"Jetzt beginnt der Ernst des Lebens" ist kontraproduktiv

Bildungsexpertin Christiane Spiel
Bildungsexpertin Christiane Spiel Presse Print
  • Drucken

Bildungsexpertin Christiane Spiel zum Schulbeginn.

Wie sind sie denn, die heutigen Sechsjährigen? Ganz anders als vor 20 Jahren?

Christiane Spiel: Ein Unterschied ergibt sich durch den Rückgang der Geburtenrate. Immer ältere Eltern bekommen immer weniger Kinder. Das führt oft dazu, dass die Kinder in der Familie kleine Prinzen und Prinzessinnen sind. Das mag ein Grund für folgende Klage der Lehrer sein: Es sei zunehmend schwieriger, den Kindern verständlich zu machen, dass man nicht jedes einzelne dazu einladen kann, etwas zu tun. Sondern dass es in der Schule eben auch heißt: Die ganze Klasse soll dies oder jenes tun.

Heißt das, die Kinder sind heute egoistischer als früher?

Das trifft meiner Ansicht nach nicht zu. Sie stehen einfach mehr im Mittelpunkt, als das früher der Fall war. Eltern wollen ganz zu Recht immer das Beste für ihr Kind – und daher dreht sich in der Familie eben sehr vieles um das Kind. Aber mit der Schule kommt man in eine Gemeinschaft und muss sich hier auch entsprechend einfügen. Sozialisation ist ja auch eine zentrale Aufgabe der Schule.

Wie ist es um die Kompetenzen der Sechsjährigen bestellt?

Dadurch, dass der Kindergartenbesuch fast flächendeckend ist, sind sie besser vorbereitet. Regelverständnis, Frustrationstoleranz, Konzentrationsfähigkeit aber auch Empathie sind Voraussetzungen dafür, dass die Kinder den Kopf quasi „freihaben“, um neuen Lernstoff aufzunehmen. Wenn sie zu sehr damit beschäftigt sind, sich an ihre Umwelt zu gewöhnen, wird das sehr schwierig. Im Mittel sind sie mit sechs Jahren so weit. Aber natürlich gibt es Unterschiede in der Entwicklung und auch unterschiedliche Förderung in der Familie.

Geht die Schere zwischen den besonders gut und den schlecht geförderten Kindern auseinander?

Wir haben generell eine Gesellschaft, die in den vergangenen Jahren heterogener wurde. Das hat mit Migration und vielen anderen Dingen zu tun und stellt für die Schule eine große Herausforderung dar. Denn sie muss einerseits das Individuum fördern, das ist der Bildungsauftrag. Aber gleichzeitig normiert die Schule auch, es geht ja fast nicht anders. Daher ist es wichtig, dass Kinder gut vorbereitet und Lehrer adäquat ausgebildet werden.

Schultüte, essen gehen, Geschenke. Man hat schon fast das Gefühl, dass der erste Schultag Riten wie die Erstkommunion ablöst.

Und gerade weil es auch ein Ritus ist, sollte man ihn von Anfang an positiv besetzen und etwa sagen: „Toll, du bist jetzt in der Schule, das ist toll, was du da alles lernen kannst.“ Kontraproduktiv sind Aussagen wie „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.“ Diesen Spruch gibt es ja leider noch immer. Bevor ein Kind in die Schule kommt, traut es sich wahnsinnig viel zu. Dann erlebt es in der Schule, dass manches nicht so einfach geht und es einige Kinder gibt, die etwas besser können. Da ist es ganz wichtig, dass die Eltern unabhängig von der Schule eine Stütze sind und ihrem Kind zeigen, dass Liebe mit der Schule nichts zu tun hat.

Steckbrief

Christiane Spiel. Die Bildungspsychologin war ursprünglich Gymnasiallehrerin, wendete sich aber schon bald der psychologischen Forschung zu. Nach einigen Jahren in Berlin und Graz wurde sie im Jahr 2000 an die Universität Wien berufen, wo sie das Fach Bildungspsychologie begründete. Seit 2010 ist Spiel Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychologie.
Michaela Bruckberger

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Erster Schultag

Bilder aus aller Welt

THEMENBILD ZU FINANZAUSGLEICHSVERHANDLUNGEN: ãLEHRERÒ
Schule

Schulbeginn ist überall ein bisschen anders

Einblicke in den ersten Schultag, der in manchen Kulturen emotional, in anderen dagegen sehr nüchtern begangen wird.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.