Ungarische Umerziehung

 „Eiswind“ im Akademietheater: Explosionen im Ost-West-Versuchslabor. János (Zsolt Nagy), Felix (Martin Vischer), Judith (Alexandra Henkel), Frank (Falk Rockstroh), Ilona (Lilla Sárosdi), v. l. n. r.
„Eiswind“ im Akademietheater: Explosionen im Ost-West-Versuchslabor. János (Zsolt Nagy), Felix (Martin Vischer), Judith (Alexandra Henkel), Frank (Falk Rockstroh), Ilona (Lilla Sárosdi), v. l. n. r.Reinhard Maximilian Werner
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In „Eiswind“, einer Uraufführung von Árpád Schilling und Éva Zabezsinszkij, werden Ost-und West-Menschen aufeinandergehetzt: Gut konstruiert.

Der gestresste Zivilisationsflüchtling birgt sich gern in der Einsamkeit, zum Beispiel in Berg- oder Waldhütten. Doch was macht er dort? Trinken. Frank, Geisteswissenschaftler aus der ehemaligen DDR, inzwischen mit der Chefredakteurin eines Magazins verheiratet, die aus der Nestlé-Dynastie stammt, soll die Grabrede für seinen Freund Paul halten. Dieser war Stasi-Agent, später im Westen erfolgreich, sein Unternehmen hat er aber verkauft, um Brunnen in Somalia zu bohren. Jetzt ist er tot. Bevor Frank sich entscheiden kann, was er tun soll, taucht statt seiner vertrauten Hüttenbetreuung, Frau Müller, die junge Ilona auf, die aus Ungarn herübergekommen ist. Ilona wird von ihrem Mann, János, verfolgt. Und Frank von Ehefrau Judith und Sohn Felix. Als ein Sturm aufzieht, prallen Welten aufeinander, unterdrückte Konflikte entladen sich.

Von der „transzendentalen Obdachlosigkeit der bürgerlichen Welt“ spricht der marxistische ungarische Philosoph Georg Lukács (1885–1971) in seinem Essay „Die Theorie des Romans“. Obdachlos sind freilich alle in „Eiswind“ von Árpád Schilling und Éva Zabezsinszkij, seit Mittwochabend im Akademietheater zu sehen, eine Uraufführung, die Schilling auch selbst inszeniert hat. Altachtundsechziger Frank, der Lukács ebenso kennt wie „János Vitéz“ vom 1848er-Revolutionär Sándor Petfi, ein romantisches Epos, das die ungarische Heimat (gegen die Habsburger-Herrschaft) gefeiert hat, steckt fest, nicht nur im Wald, auch in seinem Leben. Er verachtet den Kapitalismus, von dem er lebt, ergeht sich in Attacken auf die dekadente West-Gesellschaft, hat aber auch die Ideale seiner Jugend verloren. Falk Rockstroh zeichnet diesen disparaten Typen exakt. Alexandra Henkel überzeugt nicht weniger – als Franks Ehefrau, Judith, eine schmallippige Emanze mit strengem Bob und stechendem Blick, die ihrem Sohn Felix, einem kiffenden Schauspieler (Martin Vischer), auf seine Liebeserklärung eine Ohrfeige verpasst, weil sie befürchtet, er sei verrückt geworden.

Ein Brecht'sches Lehrstück, etwas grob

In der Tat gerät Felix komplett unter den Einfluss von János (Zsolt Nagy), einer Art prototypischem Ungar von heute (als solcher auch etwas klischeehaft): Der treue Jünger des Orbán-Regimes, das Schilling ablehnt und im „Presse“-Interview vor wenigen Tagen heftig kritisiert hat, ist Polizist, das behauptet er jedenfalls. Er nimmt bei den dekadenten Westlern eine brutale Umerziehung vor, indem er ihnen weismacht, dass die Wölfe sich auf die Hütte zubewegen. Sind es überhaupt Wölfe – oder Flüchtlinge? Als Lockvogel wird fürs Erste Ilona (Lilla Sárosdi) ausersehen. Am beklemmendsten wirkt der Auftritt von Levente (András Lukács), dem 15-jährigen Sohn von János und Ilona via Skype: Der Bursch berichtet mit kaltem Blick vom Lehrstoff am Gymnasium für nationale Verteidigung. Zwei Stunden hielt die zweisprachige Aufführung mit jähen Wendungen das Publikum in Atem, das begeistert applaudierte.

Doch gibt es auch Irritationen, die über den transparenten Designer-Pavillon von Juli Balázs, die für Bühne und Kostüme verantwortlich gezeichnet hat, hinausgehen. Die Art Pavillons ist von Inszenierungen Frank Castorfs wohl bekannt. Brechts Dramaturgie, an der sich Schilling orientiert – das von ihm gegründete Zentrum für zeitgenössische Kunst heißt Krétakör (Kreidekreis, nach Brechts gleichnamigem Stück) –, beruht auf klaren und eindeutigen Botschaften. In diesem Fall sind das hie die herzlosen Westler und da die hitzigen Ungarn. „Eiswind“ erinnert aber auch an „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch. Schilling, der aus einem Land kommt, das gegenwärtig immer aussichtsloser gegen den Faschismus kämpft, führt, verständlich, nicht die feine Klinge eines Botho Strauß. Seine Parabel wirkt gut konstruiert, aber auch etwas grob und schematisch. Und ein reicher Jude, der mit der Schickimicki-Gesellschaft auf die Jagd geht, ist, auch wenn das keinesfalls so gemeint ist, trotzdem ein antisemitisches Stereotyp.

(Print-Ausgabe, 27.05.2016)

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