KENNEDY-ATTENTAT

Es sind 45 Sekunden, die sich bis heute in das Gedächtnis der Welt eingeprägt haben. Am 22. November 1963 fahren US-Präsident John F. Kennedy und seine Frau Jackie im offenen Wagen über die Dealey Plaza in Dallas, lächeln den winkenden Menschen am Straßenrand zu, als der Anführer des mächtigsten Landes der Welt plötzlich blutend zusammensackt.



von Maria Kronbichler

Kennedy ist im November 1963 gerade mal etwas mehr als tausend Tage im Amt. Seine Wiederwahl im kommenden Jahr ist keineswegs gewiss. Die Zustimmungsraten in der Bevölkerung sind zwar höher als bei seinen Vorgängern, der Präsident konnte bisher aber nur wenige seiner Reformvorhaben umsetzen, parteiinterner Widerstand lähmt ihn. Die misslungene Invasion in der kubanischen Schweinebucht und die Entsendung von "Militärberatern" nach Vietnam sorgten für Aufregung.

Mit einer zweitägigen Reise durch Texas gibt Kennedy den inoffiziellen Startschuss für den Wahlkampf. Der Präsident nimmt seine beste Wahlkampfwaffe mit: seine äußerst populäre Frau Jacqueline "Jackie" Kennedy.

Es ist der erste größere öffentliche Auftritt der First Lady seit dem Tod ihres Neugeborenen Patrick im August. Die Reise in den Westen der USA bedeutet alles andere als ein Heimspiel.

1960 gewann Kennedy Texas nur mit hauchdünnem Vorsprung, die dortige demokratische Parteiführung ist zerstritten, und Dallas gilt als Hochburg der Rechtsextremen. Vor seiner Ankunft kursiert in Dallas ein "Steckbrief" mit dem Bild des Präsidenten: "Gesucht wegen Hochverrats". "Wir fahren heute ins Land der Irren" ("nut country"), scherzt Kennedy am 22. November.


Freitag, 22. November 1963: Um 11.40 Uhr landen die Kennedys auf dem Flughafen Love Field in Dallas. Sie werden von einer begeisterten Menge empfangen, schütteln am Rollfeld zehn Minuten lang Hände. Dann gehen sie zu dem dunkelblauen Lincoln Continental, der das Paar quer durch die Stadt zum Messegelände Trade Mart bringen soll. Da die Sonne nach einem kurzen Regenschauer am Morgen wieder scheint, bleibt das Verdeck offen – eine verhängnisvolle Entscheidung, wie sich später herausstellen wird.

Die Kennedys nehmen auf der hinteren Sitzbank des Lincoln Platz, vor ihnen sitzen der texanische Gouverneur John Connally und seine Frau Nellie. Der Secret-Service-Mann Bill Greer steuert die Limousine, neben ihm sitzt sein Kollege Roy Kellerman. Zur Wagenkolonne gehört auch eine Motorrad-Vorhut aus lokalen Polizisten; hinter dem Lincoln folgen ein Wagen des Secret-Service, einer mit Vizepräsident Lyndon B. Johnson und dessen Frau und einer mit Journalisten.

Um von Schaulustigen entlang der Wegstrecke besser gesehen zu werden, lässt Kennedy seine Personenschützer nicht die ganze Zeit über auf den Trittbrettern der Limousine mitfahren oder direkt nebenherlaufen. Nach rund vierzig Minuten biegt der Lincoln auf die Elm Street ein, die durch die Dealey Plaza, eine kleine Parkfläche, führt. Hier säumen nicht mehr so viele Menschen die Straßen wie zuvor im Zentrum. Nellie Connally dreht sich zum Präsidenten um und bilanziert: "Sie können nicht sagen, dass Dallas nicht freundlich zu Ihnen ist". Wenige Augenblicke später fällt ein Schuss. Es ist genau 12.30.

Kennedy greift sich an den Hals, sein Kopf sinkt nach vorne. Der Körper des Präsidenten bleibt jedoch aufrecht. Das liegt an dem Stützkorsett, das der 46-Jährige wegen seiner Rückenprobleme unter dem Anzug trägt. Kennedy bietet so weiterhin ein leicht zu treffendes Ziel. Jackie beugt sich zu ihrem Mann, schreit: "Oh nein!". Da trifft erneut eine Kugel den Kopf des Präsidenten, der Schädel zerbirst. Jackie klettert auf den Kofferraum, greift nach einem Stück der Schädeldecke ihres Mannes. "Mein Gott, sie haben ihm seinen Kopf weggeschossen", ruft sie dem Secret-Service-Agenten Clint Hill zu, der von hinten auf den Wagen springt. Hill drängt Jackie zurück, Kennedy sinkt blutüberströmt in den Schoß seiner Frau.

