Peter Bieri: „Schreiben ist stets auch ein Kampf“

Aufgeschlagenes Buch
Aufgeschlagenes Buch(c) Erwin Wodicka
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„Wie wollen wir leben?“ Das fragt Peter Bieri in seinem neuen Buch. Der „Presse“ erklärte er, was er unter Selbstbestimmung versteht. Und was es bedeutet, einen Roman zu schreiben.

Die Romane von Pascal Mercier sind weltweit bekannt. Sein erfolgreichster, „Nachtzug nach Lissabon“, wird gerade verfilmt. Die philosophischen Texte von Peter Bieri, so der wirkliche Name des 1944 in Bern geborenen Schweizer Philosophen, sind weit weniger bekannt. Sein aktuelles Buch heißt „Wie wollen wir leben?“

Die Presse: Die Frage „Wie will ich eigentlich leben?“ ist wohl für jeden Menschen essenziell. Aber stellt man sie sich nicht erst, wenn man mit dem eigenen Leben unzufrieden ist?

Peter Bieri: Ich denke nicht. Die Frage stellt sich für jeden, wenn er eine weitreichende Entscheidung zu treffen hat. Dass sie weitreichend ist, bedeutet: Die ganze Art zu leben steht zur Diskussion.

„Selbstbestimmt“, sagen Sie, ist die Antwort der meisten Menschen auf die Frage, wie sie leben wollen. Um selbstbestimmt zu sein, müsse man innen und außen im Einklang mit dem eigenen Selbstbild leben. Ich denke, nur wenige Menschen können sich nach dieser Definition wirklich selbstbestimmt nennen...

Selbstbestimmung in diesem Sinne ist ein Ideal. Manchmal ist man im Leben näher dran, manchmal weiter weg. Es gibt glückliche Momente, in denen das Selbstbild und das eigene Tun und Erleben zur Deckung kommen. Aber man ist stets in Gefahr, dieses Gleichgewicht wieder zu verlieren.

Selbsterkenntnis sei die beste Chance, den Kampf gegen die innere Monotonie zu gewinnen, schreiben Sie. Klingt plausibel. Bleibt nur die Frage: Wie kann ich mich selbst erkennen? Daran sind wohl schon viele gescheitert.

Es geht einerseits um Steigerung der Aufmerksamkeit nach innen, andererseits darum, sich von außen, auch im Spiegel der fremden Sicht, besser zu verstehen. Es geht also um Genauigkeit der inneren Wahrnehmung und um Stimmigkeit in der Deutung von Tun und Erleben. Ich weiß nicht, ob Ihr pauschaler Satz stimmt, dass viele am Versuch der Selbsterkenntnis „gescheitert“ sind. In gewissem Umfang wissen die meisten über sich Bescheid. Und das Verstehen wächst mit jeder Erfahrung, jedem Irrtum, jeder Krise. Zwar gibt es auch viel Selbsttäuschung. Aber eigentlich kennen sich die Leute in ihrem späteren Leben mit sich selbst ziemlich gut aus.

Wählen Sie eine andere Sprache, je nachdem, ob Sie an einem philosophischen Text oder einem Roman schreiben?

In einem philosophischen Text geht es um gedankliche Klarheit, in einem Roman um poetische Dichte. Entsprechend wird man seine Worte wählen.

Wenn Sie einen Roman beginnen, haben Sie dann schon die gesamte Handlung im Kopf? Oder entsteht die Geschichte erst mit dem Schreiben?

Ich beginne mit Bildern, Szenen und einer intuitiven Vorstellung von den Figuren. Der Rest entwickelt sich erst langsam beim Schreiben, es sind die Sätze, die die Fantasie vorantreiben. Die Handlung ist in einem literarischen Text zweitrangig. Das Entscheidende sind die Worte, ihre Melodie und die Atmosphäre, die durch sie entsteht.

Erfahren Sie anhand der Auswahl der Themen, Motive und Fragen auch etwas über sich?

Ja, natürlich. Diese Dinge entstehen ja in der Innenwelt und drücken sie aus. Man ist im Schreiben – ob philosophisch oder erzählerisch – sehr nahe bei sich selbst.

Das Finden der richtigen Worte und die Distanz zu eigenen Sprachgewohnheiten beschäftigen Sie nicht nur in Ihrem letzten Buch. Auch im „Nachtzug nach Lissabon“ empfindet der Protagonist Ekel „ob der immer gleichen Wendungen, Floskeln und Metaphern“, die „schrecklich verbraucht und verwohnt“ seien. Leiden Sie selbst manchmal auch unter Ihrer eigenen Sprache?

„Leiden“ ist übertrieben. Aber Schreiben ist stets auch ein Kampf gegen sprachliche Gewohnheiten, die dem passenden Satz im Weg stehen. In diesem Sinne ist Schreiben eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst, die zum Ziel die Echtheit und Genauigkeit des Ausdrucks hat.

Man ist nach einem Roman nicht mehr derselbe wie vorher, sagen Sie. Wie meinen Sie das?

Einen Roman zu schreiben, bedeutet, sich selbst zur Sprache zu bringen. In diesem Prozess lernt man sich besser zu verstehen. Gleichzeitig verändert sich das Erleben unter dem schreibenden Blick: Es wird transparenter, verändert seinen Ort in der Innenwelt und kann einen überraschen.

Sie haben einmal gesagt, die Fiktion, die Sie in einem Roman schaffen, ist, solange Sie schreiben, Ihre Wirklichkeit. Wie geht es Ihnen, wenn Sie einen Roman beendet haben und sich wieder dem eigentlichen Leben stellen müssen?

Dem „eigentlichen Leben“ muss ich mich auch in Zeiten des Schreibens stellen. Einen Roman zu beenden heißt, eine Wirklichkeit der Fantasie abzuschließen – um sich auf eine neue vorzubereiten. Jeder von uns lebt sowohl außen als auch innen, in der Fantasie, den Tagträumen. Jedes Leben ist auch durch die Fantasiebilder, die es begleiten, das, was es ist.

Ihr Roman „Nachtzug nach Lissabon“ wird gerade verfilmt. Werden Sie sich den Film ansehen?

Sicher.

Und was erwarten Sie sich?

Ich erwarte und hoffe, dass er ein poetisches Gegenstück zum Buch wird, durch die Bilder, die Dialoge und die Musik.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2012)

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