"Erste Tragödie": Warum der Kennedy-Patriarch seine Tochter versteckte

"Erste Tragödie": Warum der Kennedy-Patriarch seine Tochter versteckte(c) imago/ZUMA/Keystone (imago stock&people)
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1941 wurde bei der Schwester des späteren US-Präsidenten John F. Kennedy eine umstrittene Operation durchgeführt, die zu schwersten Hirnschäden führte. Zwei neue Bücher beschäftigen sich mit dem Schicksal von Rosemary Kennedy.

"Oh Rosie, was haben wir dir angetan?" Rose Kennedy wurde oft schwermütig, wenn sie ihre älteste Tochter im Pflegeheim besuchte. Rosemary "Rosie" Kennedy brauchte ständige Betreuung, war geistig auf dem Stand eines kleinen Kindes, litt unter partiellen Lähmungen - Folgen einer Lobotomie, bei der ihr Gehirn schwer geschädigt worden war. Zwei neue Bücher beschäftigen sich mit dem Schicksal dieses "vergessenen" Mitglieds des glamourösen Kennedy-Clans.

Schon die Geburt der ältesten Tochter von Joseph und Rose Kennedy am 13. September 1918 verläuft dramatisch: Weil sie auf den Arzt warten soll, presst die Geburtshelferin die Knie der werdenden Mutter zusammen und schließlich sogar den Kopf des Kindes wieder zurück in den Geburtskanal - über zwei Stunden lang. Bekam Rosemarys Gehirn dadurch zu wenig Sauerstoff? Darüber lässt sich nur spekulieren, jedenfalls aber zeigen sich bald Defizite. "Ich merkte schon früh, dass Rosemary nicht wie die anderen war", erklärt Rose später. "Rosie" lernt später krabbeln, gehen und sprechen als ihre älteren Brüder Joseph Jr. ("Joe") und John ("Jack").

Rosemary (vorne sitzend) mit ihrer Mutter und den Geschwistern (vlnr) Eunuce, Kathleen, John und Joseph jr
Rosemary (vorne sitzend) mit ihrer Mutter und den Geschwistern (vlnr) Eunuce, Kathleen, John und Joseph jr(c) imago stock&people (imago stock&people)

Als das Mädchen sieben ist, bescheinigen ihm Ärzte der Universität Harvard, "geistig zurückgeblieben" zu sein und empfehlen die Einweisung in eine Anstalt. Joseph und Rose Kennedy lehnen ab: Rosemary soll die beste Förderung erhalten und nicht anders als ihre (später insgesamt acht) Geschwister behandelt werden. Mit mäßigem Erfolg besucht Rosemary zunächst öffentliche und später private Schulen. Sie lernt lesen und schreiben, ihre Briefe bleiben aber bis ins Erwachsenenalter äußerst unbeholfen und fehlerhaft. Auch körperlich kann sie mit dem Rest der Familie, der sich gerne in sportlichen Wettkämpfen misst, nicht mithalten. Möglicherweise leidet Rosemary auch an Epilepsie, ihre Geschwister erinnern sich später jedenfalls an immer wieder auftretende Anfälle.

"Ich hasse es, dich zu enttäuschen"

"Sie war das beschädigte Kind inmitten dieser überschäumenden und geistreichen Kinder", erinnert sich eine Freundin. Joseph und Rose Kennedy setzen höchste Erwartungen in ihre Kinder: "Sie lernten, Gewinner zu sein, nicht Verlierer", erklärt die Mutter. Es sind Anforderungen, denen Rosemary nicht genügen kann. "Ich hasse es, dich zu enttäuschen", schreibt sie im Alter von 16 Jahren an ihren Vater.