Auch John Connally ist getroffen. Fahrer Greer, der im Augenblick des ersten Schusses noch abgebremst hat, beschleunigt nun und rast zum sieben Kilometer entfernten Parkland Memorial Hospital. Doch die Ärzte können nichts mehr für Kennedy tun. Zwei Priester geben ihm die letzte Ölung, um 13 Uhr wird der Präsident für tot erklärt. Jackie Kennedy bleibt im Krankenhaus an der Seite ihres Mannes. "Sie hatte Blut und Hirn auf ihrem Kleid. Sie hatte Tränen im Gesicht, aber sie war gefasst", wird der Arzt Robert Grossman später erzählen. Connally überlebt nach einer Not-OP.

Die TV-Sender der USA unterbrechen ihr Programm für Sondersendungen. Der Moment, als CBS-Moderator Walter Cronkite seine Brille abnimmt und, um Fassung ringend, den Tod des Präsidenten verkündet, gehört bis heute zu den bekanntesten Szenen in der Geschichte des US-Fernsehens. Millionen Amerikaner eilen an diesem Freitag von ihren Arbeitsplätzen nach Hause, um die Nachrichten zu verfolgen. "Das Leben stand still", erinnert sich zum 50. Jahrestag der einstige Justizminister Ronald Goldfarb.

Nur eineinhalb Stunden nachdem Kennedy für tot erklärt worden ist, wird Lyndon B. Johnson als 36. Präsident der Vereinigten Staaten angelobt. Jackie Kennedy steht bei der kurzen Zeremonie an Bord der Air Force One neben ihm. Dann hebt die Maschine mit der Leiche Kennedys an Bord in Richtung Washington ab.

Zu diesem Zeitpunkt sitzt bereits ein Verdächtiger in Haft. Lee Harvey Oswald, ein Angestellter des Texas School Book Depository, das in einem Backsteingebäude an der Bordseite der Dealey Plaza untergebracht ist. Zeugen haben einen Mann am Fenster im sechsten Stock (nach amerikanischer Zählweise) des Schulbuchlagers gesehen. Sein Vorgesetzer meldet Oswald nach dem Attentat als abgängig. 45 Minuten nach dem Attentat stoppt der Polizist J.D. Tippit einen Mann, auf den die Beschreibung passt. Oswald erschießt ihn mit einem Revolver und flieht in ein nahegelegenes Kino, das Texas Theatre. Dort wird er festgenommen. "Ich habe niemanden erschossen, ich bin nur ein Sündenbock", sagt Oswald auf der Polizeiwache in die Kameras der TV-Stationen.

Die Polizei findet derweil ein Gewehr mit Zielfernrohr (Carcano 91/38, Kaliber 6,5 mm x 52) mit Oswalds Fingerabdrücken im sechsten Stock des Schulbuchlagers.

Oswald war Soldat beim Marine-Corps, bevor er 1959 im Alter von erst 19 Jahren in die Sowjetunion auswanderte. Nach knapp drei Jahren kehrte er mit seiner Ehefrau Marina in die Vereinigten Staaten zurück. Der bekennende Marxist verteilte Castro-freundliche Flugblätter, wurde danach vom FBI verhört. Wenige Monate vor dem JFK-Attentat soll er General Edwin Walker bei einem Mordversuch leicht verletzt haben.


Zwei Tage nach Oswalds Festnahme will ihn die Polizei von der Wache ins Bezirksgefängnis verlegen. Ein Millionenpublikum sieht live im Fernsehen, wie sich ein Mann im dunklen Anzug durch die Reihen der Reporter drängt und aus nächster Nähe auf Oswald feuert. Der 24-Jährige stirbt kurz darauf im selben Krankenhaus, in dem Kennedy für tot erklärt wurde.

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Oswalds Mörder ist der Barbesitzer Jack Ruby. Er sagt aus, er habe Jackie Kennedy den Kummer ersparen wollen, für einen Prozess nach Dallas zurückkehren zu müssen. 1964 wird Ruby zum Tode verurteilt, 1967 stirbt er im Gefängnis an Krebs.

Am Tag nach Oswalds Tod wird Kennedy am Friedhof Arlington bei Washington beigesetzt. Vertreter von mehr als hundert Ländern reisen zu dem Begräbnis an, Menschenmengen säumen die Straßen der Hauptstadt, durch die sechs Pferde die Kutsche mit dem Sarg ziehen. Das Bild von Kennedys dreijährigem Sohn John junior, der vor dem Sarg seines Vaters salutiert, wird weltbekannt.

