Blick in die Seele von Weimar

Im deutschen Kino vor 1933 ging es oft um Macht, Disziplin und Unterwerfung. Manchmal setzten Filme aber auch antiautoritäre Impulse, wie im Internatsfilm „Mädchen in Uniform“ (1931).
Im deutschen Kino vor 1933 ging es oft um Macht, Disziplin und Unterwerfung. Manchmal setzten Filme aber auch antiautoritäre Impulse, wie im Internatsfilm „Mädchen in Uniform“ (1931).(c) Filmarchiv
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Eine Retrospektive des Filmarchivs Austria zeigt, was Siegfried Kracauer als Anschauungsmaterial zu seiner Analyse „Von Caligari zu Hitler“ diente.

Der Filmkritiker von Rang“, schrieb Siegfried Kracauer 1932, „ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar.“ Kracauer selbst, schon damals ein publizistischer Tausendsassa – neben Film- und Buchrezensionen für die „FAZ“ hatte er kulturtheoretische Essays verfasst, Reiseberichte und Flaneur-Beobachtungen, Romane und eine soziologische Studie –, versuchte Zeit seines Lebens, diesem Anspruch zu genügen. Die vielleicht größte Frucht ist „Von Caligari zu Hitler“, eine im amerikanischen Exil niedergelegte und 1947 auf Englisch publizierte Tiefenanalyse des Weimarer Kinos.

Kracauers Ansatz war so simpel wie innovativ: Statt Film als „bloße Unterhaltung“ abzutun, erklärte er ihn zum Spiegel der Gesellschaft. Gerade der industrielle Charakter seiner Produktion und seine profitorientierte Anbiederung an den Massengeschmack würden ihn zu einer Kunstform mit direktem Draht zu den heimlichen Bedürfnissen seines Publikums machen – und dem Wissenschaftler erlauben, via Leinwand in die Seele einer Nation zu blicken. Ebendas hatte Kracauer mit seiner weitläufigen Untersuchung des deutschen Filmschaffens vor der Machtergreifung Hitlers im Sinn; was er vorfand, waren „zwischen Tyrannei und Chaos“ oszillierende Gefühlswelten, in ihrer Todessehnsucht und Autoritätsgier prädisponiert für nazistische Vereinnahmung.

Markstein der Ideologiekritik

„Von Caligari zu Hitler“ gilt nach wie vor als Markstein ideologiekritischer Filmliteratur, obwohl sich einige an der Methodik des Autors stoßen: Bisweilen setzt Kracauer auf Pauschalurteile und unterschlägt künstlerische Qualitäten einzelner Werke, um seine Argumentationslinie auf Kurs zu halten. Dass er etwas Wesentliches getroffen hat, bezeugt aber schon die Rezeption seiner Arbeit in Deutschland: Die erste Übersetzung aus dem Jahr 1958 war eine dubiose „Entschärfung“ des Originaltextes durch Kürzungen und Verfremdungen, inzwischen hat sich dieser dank der überarbeiteten Neuauflage durch Suhrkamp zum Standardwerk gemausert. Eine Schau des Filmarchivs Austria präsentiert bis 3. Mai ausgewählte Filme, an denen Kracauer seine Thesen entwickelte, und bietet so Gelegenheit, sie zu prüfen.

Sie haben kaum etwas von ihrer Überzeugungskraft verloren. Wer ins Kinouniversum der Weimarer Republik eintaucht, dem steigt ein unheimlicher Brodem aus Ängsten und Begierden in die Nase, der mehr als nur den Hauch einer Vorahnung kommenden Unheils in sich zu tragen scheint: Machthungrige Hypnotiseure wie Caligari oder Mabuse schlagen Unschuldige in ihren Bann, triebhafte Halbwesen („Homunculus“) und verzweifelte Kriegsheimkehrer („Nerven“) werden wahnsinnig, Doppelgänger („Der Student von Prag“) künden von einer nationalen Identitätskrise (spannend sind die Kontinuitäten dieser Motive in der Filmmuseums-Retro „BRD Noir“).

Die Kehrseite des Neurosengebräus findet sich in eskapistischen Operettenfilmen („Der Kongress tanzt“, wo Wien als Symbol seliger Selbstvergessenheit glänzt) und monumentalem Naturkitsch („Der heilige Berg“ mit Leni Riefenstahl). Expressionistische Märchen wie Paul Wegeners „Golem“ lancieren, bewusst oder unbewusst, antisemitische Stereotype. Zaghafte Realismusregungen sozial engagierter Milieuporträts („Die Verrufenen“) oder antiautoritäre Arbeiten wie „Mädchen in Uniform“ (eine Kritik an den Erziehungsmethoden in einem Internat für Offizierstöchter) erinnern an ein Diktum, das Kracauers Freund Walter Benjamin zugeschrieben wird: Hinter jedem Faschismus steht eine gescheiterte Revolution. Trotz all dem aber zählt die Weimar-Ära zu den stilistisch vielfältigsten und abenteuerlichsten Perioden der deutschen Filmgeschichte.

Ein Gedanke drängt sich auf: Könnte man Kracauers Zugang auch auf die Filmlandschaft der Gegenwart anwenden? Schließlich lassen sich, obwohl der Vergleich ausgesprochen heikel ist, gewisse Parallelen zwischen den Polit-Großwetterlagen von heute und damals nicht von der Hand weisen. Kyle Kallgren, ein YouTube-Edutainer und (Pop-)Kulturexeget, hat es vergangenen November in einem Videoessay probiert und mit Clips aus Blockbustern und beliebten TV-Serien ein gleichermaßen bestechendes wie beunruhigendes Zeitgeistpsychogramm skizziert.

Heute müsste man ins Internet

Der Haken an der Sache: Heute wäre es absurd, von einheitlichem (Massen-)Medienkonsum zu reden. Das Kino hat seine diskursbestimmende Funktion längst verloren, und die Abhängigkeit der meisten Big-Budget-Produktionen von einer globalen Zuschauerschaft macht sie zu ideologischen Kippfiguren. Wollte man dieser Tage in die Fußstapfen Kracauers treten und Erkenntnisse über das Gesellschaftsgemüt aus dem kulturell Peripheren gewinnen, müsste man einen Querschnitt durch das Internet ziehen – doch um so ein Projekt zu beherbergen, wäre eine ganze Bibliothek vonnöten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2017)

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