Das Walross weint, die Katze grinst, die Königin lässt rennen

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„Feed your head!“, ruft die Haselmaus zwar nur im Song „White Rabbit“. Doch „Alice im Wunderland“ hat etliche Popdichter beeinflusst, von John Lennon bis Bob Dylan. Und auch Physiker und Biologen führen Lewis Carrolls Fabelwesen in ihrem Fachvokabular.

„Was hat denn die Haselmaus gesagt?“, fragt einer der Geschworenen, die über das Schicksal des Herzbuben entscheiden. „Ich kann mich nicht erinnern“, antwortet der Hutmacher. „Du musst dich erinnern“, sagt der König, „oder ich lasse dich hinrichten.“

Ja, was sagt sie denn, die Haselmaus in „Alice im Wunderland“? Auch wenn sie meist schläft, einiges. Aber nicht „Feed your head“. Das sagt sie nur in „White Rabbit“ von Grace Slick, einem gewaltig treibenden Song, der in der Version von Slicks zweiter Band, Jefferson Airplane (1968), zu einem Schlüsselstück des Psychedelic Pop wurde. Derzeit kann man ihn auch im Kino hören: Im Schachfilm „Bauernopfer“ untermalt er, wie Bobby Fischer im Spiel gegen seinen sowjetischen Konkurrenten Boris Spassky verrückt zu werden droht.

In „White Rabbit“ geht es freilich weniger um Schach als um Drogen. „One pill makes you larger, and one pill makes you small, and the ones that mother gives you, don't do anything at all“, so beginnt der Text, später kommen „a kind of mushroom“ (wohl ein Pilz, der das Halluzinogen Psilocybin enthält) und ein „hookah-smoking caterpillar“ (eine Raupe, die Wasserpfeife raucht) vor: Es liegt wirklich nahe, die wundersamen Erlebnisse der Alice als Rauschzustände zu interpretieren. Sie werden ja auch durch Einnahme von Kuchen, Pilzen und anderen Substanzen katalysiert.

Ob Lewis Carroll selbst Drogen nahm, ist unbekannt. Aber er litt unter Migräne, deren Anfälle bisweilen mit Visionen („Aura“) beginnen. Manche Literaturwissenschaftler glauben, dass ihn solche Erlebnisse inspiriert haben. Mediziner sprechen vom „Alice-im-Wunderland-Syndrom“, das sich in veränderter Wahrnehmung, auch der Größe des eigenen Körpers, äußert.

Für Popdichter der von Rauschmitteln schwärmenden Gegenkultur der Sixties war „Alice im Wunderland“ natürlich ein gefundenes Fressen. So erzählte John Lennon, er sei davon inspiriert gewesen, als er „Lucy in the Sky with Diamonds“ und „I Am the Walrus“ – in dem das Walross wie im Gedicht „Das Walross und der Zimmermann“ (in „Alice hinter den Spiegeln“, der Fortsetzung von „Alice“) ständig weinen muss – schrieb.

Aber es wäre auch ganz ohne Drogen-Assoziationen ein Wunder, wenn Carrolls Romane nicht häufig im Pop vorkämen, sind sie doch – mehr noch als die Texte der Beatles – für Engländer und Amerikaner ein beständiger Quell für Zitate, Metaphern, Motive.

„We're all mad here“, sagt das Hotel

Nur ein paar Beispiel für Alice in der U-Musik: Das Video zu „Don't Come Around Here No More“ von Tom Petty & The Heartbreakers zeigt die Teeparty des verrückten Hutmachers; ein Song von Bob Dylan heißt nach den dicken Brüdern „Tweedle Dee & Tweedle Dum“; Jazzpianist Chick Corea hat ein ganzes Album – „The Mad Hatter“ (1978) – mit Titeln aus „Alice“-Motiven eingespielt; auch Tom Waits nannte ein Album „Alice“, ein Lied darauf heißt „We're All Mad Here“, nach einem der berühmtesten Zitate aus dem Buch, das in Wien seit einigen Jahren auch die Front eines Hotels ziert, das angibt, 25 Stunden am Tag offen zu haben . . .

Carroll legte es der Cheshire Cat in den Mund, die meist als Edamer-Katze übersetzt wird, aber nach der Grafschaft Cheshire benannt wurde, weil dort die Grafen keine Steuern an die Krone zahlen mussten, was ihren Katzen ein Grinsen entlockte. Ein Satz dieser weisen Katze – „If you don't know where you're going, any road will take you there“ – inspirierte George Harrison zu seinem Song „Any Road“. Aber vor allem ist ihr körperloses Grinsen ins kulturelle Erbe eingegangen.

Dieses Grinsen, das bleibt, nachdem die Katze verschwunden ist, fasziniert auch die für das Wunderliche stets offenen Quantenphysiker. Sie sprechen von einer „Quantum Cheshire Cat“, wenn es gelingt, Teilchen von ihren Eigenschaften zu trennen, etwa Neutronen von ihrem Spin. (Das berichteten übrigens Physiker an der TU Wien 2014.) Theoretische Physiker verstehen dagegen unter „Cheshire Cat Principle“, wenn aus einer Theorie der Elementarteilchen der Radius verschwindet. Und Biologen nennen es „Cheshire Cat Strategy“, wenn Einzeller den Viren entkommen, indem sie sich durch Verwandlung in eine andere Form für diese unauffindbar machen.

Für die Evolutionstheorie ist eine Figur aus „Alice hinter den Spiegeln“ zentral: die rote Königin. „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am selben Fleck bleiben willst“, erklärt sie Alice. Das, finden die Biologen, beschreibe den Wettlauf in der Evolution perfekt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2016)

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