Außerhalb der Familie weiß kaum jemand etwas von Rosemarys Einschränkungen. Geistig Behinderte ebenso wie psychisch Kranke werden damals vorwiegend mit Methoden behandelt, die noch aus dem Mittelalter stammen, und sie werden stigmatisiert. Das gesellschaftliche Urteil - Stichwort "schlechte Gene" - trifft auch die Familien der Betroffenen. Nicht ungewöhnlich also, dass eine wohlhabende und ehrgeizige Familie wie die Kennedys die "Andersartigkeit" ihrer Tochter zu verbergen sucht. Viele, die sich nur kurz mit Rosemary unterhalten, schätzen sie als lediglich schüchterner und weniger eloquent als ihre Geschwister ein, den oft wechselnden Internaten ihrer Tochter verrät die Familie bei der Einschreibung nur wenig.

Die Bemühungen zahlen sich für die Familie aus. Als Joseph 1938 zum US-Botschafter in London bestellt wird und Rosemary mit ihrer jüngeren Schwester Kathleen ("Kick") am königlichen Hof debütiert, schwärmt die britische Presse von der Schönheit der jungen Frau.

Kathleen, Rose und Rosemary Kennedy bei Hof 1938
Kathleen, Rose und Rosemary Kennedy bei Hof 1938(c) imago/ZUMA/Keystone (imago stock&people)

Nach Eintritt Großbritanniens in den Zweiten Weltkrieg kehrt der Großteil der Familie in die USA zurück, Rosemary bleibt in einer Schule in Hertfordshire. Ihre Zeit dort gilt als glücklichste in ihrem Leben, sie darf bei der Betreuung der Schulkinder helfen und träumt von einer Zukunft als Kindergärtnerin. "Ich werde viel weinen", schreibt sie, als sie das Land im Frühjahr 1940 wegen Hitlers Vormarsch verlassen muss.

Zurück in den USA mehren sich Probleme. Aus einer katholischen Schule läuft die mittlerweile 22-jährige Rosemary immer wieder mitten in der Nacht davon. Wieder zuhause muss sie ihre Zeit mit den kleinsten Geschwistern verbringen. Sie versteht nicht, warum sie nicht kommen und gehen darf wie ihre wenige Jahre jüngeren Schwestern. Der Frust entlädt sich in Wutausbrüchen, einmal schlägt Rosemary sogar auf ihren Großvater ein.

Da hört Vater Joseph von einer neuen Methode zur Behandlung aller möglichen Arten von psychischen Problemen, von Depressionen bis "Aufmüpfigkeit": der Lobotomie. Dabei werden die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen durchtrennt. In Fachkreisen ist die Methode höchst umstritten, Studien zu Risiken und Langzeitfolgen gibt es noch nicht. Der von Joseph konsultierte Psychiater Walter Freeman berichtet dagegen von wundersamen Heilungen. Rose lässt ihre Tochter Kathleen Erkundungen über die Operation einholen, die erfährt von dramatischen Folgen wie Persönlichkeitsveränderungen und Verlust der Kontrolle über den Körper. "Das ist nichts, was wir für Rosie wollen", schreibt sie an ihre Mutter.

Doch der Patriarch trifft seine Entscheidung alleine: Im November 1941 führen Freeman und sein Kollege James Watts die Lobotomie durch. Unter lokaler Betäubung bohren sie zwei Löcher in Rosemarys Schädel und führen einen Spatel ins Gehirn ein, mit dem sie Nervenbahnen durchtrennen.

Eine Operation mit dramatischen Folgen

Nach wenigen Stunden ist klar: Die Operation ist dramatisch schiefgegangen. Rosemary kann weder gehen noch sprechen, es dauert Monate bis Jahre bis sie diese Fähigkeiten zumindest teilweise wiedererlangt. Sie muss es alleine durchstehen: Der Vater kommt nur ein paar Mal vorbei, um sein Scheckbuch zu zücken und die bestmögliche Betreuung in Pflegeheimen zu kontrollieren. Dem Rest der Familie erklärt er vage, dass sich Rosemarys geistiger Zustand verschlechtert habe und Besuch sie aufregen würde. Angeblich weiß nicht einmal seine Frau etwas von der missglückten Operation - zumindest behauptete Rose später, sie habe erst nach Jahrzehnten davon erfahren. "Es ist unmöglich, dass sie so uninformiert war wie sie behauptete", schreibt Kate Clifford Larson in "Rosemary: The Hidden Kennedy Daughter". Die Biografin geht davon aus, dass Joseph zwar nicht Roses Zustimmung zu der Operation einholte, sie aber danach sehr wohl einweihte.

