzählt eine Unmenge kleiner Geschichten, die sich weder vollständig verstehen noch zu einem Ganzen ordnen lassen. Weil sie sprachlos bleiben. So macht dieses Stück klar, schmerzhaft klar, wie süchtig wir nach Worten, nach Sprache sind. Es besteht, formal gesprochen, nur aus Regieanweisungen, die freilich schönste Handke'sche Prosa sind, die sich bestens lesen lässt.
Ja, sogar singen. So entschloss sich das estnische Regieduo Ene Liis-Semper und Tiit Ojasoo zu einer wesentlichen Ergänzung des stummen, wenn auch nicht stillen Bilderreigens. Es lässt einen Männerchor Passagen aus Handkes Text singen, in kühlen Schwebungen vom freien Platz im hellen Licht künden, vom Kommen und Gehen. Denn darum geht's. Auf diesem Platz sind alle Passagiere, ob sie Koffer tragen oder nicht, ob sie schnurspringen oder radfahren, Kellner oder Fischer sind, Briefträger oder Piloten, Straßenkehrer oder Idioten, Nonnen oder Weihnachtsmänner, heilig oder profan, eilig oder gelassen. Sie passieren den Platz, sie passieren, egal, was ihnen passiert.
Einmal, ungefähr zur Hälfte der Aufführung, singt der Chor wieder und wieder, während die Szenerie einfriert: „Dann passierte nichts.“ Das ist die ärgste Passage. Alle atmen auf, wenn's weitergeht: eine Rauferei. Ein Raub. Eine Parade. Tausende und abertausende Kostüme. Szenen, Szenen, Szenen, Rollen, Rollen, Rollen.
Waren das Abraham und Isaak? Egal
Von „Europa und seinen Bewohnern“, von „der Mitte des neuen Europa“ ist im Katalog der Festwochen über das Stück zu lesen. Kann man auch aus den Bildern des Stücks solches lesen? Wenn man unbedingt will. Man hört einen Muezzin an der Klagemauer; der Weihnachtsmann malt seinem Begleiter das Gesicht schwarz (ein solches „Blackfacing“ wurde bei den vorigen Festwochen anlässlich der Aufführung von Genets „Negern“ debattiert); ein Holländer führt zwei Asiatinnen in der Rikscha; Frauen in Burka gesellen sich zu einem amerikanischen Zerrbild; am Ende sind die Weißen nackt, die Mauer öffnet sich, und die Asiaten kommen. Solche Szenen in Worten zu interpretieren (und wie soll man es sonst tun?), wäre unerträglich platt, Multikultikitsch oder das schiere Gegenteil, egal. Tun wir's nicht. Ja, da waren, wie im Buch, Abraham und Isaak, aber waren sie es wirklich? Wir wissen nichts voneinander in dieser sprachlosen Stunde. Auf Botschaften kommt es hier nicht an.
Viel mehr auf den Beat. Noch mehr als die Version Viktor Bodós in Graz 2009 hat diese Inszenierung einen zwingenden Rhythmus, den man auch weiterlaufen spürt, wenn einmal alles still steht auf dem Platz. Diesen säumen keine Häuser, er ist kein städtischer Platz, kein Maidan, kein Tahrir, kein Heldenplatz, kein Marktplatz, aber auch kein leerer Raum als Bühne im Sinne Peter Brooks, sondern ein beschränkter Platz: das, was vor einer Wand Platz hat. Nie ganz unbeengt. Mehr Camp als Campus. In einer der schönsten Sequenzen versucht sich eine Hochzeitsgesellschaft freizutanzen, zu „Can't Take My Eyes Off You“ von den Four Seasons, der Song kommt später noch einmal, bei einem Striptease von Soldaten, einer der Szenen, die schon sehr nahe dran sind an blödem, plakativem Slapstick. Sie erreichen ihn nie ganz, auch das muss am Rhythmus liegen.
Am Ende gibt die Wand den Takt vor. Sie dreht sich schneller, dann geht nur mehr ein Mann ganz langsam, wie in extremer Zeitlupe, von links nach rechts, die Choristen singen ohne Worte, ihre Stimmen füllen den Raum. Schließlich stehen sie auf: Sie waren die ganze Zeit unter uns, zwischen uns, im Publikum verteilt. Ein magischer Moment, der dem alten Griechen Peter Handke wohl gefallen dürfte: Der Chor, das ist die Polis, das sind wir. Dann ist das Theater vorbei, die Stunde hat 130 Minuten gedauert, und, gottlob, die Sprache hat uns wieder.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2015)