„Dieser Volkszähler“: Dieses seltsame Buch

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Der britische Autor China Miéville nimmt den Leser in „Dieser Volkszähler“ auf eine ganz ungewöhnliche Reise in eine postapokalyptische Welt mit.

Jeder überzeugte Leser kennt es: das besondere Verhältnis, das man zu einem Buch aufbaut. In manchen verliert man sich, um Stunden, Tage, Wochen später wieder daraus aufzutauchen, fasziniert, beglückt, verstört, auf jeden Fall bereichert. In andere findet man nie wirklich hinein, sie bleiben Fremde. Dritte (oft kurze) wieder liest man viel zu schnell, hat das Gefühl, ihnen nicht gerecht geworden zu sein und sie sich nochmal im Kopf zergehen lassen zu müssen.

Nicht so bei China Miévilles jüngstem Roman „Dieser Volkszähler“. Nach 70 (von nur 170) Seiten machte diese Leserin halt, mit dem Gefühl, ganz und gar nichts verstanden zu haben, unter falschen Voraussetzungen Buchstaben aneinandergereiht zu haben. Noch einmal von vorn also, diesmal mit der Bereitschaft, sich auf ein Leseerlebnis der ganz anderen Art einzulassen. Eines, bei dem es nicht darum geht, eine Handlung zu verstehen, sondern sich in eine Stimmung versetzen zu lassen. In dieser bereist man die Welt, wie sie einmal sein könnte – und von der man aber hofft, dass sie so nicht sein wird.

Weird Fiction. China Miéville, geboren 1972 im britischen Norwich, gilt als einer der wichtigsten Autoren im Genre der zeitgenössischen Fantastik. Sein Stil setzt sich zusammen aus einem Teil altmodischen Märchens, einem Teil hipper Fantasy, einem Teil Kafka und einem Teil Mad Max. Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Autor sagt von sich selbst, er schreibe „weird fiction“.

Tatsächlich trifft jede der zahlreich angebotenen Übersetzungen für „weird“ auf „Dieser Volkszähler“ zu: sonderbar, gruselig, unheimlich, bizarr, übernatürlich. Miéville verstärkt diese Stimmungslagen noch, indem er den Leser allein lässt. Desorientiert taumelt man zwischen scheinbar beliebigen Handlungssträngen und Figuren dahin. Wechselt dauernd die Perspektiven, mitunter auch die Zeit. Wer oder was ist wichtig und warum? Wessen Handlung liegt welches Motiv zugrunde? Solche Fragen scheinen hier nicht zu gelten. Die Dinge sind so, gleichzeitig sind sie anders.

Über jeden Zweifel erhaben ist allerdings das Zentrum der Geschichte: ein siebenjähriger, namenloser Bub, der mit seinen Eltern auf einem unwirtlichen Berg haust. Eines Tages rennt er schreiend ins Dorf und behauptet, seine Mutter habe seinen Vater getötet. Nein, falsch, es sei umgekehrt gewesen, sein Vater habe seine Mutter getötet. Tatsächlich ist die Mutter verschwunden und der Vater, ein Hersteller magischer Schlüssel, gilt als Hauptverdächtiger – nicht zuletzt wegen der Zeugenaussage des Buben, der ihn immer wieder dabei beobachtet hat, wie er kleinere und größere Tiere völlig leidenschaftslos mit einem Stein erschlug und sie anschließend in ein tiefes Loch im Berg warf, wo auch der Müll der Familie verschwindet.

Nachdem dieses Loch allerdings sämtliche Beweise verschluckt hat und alle Blutspuren beseitigt worden sind, kann dem Vater nichts bewiesen werden. Der schockstarre Bub muss in seine Obhut zurückkehren. Dreimal versucht er zu fliehen, doch sein Widerstand schrumpft zusehends. Auch seinen Verbündeten, einer Bande elternloser Kinder, die in verfallenen Häusern leben und sich von Fledermäusen ernähren, gehen zunehmend die Ideen aus, wie dem Buben zu helfen wäre. Bis dieser Volkszähler (und nicht irgendein anderer) auftaucht, eine Art männliche gute Fee (obwohl, so gut auch wieder nicht).

Postapokalyptische Welt. Was es mit dem Zustand der Welt, in der die Geschichte spielt, auf sich hat, bleibt ebenfalls offen. China Miéville überlässt es dem Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Sie wirkt postapokalyptisch, hart, karg. Es gibt nicht viel zu essen, verfallene Häuser und viele elternlose Kinder, um die sich niemand kümmert, die aber immerhin geduldet werden. Es gibt Schmutz und Rauch, viel Müll und Plastik. Liebe und Mitgefühl tun sich schwer in dieser „asketischen Anderwelt“. Dennoch, der eine oder andere Trieb schafft es. Das zumindest ist auch in diesem Buch ein unumstößliches Faktum.

Neu Erschienen

China Miéville „Dieser Volkszähler“
übersetzt von Peter Torberg
Liebeskind Verlag
176 Seiten
18,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2017)

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