Österreichwerdung zwischen Proporz und Petticoat

(c) ORF (Erich Lessing)
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Die dreiteilige Zeitgeschichteserie „Jahrzehnte in Rot-Weiß-Rot“ umfasst die 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre: Wolfgang Stickler, Robert Gokl und Peter Liska befragten Zeitzeugen.

Staatstragend präsentierte der ORF Dienstagabend seine neueste Miniserie zur Zeitgeschichte: Bundespräsident Heinz Fischer, Ex-Innenminister Karl Blecha, Ex-Nationalbankpräsidentin Maria Schaumeyer, Ex-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager u.a. waren auf den Küniglberg gepilgert, um in von drei ORF-Dokumentaristen aufgearbeiteten Erinnerungen zu schwelgen. Fischer erzählte vom Bombenhagel über Wien, seinem roten Kinderfahrrad, vom Religionslehrer an der Hietzinger Mittelschule, der mehr über die Gräuel von Stalingrad (wo er Missionspfarrer war) erzählte als über die Bibel, und von seinem ersten Parlamentsausweis, den noch Leopold Figl unterschrieben hatte. „Ich war sehr stolz.“

Fischer ist einer der Zeitzeugen, die in der Reihe „Jahrzehnte in Rot-Weiß-Rot“ zu Wort kommen, um über die Entwicklung von Politik, Gesellschaft und Alltag nach dem Zweiten Weltkrieg zu reflektieren. Es ist fast, als säße man mit dem Opa, dem Nachbarn, der Großtante zusammen und ließe sich Anekdoten erzählen, in die sich immer wieder auch Staatstragendes, Dramatisches oder Bitterkeit mischen. Dabei entsteht ein lebendiges, menschliches Bild der Geschichte, das zwar keine neuen Erkenntnisse zutage fördert, aber als Kurzfassung dreier Jahrzehnte auch dank umfassender Recherchen im ORF-Archiv sehr anschaulich ist.

Im ersten Teil – „Die 50er-Jahre“ (heute, 21.05 Uhr, ORF2) – erinnert sich Arik Brauer, dass es plötzlich „ohne Marken Brot zu kaufen“ gab, aber auch „noch viel Antisemitismus“. Erni Mangold stört noch immer, dass sich der Stellenwert der Frauen, die während des Krieges so selbstbewusst agieren mussten und konnten, gleich danach in Luft auflöste: „Man musste Männer wieder bedienen.“ Senta Berger hat die 1950er-Jahre als „Zeit der Verdrängung“ in Erinnerung, und ein Zeitzeuge schwärmt davon, dass seine Mutter „aus einer Knackwurst und drei Erdäpfeln ein super Essen machen“ konnte.

Der Untertitel der Dokumentation, „Das brüchige Fundament“, verrät, worum es Wolfgang Stickler in seinem Beitrag vor allem geht: um die politische Entwicklung, darum, dass die österreichische Nation schneller Realität wurde als das dazugehörende Bewusstsein der Bürger. Proporz statt Bürgerkrieg. Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf. Mangel an Demokratieverständnis – und an Vergangenheitsbewältigung. Leopold Figl mit dem Staatsvertrag auf dem Balkon des Belvedere – das Bild ist sattsam bekannt (Fotograf Erich Lessing ist ein weiterer Zeitzeuge, der in der Doku zu Wort kommt). Doch es gewinnt eine charmante neue Nuance, wenn man erfährt, dass man Figl das Schriftstück gar nicht zum Herzeigen überlassen wollte: „Was ist, wenn er es fallen lässt?“ Er ließ nicht – und die Geschichte der Zweiten Republik ging weiter.

Österreich, die „Insel der Seligen“

Am kommenden Donnerstag zeigt Robert Gokl in „Die 60er-Jahre – Zwischen Vergangenheit und Zukunft“ (15.11.), wie sich die Jugendlichen in Petticoat und Lederjacke von den moralischen und politischen Vorstellungen der Eltern distanzierten – aber auch, welche Defizite die Demokratie noch immer hatte. Und Peter Liska beleuchtet schließlich in „Die 70er-Jahre“ (22.11.) die Entstehung des Nimbus von der „Insel der Seligen“: Papst Paul VI. hat Österreich bei einem Besuch von Bundespräsident Franz Jonas als „Isola felice“ – als „glückliche Insel“ – bezeichnet. Unter dem „Sonnenkönig“ Bruno Kreisky wurde es zur „Insel der Seligen“. Wie gesagt: Nicht neu, aber hübsch aufbereitet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2012)

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