Am 29. November setzt Johnson eine Kommission zur Untersuchung des Attentats ein. Sie wird nach ihrem Vorsitzenden, dem Obersten Bundesrichter Earl Warren, benannt. Die Warren-Kommission kommt zu dem Schluss, dass Oswald drei Schüsse auf die Präsidenten-Limousine abfeuerte. Eine Kugel verfehlte das Ziel. Eine zweite traf Kennedy in den Nacken, trat am Hals wieder aus, durchbohrte den Oberkörper Connellys und wurde dann von dessen Handgelenk in den Oberschenkel gelenkt. Verschwörungstheoretiker sprechen von der "magischen Kugel".

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Das dritte Geschoss traf Kennedy in den Hinterkopf und tötete ihn. Der Kommission zufolge handelte Oswald alleine. Daran halten sich freilich bis heute Zweifel. 60 bis 80 Prozent der US-Bürger glauben Umfragen zufolge, dass hinter dem Mord an Kennedy eine Verschwörung steckt. Dass der Präsident der Weltmacht USA von einem einzelnen Verrückten getötet werden kann, scheint vielen undenkbar. Mafia, CIA, Kuba und Russland zählen zu den Hauptverdächtigen. Jack Ruby heizt die Verdächtigungen an, indem er gegenüber der Presse erklärt, die Welt werde niemals "die wahren Tatsachen" erfahren. Bei anderen Gelegenheiten und noch auf dem Sterbebett versichert er dagegen, auf seiner Seite habe es keine Verschwörung gegeben: "Da war niemand sonst".

Dreh- und Angelpunkt der Verschwörungstheorien ist der Grassy Knoll, ein Hügel an der Elm Street. Zeugen des Attentats wollen gehört haben, dass einer oder mehrere Schüsse von dort abgefeuert wurden. Keine der Film- und Fotoaufnahmen vom 22. November zeigt den Grassy Knoll deutlich genug, um einen möglichen Schützen darauf erkennen oder ausschließen zu können.

Bild: Bill und Gayle Newman gehen nach den Schüssen vor dem Grassy Knoll in Deckung

Eines der wichtigsten Dokumente für die Untersuchung des Falles wird der Öffentlichkeit erst 1975 gezeigt. Der Amateurfilmer Abraham Zapruder filmte die Sekunden während der tödlichen Schüsse von einem Standort neben dem Grassy Knoll. Das Video lag der Warren-Kommission vor. Das Original verkaufte Zapruder für 150.000 Dollar an das Life Magazine, das allerdings nur Einzelbilder daraus veröffentlichte.

Als der Sender ABC den Film dann, mehr als zehn Jahre nach dem Attentat, ausstrahlt, entfacht das die Verschwörungstheorien neu. So zeigen die Bilder, dass Kennedys Kopf nach dem tödlichen Schuss nach hinten geschleudert wird, obwohl sich das Schulbuchlager hinter dem Wagen befand. Mediziner erklären dies mit einer reflexartigen Reaktion des Nervensystems.

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Der öffentliche Aufschrei nach der Ausstrahlung des Zapruder-Videos führt zur Einsetzung einer weiteren Untersuchung durch das Repräsentantenhaus, das 1978 zu dem Schluss kommt, dass eine Verschwörung "sehr wahrscheinlich" sei. Weitere Untersuchungsberichte, unter anderem durch zwei Kongresskommissionen und zwei wissenschaftliche Gruppen, nennen Oswald allesamt als Einzeltäter.


Der Kennedy-Clan spielt auch nach dem Tod von "Jack" eine wichtige Rolle in der US-Politik. Sein Bruder Robert greift 1968 nach der Präsidentschaft, als er in der Küche eines Hotels von einem Fanatiker erschossen wird.

» Fluch des Kennedy-Clans

In den Jahrzehnten seit Kennedys Tod wurden einige unschöne Details aus seinem Leben bekannt – seine Affären, seine gesundheitlichen Probleme, die Geschäftsbeziehungen seiner Familie zu dubiosen Kreisen. Der Mythos JFK hat dadurch Risse bekommen, zerstört wurde er aber nicht. Während die inhaltliche Bilanz des Kurzzeit-Präsidenten mager blieb, begeisterte er eine ganze Generation nicht nur im eigenen Land für Politik. Am Charisma des 35. US-Präsidenten werden noch heute Politiker gemessen - und verlieren den Vergleich in aller Regel.