Litauen: Gehen ohne Atom die Lichter aus?

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Referendum zur Atomkraft: Die Angst der Litauer vor dem „Energieloch“ hat verschiedenste Gründe. Doch die Volksbefragung ist umstritten.

VILNIUS. Wenn die Litauer am Sonntag ein neues Parlament wählen, sollen sie sich in einem Referendum auch zur Atomkraft äußern. Ohne Atomstrom sei die Versorgungssicherheit bedroht, warnen die Politiker, doch das Schreckensszenario wird von Experten bezweifelt.

„Soll die Laufzeit des AKW Ignalina verlängert werden?“, lautet die Frage an die Wähler. Von einer massiven Ja-Mehrheit erhofft sich die Regierung in Vilnius (Wilna) Rückendeckung für den Wunsch, die für Ende 2009 geplante Abschaltung des Reaktors auszusetzen. Doch die Volksbefragung ist umstritten. Staatspräsident Valdas Adamkus hat sie als „irreführend“ gegeißelt, und selbst hohe Regierungsbeamte sehen sie als „billigen politischen Trick“, der den Wählern ein Mitspracherecht vorgaukle, das sie nicht haben.

Verpflichtung im EU-Vertrag

Denn die Entscheidung über das Ignalina-Werk ist längst gefallen. In den Beitrittsverhandlungen zur EU hat sich Vilnius verpflichtet, die gigantische, noch aus Sowjetzeiten stammende Anlage vom Tschernobyl-Typ zu schließen. Der erste Reaktor wurde programmgemäß zu Jahresende 2004 vom Netz genommen, Ende nächsten Jahres soll auch Ignalina 2 die Produktion stoppen. Dann schließt ein Kraftwerk, das für 75 Prozent der litauischen Stromversorgung steht.

Es ist, als ginge Litauens Verantwortlichen jetzt erst auf, was dies bedeutet. „Wir waren wohl anfänglich zu enthusiastisch über den EU-Beitritt und haben die Folgen nicht bedacht“, sagt der Sozialdemokrat Justinas Karosas. „Jahrelang nichts getan“ habe die Regierung, schimpft Valentinas Mazuronis, Fraktionschef der oppositionellen „Recht und Ordnung“-Partei, und sie wisse bis heute nicht, ob sie „für Ignalina kämpfen oder sich auf ein Leben ohne einstellen“ solle. Die Regierung will schon kämpfen für den mit schwedischem Know-how und EU-Geldern aufgerüsteten Reaktor, den Präsident Adamkus für „zumindest so sicher wie die besten westlichen“ Atommeiler hält.

„Vertrag ist Vertrag“, entgegnet EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Schließlich seien die Slowakei und Bulgarien unter ähnlichen Auflagen in die EU gekommen, weshalb die Kommission nicht das geringste Interesse an einer Revision der Beitrittsbedingungen hat. Dennoch klammert sich Energie-Staatssekretär Arturas Dainius an die Hoffnung, dass „wir Verständnis finden für unsere besondere Lage“.

Denn Litauen verliert nicht nur die wichtigste Energiequelle. Das Baltikum ist eine „Energieinsel“, von der übrigen EU isoliert. Außer einem unzureichenden Unterseekabel zwischen Estland und Finnland gibt es keine Verbindung zum europäischen Stromnetz. Litauen wäre nach Abschaltung des AKW von Lieferungen aus Russland abhängig. Die jüngsten Erfahrungen mit russischen Energieblockaden müssten die EU zwingen, „unsere Energiesicherheit realistischer zu betrachten“, hofft Karosas.

Neues AKW bis 2018

Zumindest bis 2012 solle Ignalina weitermachen dürfen. Bis dahin will man Stromleitungen nach Polen und Schweden gebaut haben. Bis 2018 soll in Ignalina ein neues Atomkraftwerk entstehen, an dem sich Estland, Lettland und Polen beteiligen wollen. Doch davor drohe ein „Energieloch“: mit Energiemangel, der Abhängigkeit von einem unberechenbaren Lieferanten und mit so teurem Strom, dass die schon jetzt zweistellige Inflation um weitere drei Prozentpunkte steigen würde, was allen Ambitionen auf Euroreife auf lange Zeit den Garaus machen würde.

Das ist ein Bild, das Jurgis Vilemas, Professor an Litauens Energieinstitut, nicht für realistisch hält. „Litauen hat auch ohne Atomkraft Strom genug“, rechnet er vor. Als noch beide Ignalina-Reaktoren arbeiteten, exportierte man mehr Elektrizität, als man selbst verbrauchte, und auch heute übertrifft die Kapazität den Bedarf. In Elektrenai steht ein Gasturbinenkraftwerk, das nicht einmal voll ausgelastet war, als der Ignalina-Reaktor wegen Wartungsarbeiten vom Netz musste. Dort ist auch eine neue Kraft-Wärme-Anlage in Planung. „Die Schließung des AKW ist ein finanzielles Problem, kein technisches“, sagt Vilemas: Man verliere den billigen Anteil der Energieproduktion, aber nicht die Versorgungssicherheit.

Dass Litauen bei Erdgas voll von Russland abhängig sei, mache eine stärkere Nutzung dieser Energiequelle problematisch, räumt Vilemas ein. „Doch auch den Brennstoff für Ignalina können wir nur aus Russland beziehen.“ Er sieht die Option für ein neues Atomkraftwerk skeptisch: „Atomstrom ist billig, wenn man ihn aus einer amortisierten Anlage bezieht, doch er wird sehr teuer, wenn man erst den Bau eines neuen Kraftwerks finanzieren muss.“

AUF EINEN BLICK

Die Litauer müssen am Sonntag nicht nur ein neues Parlament wählen, sondern auch die Frage beantworten, ob der Betrieb im Atomkraftwerk Ignalina verlängert werden soll. Vilnius fürchtet die völlige Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen. Laut Experten ist Litauens Energieversorgung hingegen gesichert.

Die EU hat schon abgewunken: Eine Revision der EU-Verträge komme nicht in Frage.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2008)

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