In Umfragen sind die Sozialdemokraten unter Kanzlerkandidat Martin Schulz mit der Union praktisch gleichgezogen. Die Abkehr von der Agenda 2010 signalisiert einen Linksruck.
Wien/Berlin. Üblicherweise ist die CSU innerhalb der Union für die harten Attacken gegen den Gegner zuständig. Doch angesichts des Höhenflugs des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz in den Umfragen gehen auf einmal auch CDU-Spitzenpolitiker aus der Deckung. Und weil Schulz nicht Partner in der großen Koalition in Berlin ist, zeigen sie keinerlei Beißhemmung, was Zeichen einer um sich greifenden Nervosität ist.
Vier Wochen nach der Kür des früheren EU-Parlamentspräsidenten und drei Wochen vor seiner Wahl zum SPD-Chef schmähte Finanzminister Wolfgang Schäuble den EU-Veteranen als Populisten in der Manier Trumps. CDU-Fraktionschef Volker Kauder demonstrierte derweil Gelassenheit: „Der Kandidat macht bereits Fehler. Die Umfragen werden sich ändern. Von einem Herrn Schulz lassen wir uns nicht verdrängen.“
Kauder konstatiert einen Linksruck der SPD, seit Schulz bei einem Auftritt an der Basis eine Reform der Agenda 2010 ankündigte. In einem Appell für soziale Gerechtigkeit und einem Seitenhieb auf den Neoliberalismus stellte er eine Verlängerung für den Bezug des Arbeitslosengelds und eine Aufhebung der befristeten Arbeitsverhältnisse in Aussicht, was bei der Stammklientel Jubel, bei den Wirtschaftsverbänden Kritik hervorrief.
Dass ihm dabei ein grober Fehler bei den Prozentzahlen für die Arbeitsverträge im Alterssegment der 25- bis 35-Jährigen unterlief, sorgte umgehend für Häme bei der Konkurrenz. Alles sei auf dem Prüfstand, erklärte aber Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Selbst Ex-Kanzler Gerhard Schröder sagte: „Die Agenda 2010 sind nicht die Zehn Gebote, und niemand sollte sich als Moses begreifen.“
Rot-Rot-Grün als Alternative
Die intern massiv umstrittenen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen in der Ära Schröder hatten die Partei gespalten. Der linkspopulistische Flügel unter Oskar Lafontaine schloss sich in einer Fusion mit der postkommunistischen PDS zusammen, die west- und ostdeutschen Linken gingen in der Linkspartei auf. Nach Jahren der Animositäten sprechen die Sozialdemokraten gemeinsam mit den Grünen über eine mögliche Koalition mit der Linken. Die Rot-rot-grüne Ampel war lang auf Stopp gestellt. Für die Bundestagswahl in sieben Monaten erscheint sie jetzt als mögliche Alternative zur zunehmend ungeliebten großen Koalition oder einer „Jamaika“-Allianz aus Union, Grünen und FDP. Sogar Sahra Wagenknecht, die dogmatische Fraktionschefin der Linken mit rechtspopulistischen Anwandlungen, signalisierte plötzlich ihre Bereitschaft.
Unvermutet hatte der EU-Technokrat Martin Schulz, der als Ex-Bürgermeister der rheinischen Provinzstadt Würselen lediglich über kommunalpolitische Erfahrung in Deutschland verfügt, die SPD aus ihrer Depression geholt. Im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale, und bei jeder Kundgebung seither begleiten frenetische Ovationen seinen Anspruch: „Ich will Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“ Mit feurigen Reden zieht der Kandidat derzeit in einer Tournee durch Deutschland – vor allem durch das Saarland, durch Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, wo im Frühjahr Landtagswahlen anstehen.
Ein veritabler Schulz-Hype hat die Partei erfasst, gespeist aus der Erleichterung über das Nichtantreten Sigmar Gabriels und der Kampfansage an die Langzeitkanzlerin Angela Merkel. Innerhalb weniger Wochen registrierte die SPD mehr als 5000 neue Mitglieder, volle Säle und einen unerwarteten Zulauf bei ihren Veranstaltungen. Funktionäre berichten von einem Ruck, der durch die Parteireihen gehe. „Ich bin neulich so oft umarmt worden wie zuletzt bei meiner Hochzeit“, erzählte ein SPD-Veteran enthusiasmiert.
„Sankt Martin“
Die Euphorie schlug sich prompt in den sozialen Medien nieder, ein „Spiegel“-Titel stilisierte den Kandidaten zum „Sankt Martin“ samt Glorienschein. In Umfragen ist die SPD unter Schulz quasi aus dem Stand mit der Union gleichgezogen – von 20 auf 30 Prozent innerhalb von vier Wochen. Der Trend zur Abwanderung frustrierter SPD-Wähler zur rechtspopulistischen AfD hat sich einstweilen gedreht. „Wir dürfen nicht überheblich werden“, warnte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. Die Partei hat zahllose Vorgänger demontiert. Die CDU lanciert längst ein Dossier über dubiose Machenschaften der „Schulz-Boys“ in Brüssel.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2017)