"Über das Bildungssystem soll Gesellschaft reformiert werden"

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Bildungshistoriker Wilfried Göttlicher warnt mit Blick auf Bildungsreformen vor „übertriebenen Machbarkeitsfantasien“, hält die Aussage, dass sich in Österreichs Schulen seit Maria Theresia nichts verändert hat, für „ausgemachten Blödsinn“ und sieht Volksschullehrer als Aufsteiger.

Die Presse: Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit der Historie von Bildungsreformen. Was kann man aus dieser lernen?

Wilfried Göttlicher: Die Geschichte liefert uns Hinweise. Aber ein Regelwerk für eine gelingende Reform kann sie nicht anbieten.

Welche Hinweise liefert sie?

Das wird Sie nun enttäuschen: Das Wichtigste ist die Warnung vor übertriebenem Optimismus und Machbarkeitsfantasien.

Weil Politik sowieso keine Veränderungen anstoßen kann?

Große Veränderungen im Bildungssystem werden eher durch gesellschaftliche Entwicklungen ausgelöst als durch Gesetze. Ein Beispiel ist die immense Bildungsexpansion des 20. Jahrhunderts. Sie basierte auf Entscheidungen einzelner Individuen. Es sind die Konsumenten – also Schüler und Eltern –, die viel verändern können. Eine solche gesellschaftliche Entwicklung kann die Politik lediglich begünstigen.

Das heißt, Sie sind auch nicht optimistisch, was die Ergebnisse der vergangene Woche präsentierten Reform betrifft?

Ich habe nicht die Erwartung, dass damit eine große, nachhaltige Wende markiert wurde.

Ist die ideologisch festgefahrene Bildungsdebatte ein österreichisches Spezifikum?

Normalerweise gibt es in Gesellschaften immer wieder „windows of opportunity“, in denen die Möglichkeit zu einer Veränderung im breiten gesellschaftlichen Konsens möglich ist. Dass so wie in Österreich so lange kein solches Fenster aufgeht und Parteien bei einem Thema wie der Gesamtschule über einen so langen Zeitraum – im Prinzip schon seit den ersten Jahren der Ersten Republik – ihre Positionen einzementiert haben, ist nicht unbedingt typisch.

Lässt sich die ideologische Verhaftung der Parteien in der Gesamtschulfrage nachvollziehen?

Die Frage einheitliches oder differenziertes Schulsystem hat symbolischen Wert für die Partei und ihre Gefolgsleute. Für die einen steht die Gesamtschule für eine soziale Gesellschaft und für die anderen für Gleichmacherei. Es wird nicht mehr reflektiert, inwieweit das auch der Wirklichkeit entspricht. Unsere ideale Gesellschaft wird quasi am Schulsystem verhandelt. Über das Bildungssystem soll die Gesellschaft reformiert werden.

Dem österreichischen Schulsystem wird vorgeworfen, dass es noch aus der Zeit von Maria Theresia stammt. Trifft das zu?

Wenn man damit sagen möchte, dass sich das Schulsystem seit Maria Theresia nicht verändert hätte, dann ist das ausgemachter Blödsinn. Wenn man damit meint, dass die Grundidee einer Schule als staatliche Aufgabe für alle Kinder eines Staates auf die maria-theresianischen Reformen zurückgegangen ist, dann ist das richtig.

Andere wiederum orten eine Art Reformitis im heimischen Schulsystem. Können Sie diesem Vorwurf etwas abgewinnen?

Ja. Wenn man sich Bildungsgeschichte ansieht, ist das eine ständige Geschichte von Reformen und Reformversuchen. Die Veränderungen, die sie mit sich bringen, kann man meist erst nach 30 bis 100 Jahren sehen. Zeiträume, die vollkommen jenseits der Tagespolitik sind.

Das Image des Lehrers hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte entscheidend gewandelt. Weshalb eigentlich?

Hier muss man unterscheiden. Die Lehrer an Volksschulen haben in den letzten eineinhalb Jahrhunderten immens an Ansehen gewonnen. 1850 war ihr Ansehen grottenschlecht, knapp über dem Tagelöhner, aber noch unter einem mittelgroßen Bauern. Beim Mittelschullehrer ist das anders. Der hat in den vergangenen 50 Jahren seinen exklusiven sozialen Status verloren. Einfach auch deshalb, weil die Anzahl akademischer Berufe insgesamt größer geworden ist und möglicherweise auch, weil die Bedeutung des Gymnasiums für die Verteilung von Lebenschancen etwas abgenommen hat.

Glauben Sie, dass die Digitalisierung das Bildungssystem schon bald auf den Kopf stellen wird?

Es haben in der Vergangenheit viele mediale Neuerungen Eingang in die Schule gefunden, ohne sie im Kern wirklich verändert zu haben. Ich wüsste nicht, warum es bei der Digitalisierung anders sein soll.

ZUR PERSON

Wilfried Göttlicher forscht über Schul- und Bildungsgeschichte. Er war bis zuletzt Assistent am Institut für Bildungswissenschaft der Uni Wien und stellt derzeit seine Dissertation fertig. Im September 2015 war er Gastgeber einer internationalen Konferenz zum Thema „Bildungsreform als Thema der Bildungsgeschichte“. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2015)

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