Jedenfalls dauert es Jahrzehnte - bis das Familienoberhaupt durch einen Schlaganfall selbst zum Pflegefall wird -, bis die Familie wieder Kontakt mit Rosemary aufnimmt. Als die "vergessene Tochter" ihre Mutter zum ersten Mal seit 20 Jahren wiedersieht, stürmt sie schreiend auf sie zu und schlägt auf sie ein. "Sie wusste, dass ihre Mutter nicht bei ihr gewesen war, als sie sie brauchte", vermutet Elizabeth Koelher-Pentacoff in "The Missing Kennedy". Rose findet nie mehr wirklich Zugang zu der Tochter, um die sie sich früher am meisten gekümmert hat. Rosemarys Schicksal sei die "erste Kennedy-Tragödie" gewesen, sagt sie in Anspielung auf die vielen tragischen Todesfälle, die die Familie beutelten.

Rose lockert nach Josephs Schlaganfall auch die Vorschriften, die ihr Mann aufgestellt hat, um die Tochter vor der Außenwelt zu verbergen. Die Nonnen, die Rosemary im Pflegeheim Saint Colletta betreuen, dürfen sie nun in Restaurants und zum Einkaufen mitnehmen. In ihren späteren Lebensjahren ist Rosemary regelmäßiger Gast in den Häusern ihrer Geschwister und ihrer Mutter. Am 7. Jänner 2005 stirbt sie im Alter von 86 Jahren im Kreis der Familie.

Warum hat Joseph Kennedy seiner Tochter die umstrittene riskante Operation "angetan", wie Rose es ausdrückte? Koelher-Pentacoff zeigt sich in ihrem Buch überzeugt, dass er nur das Beste für seine Tochter wollte. Larson vertritt hingegen die These, dass es ihm hauptsächlich um den Ruf der Familie ging. Ein Skandal, etwa durch eine uneheliche Schwangerschaft, hätte dem gesellschaftlichen Aufstieg des Clans und der politischen Karriere der Söhne schaden können.

Kennedy-Familie 1938 (Rosemary stehend, hinten links)
Kennedy-Familie 1938 (Rosemary stehend, hinten links)(c) imago stock&people (imago stock&people)

Tatsächlich erfuhr die Öffentlichkeit lange kaum etwas über die älteste Tochter der prominenten Familie. Sie unterrichte an einer Schule für behinderte Kinder und bestehe auf ihrer Privatsphäre, hieß es zunächst. Während "Jacks" Präsidentschaftskampagne berichtete das "Time Magazine" ohne weitere Details, Rosemary sei Patientin eines Pflegeheims. Später erzählten Mutter Rose und Schwester Eunice öffentlich über Rosemarys Kindheit und Jugend. Die Lobotomie wurde aber erst in den 1980er Jahren bekannt.

Dennoch hat das Schicksal Rosemarys die Kennedy-Familie geprägt. John F. Kennedy erließ als Präsident zahlreiche Gesetze zum Schutz und der Förderung von behinderten Menschen. Seine Schwester Eunice Shriver rief die Special Olympics ins Leben. Ihr Sohn Tim Shriver meint daher heute, dass Rosemary eigentlich vom Rand ins Zentrum des Kennedy-Clans gerückt werden müsse: "Das Interesse an Menschen mit speziellen Bedürfnissen, das sie in meiner Familie geweckt hat, wird eines Tages als die größte Errungenschaft der Kennedys gelten."

Rosemary: The Hidden Kennedy Daughter

Kate Clifford Larson

Houghton Mifflin Harcourt

The Missing Kennedy: Rosemary Kennedy an the Secret Bonds of Four Women

Elizabeth Koelher-Pentacoff

Bancroft Press

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